02 | 23

Recruiting 5.0: Mitarbeiter gesucht – und gefunden?

Fachkräfte zu finden, ist für viele Unternehmen zur Herausforderung geworden. Höchste Zeit, neue Wege in der Personalbeschaffung zu gehen.
Trauriger Rekord: Im jüngsten DIHK-Fachkräftereport gaben mehr als die Hälfte der 22.000 befragten Unternehmen an, nicht alle offenen Stellen besetzen zu können – so viele wie noch nie. Die DIHK sieht neben der Wettbewerbsfähigkeit der Betriebe auch die Umsetzung wichtiger Transformationsaufgaben in Gefahr. „Wir gehen davon aus, dass in Deutschland rund zwei Millionen Arbeitsplätze vakant bleiben“, sagt der stellvertretende DIHK-Hauptgeschäftsführer Dr. Achim Dercks. Das entspreche einem entgangenen Wertschöpfungspotenzial von fast 100 Milliarden Euro. Dercks mahnt deshalb: „Das Fehlen von Fachkräften belastet nicht nur die Betriebe, sondern gefährdet auch den Erfolg bei wichtigen Zukunftsaufgaben: Energiewende, Digitalisierung und Infrastrukturausbau – für diese Aufgaben brauchen wir vor allem Menschen mit praktischer Expertise.“ Und die sind rar wie nie zuvor.

Dr. Achim Dercks, stellvertretender DIHK-Hauptgeschäftsführer:
Wir gehen davon aus, dass in Deutschland rund zwei Millionen Arbeitsplätze vakant bleiben.
Wie können Betriebe die dringend benötigten Fachkräfte finden? Immer mehr Unternehmen setzen auf Social Recruiting oder Performance Recruiting, um eine Bewerbungskampagne passgenau in einer bestimmten Zielgruppe zu lancieren. „50 Prozent der Arbeitnehmer suchen latent, scheuen jedoch den Aufwand, sich aktiv nach einem neuen Job umzusehen“, sagt Thomas Winter. Zusammen mit Niclas Seidel leitet er die PPM Ventures GmbH. Das Unternehmen mit Sitz in Mannheim unterstützt Betriebe bei der Entwicklung von Kampagnen in den sozialen Medien. Fliegt den latent Suchenden oder Unzufriedenen via Instagram, Facebook oder TikTok ein konkretes Angebot zu, sei die Chance, dass sie sich dieses ansehen, groß. PPM Ventures setzt beim Recruiting ausschließlich auf Videos. Denn: „Ein Video transportiert mehr Informationen und vor allem Persönlichkeit“, erklärt Seidel.
Auch die Mannheimer Unternehmensberatung NXT JOBS setzt für ihre Kunden auf eine passgenaue Kandidatenansprache und nicht „Post and Pray“ – also Anzeige schalten und auf Bewerbungen hoffen. „Wir schauen uns in einem ersten Schritt das Unternehmen und die freie Stelle an und definieren den Wunschkandidaten beziehungsweise die Wunschkandidatin, die ‚Candidate Persona‘“, erklärt Christian Blasen. Er hat gemeinsam mit Maximilian Böckler das Unternehmen, das mit dem Mannheimer Existenzgründerpreis MEXI ausgezeichnet wurde, gegründet. Für die „Candidate Persona“ wird ein fiktives Profil entwickelt, das formale Anforderungen formuliert, darüber hinaus aber auch Fragen klärt. Zum Beispiel, wie die Person angesprochen werden möchte, auf welchen Kanälen sie am ehesten zu finden ist, mit welchen Argumenten sie sich überzeugen lässt und was ihr am Job wichtig ist. Diese Informationen bilden die Grundlage für die Kampagne, die NXT JOBS entwickelt, und die dann regional in der zuvor definierten Zielgruppe ausspielt wird. Streuverluste sollen so vermieden, außerdem – im Gegensatz zu Stellenportalen und Headhuntern – die Interessenten in ihrem privaten Umfeld erreicht werden. Was dann wieder wichtig ist, wenn es sich um „passive Kandidaten“ handle, die nicht aktiv auf Jobsuche sind. 
Auch im regulären TV-Programm lässt sich für Mitarbeiter werben. PPM Ventures bietet durch eine Kooperation mit ProSieben/SevenOne Media die Möglichkeit an, die Social Recruiting-Kampagne durch digitale TV-Banner zu verstärken. Diese Banner werden dann während der Sendungen am Bildschirmrand eingeblendet, wobei zuvor festgelegt wird, in welchen Postleitzahlengebieten die Ausstrahlung erfolgen soll.
Ist das Interesse erst einmal geweckt, folgt bei den Recruiting-Angeboten von PPM Ventures und NXT JOBS die Weiterleitung auf eine eigens erstellte Landingpage, die im Corporate Design des Unternehmens erscheint und weiter gehende Informationen enthält. Hier gibt es Einblicke in den Unternehmensalltag, der Chef oder die Chefin stellt sich vor, Zusatzleistungen, die die Firma bietet, werden herausgestellt. Zentrales Element der Landingpage ist der Call-to-Action-Button, über den sich die Kandidaten bewerben können. 
Dass Unternehmen dem Performance Recruiting oft noch skeptisch gegenüberstehen, weiß NXT Jobs-Geschäftsführer Maximilian Böckler: „Viele denken, sie bräuchten Lebenslauf und Anschreiben, bevor sie mit jemandem in Kontakt treten können.“ Doch früher hätten die Bewerber Schlange gestanden. Das sei heute nicht mehr der Fall. „Wir sind in einem Arbeitnehmermarkt, da suchen sich die Kandidaten die Unternehmen aus.“ 
Und die Kandidaten seien eben anders unterwegs als früher. „Die Menschen erledigen heute viele Dinge über ihr Smartphone oder ein Tablet“, betont PPM-Chef Niclas Seidel. Dazu zähle immer häufiger auch die Stellensuche und die Bewerbung. Sich einfach „on the go“ zu bewerben, ist für viele Kandidaten eine Option. Dass sich die Zeit der papierbasierten Bewerbung dem Ende zuneigt, zeigen auch die Recruiting Trends, die die Universitäten Bamberg und Erlangen-Nürnberg im Auftrag der Monster Worldwide Deutschland GmbH jährlich erstellen. Ging vor zehn Jahren noch jede dritte Bewerbung papierbasiert bei den befragten Unternehmen ein, ist es heute gerade einmal jede zehnte. Der Großteil erfolgt elektronisch, per E-Mail, Bewerbungsformular oder – noch selten – per App einer Internetstellen-Börse oder Unternehmensapp. 
Um den Pool an talentierten Fachkräften zu erweitern, blicken viele Unternehmen auch ins Ausland. PPM Ventures beispielsweise hat im Januar ein Projekt in Mexiko gestartet, um Arbeitskräfte für eine Pflegeeinrichtung in Deutschland anzuwerben. „Der Prozess ist relativ langwierig, da die über eine mexikanische Mitarbeiterin vor Ort ausgewählten Pflegefachkräfte erst Deutsch lernen müssen“, erzählt Seidel. Zusammen mit dem Goethe-Institut in Mexiko klappe das aber gut. Auch in Bukarest ist PPM Ventures über einen Partner aktiv. Dort geht es um Fachpersonal, das für einen IT-Dienstleister rekrutiert werden soll. 
Was viele Unternehmen jedoch bei allen neuen Recruiting-Maßnahmen vergessen: Die Qualifizierung von Mitarbeitern war zwar immer wichtig und notwendig, um veränderten Arbeitsbedingungen und Entwicklungen wie etwa der Digitalisierung Rechnung zu tragen. In Zeiten von Engpässen auf dem Arbeitsmarkt gewinnt sie aber eine noch größere Bedeutung. „Oft schlummern Talente in den eigenen Reihen. Durch eine Weiterbildung profitiert nicht nur derjenige, der sich weiterbildet. Das erlernte Know-how stärkt das gesamte Team“, betont IHK-Weiterbildungschefin Dorothee Balke. Kostengünstiger als ein komplettes Recruitingverfahren sind Fort- und Weiterbildungen allemal. Und es bindet die Menschen an das Unternehmen: Weil sie sich wertgeschätzt fühlen. 
 

Mehr zum Thema: