Vom Watmarkt nach Buenos Aires: 1938 ins Exil
Eva Schwarzhaupt fällt aus dem Rahmen dieser Portraits – denn unmittelbar hat sie nichts mit der IHK zu tun. Sie war weder Präsidentin noch Hauptgeschäftsführerin, sondern Opernsängerin, wäre obendrein als Frau noch früher als heute an die sprichwörtliche gläserne Decke gestoßen und für eine hohe Leitungsposition gar nicht in Betracht gekommen. Doch das war ohnehin nicht ihr Weg. Eva Schwarzhaupt, 1927 in Regensburg zur Welt gekommen, lebte seit der Auswanderung der Familie 1938 in Argentinien und damit nicht nur räumlich Welten von der Institution und den Aufgaben einer Industrie- und Handelskammer entfernt. Dennoch hat die IHK Regensburg mittelbar seit 1951 einiges mit Eva Schwarzhaupt zu tun: Kern und Ausgangsort des heutigen Kammergebäudes in der D.-Martin-Luther-Straße ist nämlich die ehemalige, später abgerissene, massiv umgebaute und erweiterte Villa von Salomon und Betty Schwarzhaupt, deren älteste Enkelin Eva Schwarzhaupt war. Um den Zusammenhang nachzuvollziehen, muss man ein wenig ausholen und in die Geschichte eintauchen.

Dass Regensburg auf eine lange jüdische Historie zurückblickt, muss nicht eigens betont werden. Längst wurde gründlich erforscht, welch wichtige Rolle die jüdischen Fernhandelskaufleute im Mittelalter spielten. Hier an der Donau entstand die wichtigste Talmudschule des frühen Mittelalters, nachdem in den Kreuzzügen die Schum-Gemeinden Speyer, Worms und Mainz ausgelöscht worden waren und die überlebenden Rabbiner nach Regensburg flohen. Über Jahrhunderte hinweg lebten die Regensburger Juden sicher und wohlgelitten in der Stadt. Nach dem wirtschaftlichen Niedergang um 1500 und nicht zuletzt als Folge der Hetzpredigten eines Balthasar Hubmaier fand diese friedliche Koexistenz 1519 jedoch ein jähes Ende: Alle Juden mussten binnen zehn Tagen Regensburg verlassen, die Synagoge wurde abgerissen, der Friedhof geschleift, über vierzig Wohnhäuser, meist Patrizierburgen, dem Erdboden gleichgemacht. Der heutige Neupfarrplatz entstand auf brachialste Weise.
Erst mit den Gesandten des ab 1663 tagenden Immerwährenden Reichstags kehrten Juden als Hoffaktoren in die Stadt zurück. Als Hoffaktoren bezeichnete man kurz gesagt Kaufleute oder Bankiers oftmals jüdischer Herkunft, die am Hof oder in diesem Fall für die Gesandten Luxuswaren und Kapital beschafften und ihrerseits höchst einflussreiche und wohlhabende Leute waren. Der Stadtrat erteilte damals Wohnrecht für eine begrenzte Anzahl jüdischer Familien, die unter Pappenheim'schem Schutz standen. Mit dem vom bayerischen Staatsminister Montgelas erlassenen Judenedikt vom Juni 1813 erfolgte der erste Schritt zur Judenemanzipation in Bayern – allerdings war das Edikt mit einer „Judenmatrikel“ verknüpft und damit die Gesamtzahl der in einer Stadt zulässigen jüdischen Einwohner strikt begrenzt. Erst 1861 wurde dieser Paragraph in Bayern gestrichen, 1871 die Judenemanzipation in einem Reichsgesetz verbrieft.
Seit 1861 zogen wieder vermehrt Juden nach Regensburg; 1863 verzeichnete die jüdische Gemeinde 227 Mitglieder, 1870 schon 430, im Jahre 1880 dann 675. Speziell in der Gründerzeit waren Geschäftsleute willkommen. Bis zum Jahr 1903 stieg die Zahl der Geschäfte mit jüdischen Inhabern in Regensburg auf vierundsechzig an. Zweiundzwanzig davon waren Bekleidungs- und Textilgeschäfte, hinzu kamen zwei Pelzhandlungen, zwei Lederhandlungen, die Kalk- und Zementfabrik von David Funk und ein Schuhwarenlager. Nicht minder wichtig waren die drei Hopfenhändler, die fünf Viehhändler, die fünf Bankiers (Max Weinschenk war der erste Regensburger, der ein Telefon besaß), sieben Lebensmittelläden, zwei Häute- und Fellhändler, ferner ein Brauer. 1888 eröffnete die Kaufhauskette Tietz ihr erstes Geschäft in der Ludwigstraße, ein zweites 1892 in Stadtamhof; hundertdreißig Angestellte des Hauses feierten am 26. September 1928 das vierzigjährige Bestehen der Regensburger Tietz-Filiale. Nach der Jahrhundertwende öffnete 1904 das große Herrenkonfektionsgeschäft von Adolf und Theodor Manes in der Goliathstraße, Ecke Brückstraße seine Pforten.

Auch das Kaufhaus von Emanuel Schwarzhaupt und seiner Frau Babette, geborene Springer, wurde im Jahr 1904 gegründet – ein mehr als nur stattlich zu nennender Gebäudekomplex im Geviert zwischen Watmarkt und Goliathstraße. Die Entwürfe stammten von dem Regensburger „Star-Architekten“ Joseph Koch, der auch die neue Synagoge (1912), die Weinschenk-Villa, das Café Fürstenhof und vieles mehr baute. Auf dem Areal des Schwarzhaupt-Kaufhauses am Watmarkt – heute befindet sich hier u.a. das Ristorante L’Osteria – hatte zuvor das spätgotische Patrizierhaus gestanden, in dem Friedrich Heinrich Theodor Fabricius, der erste Vorsitzende der Regensburger Handelskammer, sein Geschäft betrieb. Das Kaufhaus Schwarzhaupt feierte 1929 mit einem großen Jubiläumsverkauf sein 25jähriges Bestehen. Die dazugehörige Zeitungsannonce zeigt das imposante Gebäude, das trotz aller baulichen Veränderungen und Reduktionen, insbesondere dem Abbruch des markanten Eckturms, bis heute eindrucksvoll ist. „Das Haus der Vertrauensqualitäten“ warb mit den Stichworten „erstklassige Qualitäten, bedeutendste Auswahl, billigste Preise, strengste Reellität“.
Strengste Realität jedoch für alle jüdischen Einwohner der Stadt und natürlich auch die Schwarzhaupts wurde 1933, nicht einmal fünf Jahre später, die Machtergreifung der Nationalsozialisten: ab sofort war jüdischen Firmen jegliche Werbung untersagt, Boykottaufrufe gehörten zum Alltag. Wer dennoch die bedeutendste Auswahl erstklassiger Qualitätswaren mit billigsten Preisen bevorzugte, riskierte Schmähung und Denunziation. Im Sommer 1935 wurde zu diesem Zweck in der Zeitschrift „Die Ostmark“ eine dreiseitige Boykottliste gedruckt – vorerst „nur für Parteigenossen“. Seit August 1935 wurden jüdische Geschäftsleute von Seiten der Stadt nicht länger bei öffentlichen Aufträgen berücksichtigt.
In der Reichspogromnacht am 9. November 1938 steckten mit ausdrücklicher Billigung des NS-Oberbürgermeisters Schottenheim Trupps des Nationalsozialistischen Kraftfahrerkorps (NSKK) unter Führung von Wilhelm Müller-Seyffert die Synagoge in der Schäffnerstraße in Brand. Parallel dazu traf der über Jahre systematisch geschürte und nun zugespitzt inszenierte „Volkszorn“ die jüdischen Nachbarn und Mitbürger mit brutaler Gewalt: „Die Terrorkommandos verschafften sich gewaltsam Zugang zu den Wohnungen, misshandelten deren Bewohner, entwendeten Schmuck, Bargeld, Schuldscheine und verschiedenste Wertgegenstände und verwüsteten systematisch die Wohnungseinrichtungen. Aus vielen Schilderungen geht hervor, dass solche Wohnungszerstörungen vielfach über Stunden anhielten, wobei die Täter nicht eher ruhten, bis buchstäblich jeder Gegenstand zerkleinert oder unbrauchbar gemacht worden war.“
Die Regensburger Schreckensnacht „gipfelte“ im sog. „Schandmarsch“ einen Tag später, am 10. November 1938. Achtzig jüdische Regensburger im Alter zwischen sechzehn und einundachtzig Jahren wurden auf Lastautos des NSKK abtransportiert und nach namentlicher sowie fotografischer Erfassung zum „Frühsport“ gezwungen, wie man die Quälereien sarkastisch verharmloste. Danach formierte man sie zu einem „Marschzug“, der unter „Schmäh- und Spottrufen“ mit uniformierten Hakenkreuzlern und einem Transparent „Auszug der Juden“ an der Spitze durch die Stadt getrieben. Jede Menge Gaffer säumten die Straßen, viele von ihnen johlten und applaudierten. Fünfunddreißig jüdische Männer wurden sofort danach ins KZ Dachau verschleppt, sechsundzwanzig ins Gefängnis in der Augustenstraße verfrachtet. Laut der Akte des Oberbürgermeisters Schottenheim wurden unmittelbar nach der Pogromnacht 1938 „17 jüdische Betriebe in arischen Besitz übergeleitet und 43 jüdische Betriebe und Berufe liquidiert“. Allein im Regierungsbezirk Oberpfalz/Niederbayern wurden am 9. November 1938 fünf Synagogen zerstört sowie 224 Juden verhaftet und ins KZ Dachau deportiert. Für Ende Oktober bis Mitte November 1938 belegt das Gefangenenbuch der Regensburger Augustenburg die Einlieferung von über 200 Juden aus dem Zuständigkeitsbereich der Gestapo-Leitstelle Regensburg.
Der Vernichtungsfeldzug gegen die jüdischen Mitbürger hatte eine Vorlaufzeit, in der sukzessive sämtliche Gesetze dem nationalsozialistischen Gedanken-Wahn angepasst und mit Verboten aufgerüstet wurden. Im Herbst 1934 hieß es im Vorspann zu dem neu erlassenen Steueranpassungsgesetz: „Die Steuergesetze sind nach nationalsozialistischer Weltanschauung auszulegen.“ Entsprechend wurde in einem Rundschreiben von 1936 die sog. „Reichsfluchtsteuer“ festgelegt: sie reichte von einem Drittel (ab 100.000 RM) des aktuellen Gesamtvermögens bis hin zu drei Vierteln (ab 500.000 RM). Damit gab sich der NS-Staat noch nicht zufrieden. Alle „Verkaufs"erlöse aus zwangsweise „arisiertem“,„entjudetem“ Besitz, so die offiziellen Formeln, mussten auf ein Sperrkonto bei der Deutschen Golddiskontbank einbezahlt werden. Bei Umtausch in Devisen oder Transfer ins Ausland erhob die Bank deftige Abschläge: ab Juni 1935 horrende 68 Prozent, ab September 1939 wahnwitzige 95 Prozent.
Manche Schikanen grenzten dabei ans erschreckend Bizarre. So kutschierte die SA am 30. März 1933 den stadtbekannten Likörfabrikanten Alfred Binswanger mit seinem Privatwagen zum Gefängnis in der Augustenstraße. Im Gefängnishof wurde die Limousine anschließend requiriert, um sie „zum Streifendienst zum Schutz des hiesigen Judentums zu verwenden“, wie wortgetreu auf der von SS-Unterscharführer Stauffer unterschriebenen und ordnungsgemäß abgestempelten Empfangsbescheinigung zu lesen stand, die der Likörfabrik Jakobi tags darauf zugestellt wurde.
(Hierzu und zum gesamten Kontext sei nicht nur den an der Geschichte Regensburgs Interessierten das in diesem Beitrag mehrfach zitierte Buch Die Firma ist entjudet: Schandzeit in Regensburg 1933–1945 von Waltraud Bierwirth zur Lektüre empfohlen. Das im Pustet-Verlag erschienene Buch ist bestens recherchiert, bündelt viele Quellen und bringt einen bündigen Abriss dieser Zeit.)
Man bedenke beispielsweise folgende ebenso unfassbare wie zynische Mitteilung von Oberbürgermeister Schottenheim an den Oberfinanzpräsidenten in Nürnberg im April 1942 nach der ersten Deportation von Regensburger Juden in die ostpolnische Ghettostadt Piaski: „Durch die am 4. ds. Mts. erfolgte Evakuierung von 119 Juden sind in Regensburg rd. 30 Judenwohnungen frei geworden; 9 judeneigene Häuser mit 13 Wohnungen sind in das Eigentum des Reiches übergegangen. Bei der außergewöhnlich großen Wohnungsnot in Regensburg hat eine außerordentlich rege Nachfrage nach den frei gewordenen Judenwohnungen eingesetzt, die eine überaus große Zahl von Wohnungsgesuchen, verbunden mit einem sehr starken Parteiverkehr beim Finanzamt Regensburg, bei der Polizeidirektion Regensburg und beim Oberbürgermeister ausgelöst hat. Ich bin der Meinung, dass alles geschehen muss, um die dadurch aufgetretene Beunruhigung der Bevölkerung und die damit verbundene Mehrbelastung der Behörden so rasch als möglich zu beheben. Dies kann nur dadurch erreicht werden, dass die in den Judenwohnungen zurückgebliebenen und zur Verfügung des Reiches stehenden Einrichtungsgegenstände mit größter Beschleunigung entfernt und veräußert werden. Ich bitte, dem hierfür zuständigen Finanzamt Regensburg baldmöglichst entsprechende Weisungen zu erteilen.“
Der Oberfinanzpräsident reagierte wie erwartet. Die Möbelpacker des Finanzamts konnten die Wohnungen gar nicht so schnell räumen, wie die neuen Bewohner hineindrängten. Waltraud Bierwirth zieht eine lakonische Bilanz: „Bei der öffentlichen Versteigerung des Wohnungsinventars, der Stilmöbel, Teppiche, Bilder, selbst der Kleidung, machten Hunderte ihr ‚Schnäppchen’. Manches vermeintliche ‚Familien’-Erbstück wurde damals erstanden.“ Mit Unbehagen? Eher nicht: „In Regensburg sorgte die Deportation der Juden für großes Aufsehen. Aber nicht das Schicksal sorgte für das Interesse, sondern die Aussicht, günstig an Eigentum zu gelangen“, führt Bierwirth aus.
Schwarzhaupt-Villa 1942 (Foto: Christoph Lang)
Auch die in Regensburg überaus bekannte Familie der Kaufhausbesitzer Schwarzhaupt kam schnell ins Visier der Nazigranden. Besonders die überaus repräsentative Villa der jüdischen Familie in der Klarenangerstraße, wie die D.-Martin-Luther-Straße bis 1933 hieß, weckte die Begierden der NSDAP. Der renommierte Architekt Heinrich von Hügel (der u.a. auch den Bahnhof in Regensburg, das Theater in Franzensbad, das Casino von Bad Kissingen und das Münchener Zeughaus erbaute) hatte die spätklassizistische Villa mit ihren Palladio-Anklängen 1868/69 für den Regensburger Privatier und vormaligen Seifensieder und Brauereibesitzer Johannes Gschwendtner entworfen – mit markantem Mittelrisalit über zwei Geschosse, mit Balustrade und je vier Säulen, im ersten Stock mit ionischem, im Erdgeschoss mit dorischem Kapitell. Die Zeichnung zum Bauplan für die Regensburger Gschwendtner-Villa wurde 1869 auf der Internationalen Kunstausstellung in München als Muster für einen repräsentativen Wohnsitz präsentiert. Im Erdgeschoss befanden sich laut der Zeitschrift des „bayerischen Arch- und Ing-Vereins“ folgende Räume: „Schlafzimmer, Salon und Wohnzimmer der Frau, Wohnzimmer des Herrn, Alkoven, Vestibül, zugleich Speisezimmer, Kinderzimmer, Garderobe und Bügelzimmer, Magdkammer, Küche, Speisekammer, Holzlege.“ Das ursprüngliche Gebäude wurde 1917 durch Umbau leicht verändert, u.a. kam ein hübscher Ausguck oben auf dem Dach hinzu.
Der eindrucksvolle Bau passte in den Augen der Regensburger NSDAP-Parteiführer bestens zu den megalomanen Plänen, die man umgehend aus der Tasche holte – die Kreishauptstadt Regensburg brauchte unbedingt eine würdige und gewaltige „Parteiburg“. Kurzerhand wurde die Schwarzhaupt-Villa „zwangsarisiert“, wobei die Stadt Regensburg gut die Hälfte des alles andere als freiwillig zustande gekommenen Kaufpreises von 61.500 Reichsmark übernahm. Im Herbst 1935 gehörte die Villa dem „Ostmark-Bauverein“. Nach größeren Umbaumaßnahmen residierten hier stilvoll und in zentraler Lage die NSDAP-Gauleitung Bayerische Ostmark, Gauinspektion Süd, sowie die NSDAP-Kreisleitung Regensburg. Geplant war der Neubau besagter „Parteiburg“ mit einem „Aufmarschplatz“ – wenn fünfzigtausend Mann zackig aufmarschieren sollten, brauchten sie einiges an Platz, keine Frage. Vorgesehen war dafür fast das gesamte Areal zwischen dem heutigen Dachauplatz und der Kreuzung zur Landshuter Straße, auch das heutige Weiterbildungszentrum der IHK in der D.-Martin-Luther-Straße 10 hätte bei diesem Bauvorhaben dran glauben müssen. Weil der vorhandene Platz aber immer noch nicht ausreichend erschien, plante man ab 1938 eine Realisierung im Hindenburgpark, wie der Stadtpark damals hieß; der Zweite Weltkrieg verhinderte diesen Größenwahn.
Nicht verhindert wurden die sich immer mehr ausweitenden Restriktionen, Zwangsenteignungen, Übergriffe und tätlichen Angriffe gegen die jüdische Bevölkerung. Nach der Reichspogromnacht ging es an die „Entjudung“ des Modehauses Betty Schwarzhaupt, zwei große Gebäude in bester Lage: „Watmarkt 1, Warenhaus mit Läden, elektrischer Personen- und Warenaufzug, 0,032 ha (2 Kellergeschosse, 4 Verkaufsgeschosse, 2 Dachgeschosse, welche als Wohnungen benützt werden)“ und „Watmarkt 3, Wohnhaus mit Läden, 0,029 ha (Verkaufsräume, an der Front Watmarkt Ladenräume, die übrigen Stockwerke enthalten Wohnungen).“
Beide Gebäude gingen an den Münchner Kaufmann Ludwig Hafner, der Mieter im Watmarkt war, obendrein auch noch das von Emanuel Schwarzhaupt gegründete Straubinger Unternehmen für Mode-Manufaktur, Weißwaren und Damen-Konfektion „übernahm“. Den Regensburger Verkaufsvertrag vom 16. Januar 1939 heute zu lesen, hinterlässt einen mehr als bitteren Nachgeschmack. Der Verkaufspreis für beide Gebäude am Watmarkt betrug 250.000 RM, da ein vom 16. Januar 1939 datiertes und als Bestandteil des Kaufvertrages aufgenommenes „Technisches Gutachten“ 120.000 RM für die Behebung diverser Mängel vom Verkehrswert abgezogen hatte. Obendrein war zuletzt auch noch die „Judenvermögensabgabe“ in Höhe von 91.000 RM fällig.
Im Gutachten des Bausachverständigen Oberberger, basierend auf einer Besichtigung im Mai 1938, heißt es unter anderem: „Die Fußböden des Erd- und Obergeschosses in den Verkaufsräumen Watmarkt 1 und 3 sind vollkommen erneuerungsbedürftig. Um die jetzigen Räume weiter als Verkaufsräume benutzen zu können, ist der Einbau eines abgeschlossenen Treppenhauses notwendig, außerdem die Verbreiterung des Haupteinganges, der Umbau der Aufzuganlage und der gesamten elektrischen Licht- und Kraftanlage unter Verputz und die Einbauung einer Notbeleuchtungsanlage. Sämtliche Fenster in beiden Gebäuden sind neu zu verkitten, zu streichen, desgleichen die Türen samt Erneuerung der Türschlösser. Sämtliche Räume der Verkaufsabteilungen sowie der Treppenhäuser, Lichthöfe einschließlich der Kellerräume sind von dem jetzigen Zustande auf das gründlichste zu reinigen und neu den Vorschriften entsprechen zu tünchen. Desgleichen sind die Fassadenflächen vollkommen zu erneuern, die Türen und Fenster in gleicher Weise zu streichen, sämtliche Blechabdeckungen und Dachflächen usw. auszubessern und der Turm nach behördlicher Maßnahme abzutragen. Die Augenscheinnahme zeigte, dass in den Haupt- wie in den Nebenräumen seit der Erbauung nicht der geringste Bauunterhalt gepflogen wurde. (…) Bei der Feststellung der Summe ist die Geschäftslage der beiden Gebäude voll berücksichtigt.“
Am 3. April 1939 brachte die Stadt Regensburg weitere Einwendungen vor. Frau Schwarzhaupt solle „bis spätestens 1. Mai 1939 (auf ihre Kosten) den schlechten baulichen Zustand“ ihres Anwesens beheben. Außerdem habe sie „den seinerzeit errichteten, das alte Stadtbild auf das gröblichste verunstaltenden Turm entfernen zu lassen“. Im Weigerungsfall sehe sich die Stadt veranlasst, „die Beseitigung des unhaltbaren ... Zustandes auf gerichtlichem Wege zu erzwingen“. In einem internen Gutachten wurde ein Grad der Verwahrlosung gerügt, wie er „nur von Juden bekannt“ sei.
Selbst der Regierung von Niederbayern und der Oberpfalz ging all dies zu weit. In einem Schreiben vom 22. Juli 1939 wurde unter dem Betreff „Vollzug der VO. über den Einsatz des jüdischen Vermögens, hier Veräußerung des Anwesens am Watmarkt Hs.Nr. 1-3“ in Frage gezogen, ob der im Gutachten festgestellte „gesamte Kostenaufwand für die Beseitigung baulicher Mängel notwendig“ sei. Bei der Regierung ging man von einem höheren Verkehrswert aus. „Die Schätzung ist daher auch insoweit einer Nachprüfung zu unterziehen.“
Als sich der Rechtsvertreter der Familie Schwarzhaupt, Karl Jakob Michael – der nach dem Berufsverbot für jüdische Rechtsanwälte vom 30. November 1938 zum "Konsulent" herabgestuft wurde, was hieß, dass er vor Gericht keine Robe tragen durfte, statt dessen sichtbar den Judenstern tragen musste, nicht bei Strafsachen verteidigen konnte und stolze siebzig Prozent seiner Einkünfte an den Fiskus abführen musste – später beim Oberfinanzpräsidium Nürnberg nach dem Verbleib des „arisierten“ Vermögens der Familie Schwarzhaupt (sowie der Familien Behr, Friedmann, Sonn, Firnbacher, Sterzelbach und Strauß) erkundigte, bekam er am 10. März 1942 folgenden lakonischen Bescheid: „Das Vermögen der genannten ausgewanderten Juden ist, weil sie durch die Auswanderung die deutsche Staatsangehörigkeit verloren haben, zweifellos dem Reich verfallen.“
Im Rückblick steht außer Frage, dass Eva Schwarzhaupts Eltern Heinrich und Lorle ihr eigenes und das Leben ihrer drei Töchter retteten, als sie bereits im Juli 1938, also schon vor dem Zwangsverkauf der Häuser am Watmarkt, nach Palästina auswanderten, von wo aus sie mit dem Dampfschiff nach Argentinien fuhren, um sich eine neue Bleibe in Buenos Aires zu suchen. Zunächst nahmen sie nur Eva mit, ihre älteste Tochter, damals elf Jahre alt. Als die Familie dort eine neue Bleibe gefunden hatte, konnten im Februar 1939 auch die siebenjährige Irma und die zweijährige Ruth in der Obhut ihrer Tante Rosel Frank, Heinrichs Schwester, nachkommen. Heinrichs Mutter Betty Schwarzhaupt gelang der Weg ins Exil zur Familie ihres Sohnes noch überraschend spät, nämlich im November 1940 über Madrid und Bilbao, dann weiter über den Atlantik nach Buenos Aires.
Allein im Jahr der Machtergreifung Hitlers verließen 107 jüdische Regensburger ihre Stadt, bis zum November 1938 schmolz die jüdische Gemeinde um insgesamt 282 Mitglieder. Wer blieb, fand mit hoher Wahrscheinlichkeit den Tod in den Vernichtungslagern des NS-Regimes. Von den mehr als 270 im Jahre 1942 deportierten Juden entgingen lediglich elf Personen dem Tod – zieht man den Kreis noch weiter, nimmt das Erschrecken zu: So überlebte von den dreiunddreißig Mitgliedern der Erbengemeinschaft des von den Reichswerken Hermann Göring „zwangsarisierten“ Kalkwerks von David Funk nur ein einziger. Wie Waltraud Bierwirth nachverfolgte, blieben David Funks Erben nach Abzug der Kosten für Anwälte, die Judenvermögensabgabe, die Reichsfluchtsteuer und den Umtauschabschlägen auf den Devisensperrkonten noch gerade einmal vier Prozent der Kaufsumme. Für Emma und Karl Schwarzhaupt, die in Straubing in bester Lage auf dem Ludwigsplatz die Filiale der „Vereinigtes Kaufhaus AG“ betrieben hatten, wurden im August 2008 zwei Stolpersteine verlegt; beide wollten nicht auswandern, beide fanden in Theresienstadt den Tod.
Viele Emigranten, man denke nur an Oskar Maria Graf, behielten alte Prägungen und Vorlieben eisern bei, so auch Eva Schwarzhaupts Vater Heinrich – der einstige Jahn-Fußballer und Bayer mit stattlicher Bierkrügelsammlung und einer Vorliebe für Lederhosen und Marschmusik, sprach in Buenos Aires im Kreise seiner Familie immer Deutsch. Auch seine Tochter Eva, verehelichte Rodriguez, blieb der deutschen Sprache „treu“, wenngleich die Fahrt ins Exil, die bitteren Erfahrungen unter der Nazi-Herrschaft und der Verlust der Orte, an denen sie aufgewachsen war und denen sie sich zugehörig fühlte, einen harschen Schlussstrich unter ihre Kindheit gesetzt hatten. Primär war sie Opernsängerin, parallel dazu arbeitete Eva Schwarzhaupt von 1960 bis 1987 als Regieassistentin und Dozentin für deutsche Sprache und deutsche Phonetik am Teatro Colón in Buenos Aires. 1982 engagierte man sie als Professorin für deutsche Sprache und Phonetik an der privaten Hochschule Universidad del Museo Social Argentino, seit 1988 war sie Dozentin an der Universidad Católica de Buenos Aires, einer der angesehensten Privatuniversitäten in ganz Lateinamerika. Noch im Alter von siebzig Jahren bereitete sie die Opernsänger des Teatro Colón auf die Inszenierungen der deutschsprachigen Opern vor.

Als Eva Schwarzhaupt 1997 auf Einladung der IHK nach Regensburg reiste, suchte sie natürlich vor allem auch die Stätten ihrer Kindheit auf. Dass das Haus in der D.-Martin-Luther-Straße, in dem ihre Großmutter Betty gewohnt hatte, als Kernbau allenfalls noch rudimentär im heutigen Gebäude der IHK Regensburg und Oberpfalz enthalten ist, darauf war sie natürlich vorbereitet. Dass aber der große Kastanienbaum noch erhalten war, berührte und freute sie zutiefst – und weil es Herbst war und die stacheligen Früchte zu Boden fielen, bückte sie sich, hob eine davon auf und steckte sie ein, wie Helmut Wanner in einem Porträt über ihren Besuch notierte.
Was ebenfalls die Zeiten überlebt hat, sind Eva Schwarzhaupts Erinnerungen. Daran, wie sie als Kind unter der Kastanie ihr erstes Theater errichtete und mit den Puppen dort spielte. Daran, wie sie mit ihrer Großmutter Betty jeden Montag im Radio Opern-Arien hörte. Am besten gefiel ihr die Arie der Senta aus Richard Wagners „Fliegendem Holländer“, die sie damals auswendig lernte und mit der sie als Zwanzigjährige die Aufnahmeprüfung für den Opernchor des argentinischen Staatstheaters bestand. 1951 erwarb sie ihr Diplom für Sologesang, gehörte dann als Mezzosopranistin dem Chor des Teatro Colón an, dem berühmtesten Opernhaus in ganz Lateinamerika, und trat primär in Lateinamerika und den USA als Konzert- und Liedersängerin auf. Den Grundstein für diese Leidenschaft und diese Karriere hatte ihre Großmutter Betty gelegt, von der sie sagte: „Großmutter war mein Schutzengel, der beste Mensch von der Welt.“
Dass die IHK Regensburg Eva Schwarzhaupt nach Regensburg einlud und in den neuen Räumen der Kammer empfing, ehrt alle, die an dieser Einladung beteiligt waren. Dass Eva Schwarzhaupt diese Einladungen in ihre Heimatstadt und in die alte Villa ihrer Familie ohne Zögern annahm, ehrt wiederum sie. „Sie begegnete allen absolut ohne Vorbehalte“, schwärmt Helmut Wanner. Eva Schwarzhaupt wurde 76 Jahre alt und starb 2003 in Buenos Aires.