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Inklusion – Wertschätzung im Job erfahren

Warum nicht mehr Unternehmen Menschen mit Behinderungen einstellen? Auf Antwortsuche beim Inklusionsbetrieb Texdat-Service in Weinheim.  
Lydia Nennstiel hat Bewerbung um Bewerbung geschrieben. Wie viele, weiß sie nicht mehr. Sie hat sie irgendwann nicht mehr gezählt. Zurück kamen immer nur Absagen. “Das war sehr demotivierend”, sagt die heute 30-Jährige. Sie habe sich teilweise nicht mehr getraut, überhaupt noch Bewerbungen zu schreiben. Lydia Nennstiel ist seit der Geburt behindert. “Sauerstoffmangel”, erklärt sie. Sie sitzt im Rollstuhl und leidet an Spastiken. Doch wer sie am Telefon hört, merkt davon nichts. Und das ist seit zwei Jahren bei der Texdat-Service gGmbH in Weinheim ihre Hauptaufgabe: zu telefonieren, Kundenbetreuung und Kundenakquise. Die gelernte Bürokauffrau ist Assistenz für Marketing und Vertrieb. “Ich bin froh, dass ich hier gelandet bin”, sagt Lydia Nennstiel. 2021 hat sie ein Praktikum in dem Inklusionsbetrieb gemacht, danach konnte sie bleiben. Die junge Frau sagt, sie hadere nicht mit ihrem Schicksal, das habe sie nie getan. Was Lydia Nennstiel sich aber wünschen würde, wären mehr Arbeitsplätze für Menschen mit Behinderungen. Denn Arbeit habe viel mit Wertschätzung zu tun. “Die erfahre ich in meinem Job.”  
Die Texdat-Service gGmbH war nach eigenen Angaben einer der ersten Inklusionsbetriebe in Baden-Württemberg. Gegründet wurde er 1984 von den Vätern von Matthias Brehmer und Torsten Hochadel zusammen mit dem Spastikerverein Heidelberg. Die beiden inzwischen 60-Jährigen sind schwerstbehindert, auch bei ihnen Folge einer Sauerstoffunterversorgung während der Geburt. Die Eltern kannten sich aus dem Spastikerverein Heidelberg. “Hauptbeweggrund für die Unternehmensgründung war, aus Sozialhilfeempfängern Steuerzahler zu machen”, sagt Joachim Brehmer. Er ist 58 Jahre alt und der jüngere Bruder von Matthias Brehmer. Wäre sein Bruder in eine Behindertenwerkstatt gekommen, hätte der Staat voll für ihn aufkommen müssen. So aber zahle er Steuern und führe Beiträge zur Sozialversicherung ab. “Das ist mehr als das, was wir als Inklusionsunternehmen an Zuschüssen erhalten.” Die beiden Männer fertigen vor allem Visitenkarten für Betriebe an. “So bleibt man fit im Kopf”, sagt Torsten Hochadel und tippt sich mit dem Finger an die Stirn. Matthias Brehmer fände es schön, wenn die Gesellschaft gegenüber Behinderten weniger gehemmt wäre. “Die Menschen sehen uns und denken, ‘Die kommen nicht mit’.” 
Doch sie kommen mit. Vielleicht nur etwas langsamer. Trotzdem – oder gerade deshalb – sind die Vorbehalte von Unternehmen groß, weiß Joachim Brehmer. “Dabei würde es sich für viele lohnen, Behinderte einzustellen.” Denn in den ersten Jahren zahlt das Arbeitsamt und der Kommunalverband für Jugend und Soziales vergleichsweise hohe Lohnzuschüsse. Oft genug hapert es jedoch an den Rahmenbedingungen, dass etwa keine Barrierefreiheit gegeben ist. Behinderte genießen darüber hinaus einen besonderen Kündigungsschutz. Auch das schrecke Arbeitgeber ab.  
Inklusionsbetriebe wie die Texdat-Service stehen dann noch vor anderen Problemen. Sie müssen am Markt mit anderen Betrieben konkurrieren, die Ausgangsbedingungen seien jedoch nicht dieselben, kritisiert Brehmer. So muss jedes Unternehmen, das mehr als 20 Mitarbeiter beschäftigt, Menschen mit Behinderungen einstellen. Die Beschäftigungspflicht liegt bei fünf Prozent der Arbeitsplätze. Tut es das nicht, muss es eine Ausgleichsabgabe zahlen. Wenn ein Unternehmen aber Leistungen über eine Behindertenwerkstatt bezieht, kann es diese mit der Ausgleichszahlung verrechnen. Inklusionsbetriebe sind laut Brehmer von dieser Regelung ausgenommen. Darüber hinaus hätten Werkstätten mit Behinderungen schon deshalb einen Kostenvorteil, weil die Mitarbeiter nur ein Taschengeld bekommen – und nicht wie in einem Inklusionsbetrieb nach Tarif bezahlt werden. “Das ist Wettbewerbsverzerrung”, so Brehmer.  
Um als Inklusionsbetrieb zu gelten, müssen mindestens 30 Prozent der Beschäftigten zur Zielgruppe “Menschen mit einer Behinderung und einer besonderen Betroffenheit” zählen. Bei der Texdat sind es vier von zurzeit fünf Mitarbeitern, eine Verstärkung im Büro und der Produktion wird gesucht. Neben Brehmer hilft noch seine 79-jährige Mutter aus. “Druckereien sind seit über zehn Jahren keine einfache Branche mehr, in den vergangenen Jahren mussten viele schließen”, sagt Brehmer. Vor zwei Jahren hat er eine neue Digitalmaschine für den Produktionsdruck angeschafft, die bedient Matthias Georgi. Der 44-jährige ist taub, hört aber dank eines Cochlea-Implantats. Er ist seit 1999 bei der Texdat. Er sagt, dass die Leistungen, die Beschäftigte heutzutage erbringen müssten, hoch seien. “Die Leute kommen und wollen es schon gestern haben.” Langsam schiebt Matthias Brehmer seine Brille auf die Nase. Die braucht er, wenn er am Computer die Visitenkarte konfiguriert. Georgi sagt: “Man braucht Geduld.”
Die meisten Kunden der Texdat, dessen Hauptgesellschafter seit 2020 das Pilgerhaus Weinheim ist, kommen aus dem sozialen Bereich, es sind Kirchen, Sozialverbände oder auch Kommunen. Daneben bilden Industrieunternehmen wie zum Beispiel Freudenberg einen festen Bestandteil des langjährigen Kundenstamms der Texdat. Alle wollen in kürzester Zeit beste Qualität. “Deshalb können wir nicht sagen, wir brauchen länger oder machen es schlechter‘”, sagt Brehmer.  
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