"Strukturelle Probleme lösen"

Im internationalen Vergleich verliert die deutsche Wirtschaft zunehmend an Wettbewerbsfähigkeit. Gravierende Folgen für den Standort Deutschland drohen. IHK-Präsident Manfred Schnabel:
Wir brauchen dringend eine “Wirtschaftspolitische Agenda 2030”. In den vergangenen Jahren hat Deutschland schleichend und seit dem russischen Überfall auf die Ukraine beschleunigt einen deutlichen Verlust an Wettbewerbsfähigkeit erfahren müssen. Wir müssen an die strukturellen Probleme ran. Das zeigen auch internationale Standortrankings wie das des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) in Mannheim oder des “International Institute for Management Development” (IMD) in Lausanne. In beiden Rankings ist Deutschland seit 2014 kontinuierlich abgestiegen und in der vergangenen Periode regelrecht abgestürzt. Täglich werden in den Unternehmen Investitionsentscheidungen getroffen, die unter den aktuellen Bedingungen gegen den Standort ausfallen. Die großen Unternehmen verlagern, die mittleren verkaufen und die kleinen schließen. Ein prominentes Beispiel für diesen Prozess ist die Verlagerung einer Ammoniaklinie der BASF von Ludwigshafen in die USA. Das ist extrem bedenklich, da solche energieintensiven Prozesse häufig am Anfang der industriellen Wertschöpfungskette stehen. Wandern sie ab, droht perspektivisch auch der Verlust von Wertschöpfung bei deren Kunden. Summieren sich solch Entscheidungen, überschreitet der Standort einen Kipppunkt mit irreversiblen Schäden.
Beispiele für verschlechterte Standortbedingungen sind der im internationalen Steuervergleich letzte Platz bei Unternehmenssteuern an, die hohen Arbeitskosten, steigende Sozialversicherungsbeiträge und sehr hohe Energiepreise. Auch der Saldo der ausländischen Direktinvestitionen (Zuflüsse minus Abflüsse) zeigt die mangelnde Attraktivität des Standorts. Dieser ist seit 2013, mit einer Ausnahme 2020, durchgängig negativ.
Die Politik muss daher mit der geforderten “Wirtschaftspolitischen Agenda 2030” an erster Stelle die Komplexität von Wirtschaft verstehen und berücksichtigen. Wirtschaft funktioniert wie ein Ökosystem. Alles hängt mit allem zusammen und ist so gesehen systemrelevant. Das Problem sind daher politische Eingriffe, die diese Zusammenhänge und Wechselwirkungen nicht berücksichtigen und so massiv und dauerhaft Schaden anrichten.
Die Regulatorik muss zum einen dieser Komplexität gerecht werden, zum anderen soll sie sich auf die Rahmenbedingungen unternehmerischen Handelns fokussieren. Eingriffe in die Entscheidungen der Unternehmen indes sind von der Politik zu vermeiden. In der Klimaschutzpolitik hat die EU mit einer klaren zeitlichen Zielvorgabe und dem CO2-Zertifikatehandel in diesem Sinne den richtigen Weg beschritten, da der Ausstoß von Kohlendioxid so einen steigenden, aber planbaren Preis erhalten hat. Im Gegensatz dazu stehen die vielen unterschiedlichen Klimaschutzziele anderer politischer Ebenen einschließlich einzelner Kommunen sowie Maßnahmen, die der EU-Regulatorik zuwiderlaufen bzw. die keine oder kaum Effekte fürs Klima bringen.
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Insgesamt muss gelten, dass die Regulatorik sachgerecht, schlank, konsistent sowie zwischen den föderalen Ebenen in Deutschland und international abgestimmt ist. Schlechtes Beispiel ist das deutsche Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz, das schon bald durch das EU-Lieferkettengesetz obsolet wird. Davon betroffene Unternehmen und ihre Zulieferer und Dienstleister müssen dann neu anfangen, die Einhaltung entsprechend Gesetzestext zu dokumentieren. Eine völlig überflüssige Doppelarbeit. Hinzu kommt neben dem Aspekt der mangelhaften Regulatorik auch der Aspekt der Quantität. Regulatorik ist mittlerweile überbordend. Unternehmen sehen sich mit vielen neuen gesetzlichen Anforderungen und Dokumentationspflichten einem Generealverdacht ausgesetzt, der unangemessen ist und unglaublich große Ressourcen in den Unternehmen frisst.
Dabei ist es nicht so, dass der Staat nichts zu tun hat, im Gegenteil. In der Infrastruktur, in der Bildung und am Arbeitsmarkt liegt sehr vieles im Argen, das die Politik aber nicht anpackt. Zu nennen sind hier die im EU-Vergleich unterdurchschnittlichen Ausgaben in Infrastruktur und Bildung. Gleichzeitig belastet der Staat Arbeitseinkommen im internationalen Vergleich mit sehr hohen Steuern und Abgaben. Hier stimmt das Preis-Leistungsverhältnis nicht mehr. Ein besonderes Ärgernis ist der Anstieg bei den Sozialversicherungsabgaben. Es war jahrelang Konsens, die 40-Prozent-Marke nicht zur reißen. Diesen Konsens brauchen wir wieder. Um dem Fachkräftemangel zu begegnen, muss der Politik zudem mehr einfallen als Zuwanderung. Deutschland hat im OECD-Vergleich die geringste durchschnittliche Jahresarbeitszeit. Mehr Minijobber müssen in Teilzeit, mehr Teilzeitkräfte vollzeitnah arbeiten. Dazu muss der Staat die Vereinbarkeit Familie und Beruf verbessern und das Steuer- und Abgabensystem reformieren. Weiteres Potenzial gibt es bei Frauen und bei Personen mit Migrationshintergrund. In beiden Gruppen ist die Erwerbsbeteiligung nur unterdurchschnittlich. Wir brauchen zudem eine Flexibilisierung der Lebensarbeitszeit. Hierzu bedarf es Änderungen im Arbeits- und Sozialrecht.
Deutschland war laut Economist Ende der 1990er Jahre der kranke Mann Europas. Durch mutige Reformen und die Tatkraft der Unternehmen hat dieses Land Wettbewerbsfähigkeit wiedergewonnen und einen langen Aufschwung erlebt, der uns resilient für die Krisen in den 2000er Jahren gemacht hat. Solchen einen Aufbruch brauchen wir jetzt wieder. Dringend.
Mannheim, 12. Juli 2023