Vom Trümmerhaufen an die Schwelle des Gemeinsamen Marktes

Beginnen wir mit dem Ende, gibt es doch dann vieles, worauf sich zurückblicken lässt – definitiv auf den dazugehörigen Anfang. Und es gibt viele Anfänge und viele erste Tage: im Leben, im Arbeitsleben, im Eheleben, im Leben als Unternehmer und dem als Kammerpräsident. Beginnen wir mit dem Ende jener Periode, die oft als die Phase des Wiederaufbaus und des Wirtschaftswunders bezeichnet wird.
Als die Mitarbeiter der Kammer dem Weidener Porzellanfabrikanten am 1. April 1965 in dessen Abwesenheit mit Brief und Blumen zu seinem fünfzigjährigen Berufsjubiläum gratulierten, ahnten sie noch nicht, dass „ihr“ mehrfach einstimmig wiedergewählter Präsident das Amt zum Jahresende „in die jüngeren Hände“ von Dr. Hugo Riepl legen würde. „Durch Ihr 50-jähriges Wirken als Unternehmer“, schrieb Hauptgeschäftsführer Dr. Brenneisen, „haben Sie sich im Wirtschaftsleben wie im öffentlichen Leben eine Position geschaffen, wie sie im Laufe eines Lebens nur wenige Persönlichkeiten zu erringen vermögen. Die Geschäftsführung der Industrie- und Handelskammer ist stolz darauf, einen solchen Präsidenten zu haben und sein Vertrauen zu besitzen.“ Der 69-jährige Wilhelm Seltmann nahm die Glückwünsche und die anerkennenden Worte ebenso dankend und auch gerührt entgegen wie fast neun Monate später das Buchgeschenk mit Bildern und Fakten aus seinem Wirken in der IHK und die goldene Gedenkmünze zum Ende seiner Amtszeit: „Mit welcher Freude ich Ihr Buch schon diverse Male durchgeblättert habe, kann ich Ihnen gar nicht schildern“ schrieb Seltmann an Dr. Brenneisen, stellvertretend für das „gesamte Personal“.
Zu Ehren des wegen seines angegriffenen Gesundheitszustands zurückgetretenen Präsidenten fand eine interne Feierstunde statt, an der u.a. der damalige Bundeswirtschaftsminister Kurt Schmücker sowie Regierungspräsident Dr. Emmerig teilnahmen und in deren Rahmen Seltmann der Ehrenring der IHK „für besondere Verdienste in ehrenamtlicher Tätigkeit für die gewerbliche Wirtschaft des Kammerbezirkes“ sowie die Ehrenurkunde der Ernennung zum Ehrenpräsidenten überreicht wurde. Mit Ehrungen kannte Wilhelm Seltmann sich mittlerweile aus: 1957 war ihm von der Technischen Hochschule München die Ehrendoktorwürde verliehen worden und 1961 das Große Verdienstkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland mit Kreuz (nachdem er 1956 das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse als zu rangniedrig abgelehnt hatte).
Doch nicht nur jedem Abschied, auch jedem Anfang wohnt, mit Hermann Hesse gesprochen, ein Zauber inne – selbst wenn es sich um den Wiederaufbau des durch den Zweiten Weltkrieg zerstörten Landes handelte, das im Grunde nur noch ein einziger „Trümmerhaufen“ war, über dem es zunächst einmal ein „Notdach“ zu errichten galt, wie Konrad Adenauer 1953 in seiner Rede in Regensburg sagte. Arbeit gab es in der Nachkriegszeit im Zuge des Wiederaufbaus des gesamten Landes zur Genüge, auch für die Industrie- und Handelskammern.
Ankunft BK Adenauer 12.08.1953
Konrad Adenauer bei der IHK in Regensburg 1953 (Foto: Hammon)
Als im November 1950 mit dem Weidener Porzellanfabrikanten Wilhelm Seltmann ein Vertreter der Gruppe Industrie den Vorsitz im Präsidium der IHK übernahm, wurde damit erstmals ein Präsident gewählt, der nicht aus Regensburg kam, sondern aus der Region. Die Wirtschaft der gesamten Region inklusive ihrer Städte hatte massiv unter den Folgen des Krieges zu leiden, speziell an ihrer extremen Randlage an den abgeschotteten östlichen Grenzen der Bundesrepublik.
Die Wege Richtung Osten waren versperrt, die Wege in den Westen weit. Immer wieder wurde die mangelhafte bis unzureichende Anbindung an die großen Verkehrswege beklagt: „Das Eisenbahnnetz ist viel zu weitmaschig und zu wenig nach Westdeutschland ausgerichtet“, heißt es in einem Bilanz ziehenden Bericht der IHK Regensburg. „Es ist durchaus nicht ungewöhnlich, dass die 150–200 km Bahnfahrt aus dem Bayerwald nach Regensburg einen ganzen Tag in Anspruch nehmen.“ Egal ob Eisenbahn, Schifffahrt, Landstraße oder Autobahn – es gab überall großen Nachholbedarf.
Deutlich zu spüren waren die Folgen der „Abschnürung von den Rohstoffgrundlagen und Absatzgebieten im Norden, Osten und Südosten“, wie Wilhelm Seltmann 1953 im Entwurf für eine Resolution der Vollversammlung schrieb. Die Industrie hatte Kohle, Kaolin und Rundholz einst günstig in Mitteldeutschland und in den böhmischen Nachbarregionen bezogen – jetzt war man auf tschechische Braun- und Steinkohle angewiesen, die Preise zogen an. Die Betriebe verfügten meist nicht über das nötige Kapital oder die entsprechenden Kreditzusagen, um die notwendigen Modernisierungen durchzuführen. Es herrschte Mangel an Arbeitsplätzen – manche Gebiete verzeichneten bis zu 25 % Arbeitslosigkeit; paradoxerweise aber fehlten allenthalben auch Arbeitskräfte. Allein im Jahre 1954 wanderten insgesamt 12.630 Bewohner der ostbayerischen Regierungsbezirke in andere Gegenden ab, die ein besseres Auskommen versprachen, obendrein „in der Regel die aktivsten und leistungsfähigsten Kräfte.“ Das Steueraufkommen im Kammergebiet fiel entsprechend gering aus. Man fühlte sich insgesamt abgekoppelt und abgeschnitten, wie ein Stiefkind und Almosenempfänger in Personalunion.
Wo sollte das enden, wenn keine Abhilfe kam? Was die Kammer an Vorschlägen alias Forderungen alias Wünschen vorbrachte, klingt altbekannt: Schließen der Lücken im Eisenbahn- und Straßennetz, Niedrigwasserregulierung auf der Donau, Frachtsubventionen, Kreditzufuhren zur Behebung der Finanznot, Zinszuschüsse, Ausfallbürgschaften, die Bereitstellung von Wohnraum zwecks Verlangsamung der Abwanderung, Senkung der Zollsätze für Kohle und Heizöl, eine Abänderung der geplanten Strecke des Main-Donau-Kanals auf die „Amberger Linie“, damit der Kanal „nicht als Transitstrecke durch gewerbewirtschaftlich mehr oder minder sterile Gebiete, sondern durch das Rohstoffzentrum der Oberpfalz geführt wird“.
Die harten Fakten und herben Rahmenbedingungen der ostbayerischen Wirtschaft wurden bündig in der Denkschrift mit dem Titel „Lage und Entwicklung von Handel und Industrie im Bezirk Oberpfalz-Kelheim unter Berücksichtigung der Staatshilfe“ zusammengetragen, die dem Bayerischen Ministerkabinett anlässlich seiner Tagung in Regensburg am 18. Oktober 1955 von der IHK Regensburg vorgelegt wurde. Laut der Zahlen des Berichts kam das Einkommenssteueraufkommen der Oberpfalz 1954 auf gerade einmal 48 % des bayerischen Landesdurchschnitts, was nur 34 % vom Bundesdurchschnitt entsprach. Die Kaufkraft lag in der Oberpfalz um 40,14 % unter dem Wert für Gesamtbayern. Die durchschnittliche Verschuldung der Oberpfälzer Landkreise betrug 15,03 DM pro Einwohner, während sie in Oberbayern bei nur bei 5,59 DM lag. Mit anderen Worten: „Die Prosperität ging an Ostbayern vorüber.“
Doch auch oder vor allem karge Zeiten brauchen Highlights, zündende Ideen, große Projekte – bestes Beispiel ist der Bau des neuen Kammergebäudes an der D.-Martin-Luther-Straße in Regensburg, in zentraler Lage unweit des Bahnhofs. Mit Rückendeckung durch die Vollversammlung hatte der Vorstand den im September 1951 begonnenen, mehr als eine halbe Million DM teuren Bau u.a. durch Spenden und Darlehen sowie eine Sonderumlage der Unternehmen finanziert, zu diesem Zweck unzählige „Bettelbriefe“ geschrieben und bei der Oberfinanzdirektion Nürnberg erwirkt, dass die Betriebe die Sonderumlage als Betriebsausgaben geltend machen konnten.
Seltmann bei Grundsteinlegung
Seltmann bei Grundsteinlegung für den Neubau der IHK (Foto: Ernst Berger)
Kein Geringerer als Dr. Konrad Adenauer, der Bundeskanzler, war zur offiziellen Einweihung des Gebäudes am 22. Februar 1953 eingeladen worden und hatte zur Freude der Kammer sein Kommen angekündigt. „Wir hatten ihn gebeten, bei dieser Gelegenheit zu den brennenden Fragen des wirtschaftlichen Notstandes im ostbayerischen Grenzraum Stellung zu nehmen“, schrieb Brenneisen an einen IHK-Kollegen in Baden-Württemberg. „Leider musste der Besuch im letzten Augenblick abgesagt werden, da der Kanzler damals erkrankte. Er ließ uns jedoch wissen, dass er die feste Absicht habe, den Besuch nachzuholen. Die Kammer verzichtete auf die offizielle Einweihung des Kammerhauses und bat erneut Herrn Dr. Adenauer, gelegentlich seiner Wahlkampfreise zur ostbayerischen Wirtschaft zu sprechen. Wir erhielten prompt die Zusage und hatten somit die Freude, ihn am 12. August 1953 etwa 2 Stunden bei uns zu haben.“
Der Bundeskanzler reiste also aus Bonn am mythenumwobenen „Vater Rhein“ zum „Stiefkind“ Regensburg an der „Mama Donau“, um der Industrie- und Handelskammer im Osten des Landes seine Ehre zu erweisen – ein großer Tag, der gebührend und festlich zu begehen war. In einem Umlaufschreiben stimmte Hauptgeschäftsführer Prof. Dr. Brenneisen die Angestellten der Kammer entsprechend ein: „Betrifft: Kanzlerbesuch / Ich bitte die Damen und Herren des Kammerbüros, morgen in würdigster Form die Kammer zu repräsentieren. Bei der Anfahrt des Bundeskanzlers bitte ich, wenn nicht noch eine andere Anweisung folgt, in den Bürozimmern zu bleiben und den Fenstern so weit fernzubleiben, daß man von außen nicht zu sehen ist. (…) Nach der eigentlichen Feier, wenn die Musik das Schlußstück spielt, bitte ich, in möglichst zwangloser Form an der Außentreppe im Vorgarten bzw. auf dem Plattenweg den Bundeskanzler abzuwarten, um ihm einen freundlichen Abschied zu bereiten (Händeklatschen, auf Wiedersehen rufen!).“
Adenauer kam, sah und siegte – wie im Flug eroberte er die Herzen aller, überdies zeigten sich die Teilnehmer der Veranstaltung beeindruckt von der Aufgeschlossenheit des Kanzlers den vorgetragenen Problemen gegenüber. Präsident Seltmann hatte den Bundeskanzler zuvor über die wirtschaftliche Lage in den ostbayerischen Kammergebieten informiert – und Konrad Adenauer flocht die genannten Zahlen und Themen gekonnt in seine Rede ein. „Ich muss Ihnen sagen, seit langem schon habe ich gegenüber allen Grenzgebieten am Eisernen Vorhang eine gewisse Sorge, die Sorge, was soll da werden, was kann der Bund tun, damit dort stabile wirtschaftliche Verhältnisse entstehen. Die Abtrennung von Ihren bisherigen Grundlagen …, von Ihren Rohstoffen, von Ihren Absatzgebieten, von den Brennstoffgebieten, bringt natürlich eine größere Höhe der Produktionskosten mit sich, und wir müssen sehen, daß wir Sie wieder wettbewerbsfähig mit den anderen machen. Daß wir das ganze Grenzgebiet, den Streifen am Eisernen Vorhang, an das allgemeine Verkehrsnetz enger anschließen müssen, das scheint mir eine absolute Notwendigkeit zu sein und Sie können davon überzeugt sein, daß was ich kann, ich dafür tun werde, damit auch wirklich diese Aufgaben gelöst werden.“
Abschied BK Adenauer 12.08.1953
Konrad Adenauer bei der IHK in Regensburg (Foto: Hammon)
Adenauer äußerte sich zuversichtlich, dass die „Europäisierung der Wirtschaft“, die Seltmann ebenfalls thematisiert hatte, früher oder später kommen werde – mit niedrigeren Zollschranken und verbessertem Austausch unter den europäischen Ländern. Tatsächlich wurde nur dreieinhalb Jahre später am 25. März 1957 in Rom die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft gegründet – Vorläuferin der EG und später der EU –, der die Benelux-Staaten, Frankreich, Italien und die Bundesrepublik beitraten. In seinem sehr informativen, klugen und lesenswerten Aufsatz „An der Schwelle des Gemeinsamen Marktes“, einem Sonderdruck zum IHK-Jahresbericht 1956/57, schreibt Hauptgeschäftsführer Dr. Brenneisen über die Sorge Ostbayerns, dass sich die Randlage nun noch weiter verschärfen und das ins Abseits geratene Gebiet vor den neuen „supranationalen“ Gremien auf weniger „Verständnis für regionale Sonderinteressen“ stoßen könnte. Heute wissen wir, dass erst die Öffnung der Ostgrenzen in der Tat der ostbayerischen Wirtschaft zum heutigen Wohlstand verhalf, auch wenn der Ausbau der Verkehrswege zuvor schon einiges verbessert hatte.
„Wer jetzt schläft, wird den ewigen Schlaf schlafen!“, hatte Adenauer in seiner Rede in Rom gewarnt. Im IHK-Kammergebiet Regensburg und Oberpfalz hatten Betriebe wie Unternehmer in den folgenden Jahrzehnten ohnehin wenig Anlass, die Hände in den Schoß zu legen und sich im Wirtschaftswunder zu aalen. Auch die Mitarbeiter der IHK-Regensburg hatten alle Hände voll zu tun. Die Betreuung und Beratung der Mitgliedsfirmen in sozialpolitischen und arbeitsrechtlichen Fragen nahm viel Zeit in Anspruch, daneben vertraten IHK-Präsident Seltmann und sein Hauptgeschäftsführer Dr. Brenneisen sowie alle Mitarbeiter der Kammer die Belange der Wirtschaft mit Nachdruck und Engagement. Am 1.1.1956 trat die Einführung der Pflichtmitgliedschaft in der IHK in Kraft, was eine fest kalkulierbare Grundlage für die Finanzierung der Kammer mit ihren Kernaufgaben Interessensvertretung, berufliche Bildung und Verwaltungsaufgaben brachte. Im Dezember 1962 feierte man in der Kammer das 25-jährige Jubiläum der Prüfungsausschüsse und überreichte goldene Ehrenringe mit dem Wappen der Kramerbruderschaft von 1392 an sechzehn verdiente Lehrlingsprüfer des Kammerbezirks (darunter nur eine einzige Frau: „Fräulein Sophie Schmidt, Ausbildungsleiterin bei der Fa. Kaufhaus Merkur in Regensburg“).
Kehren wir noch einmal zu den Anfängen zurück. Werfen wir einen Blick über die Schwelle zum 20. Jahrhundert zurück ins Jahr 1896, als Wilhelm Seltmann Ende Juni das Licht der Welt erblickte. Sein Vater Christian Wilhelm Seltmann war soeben im Alter von erst sechsundzwanzig Jahren Betriebsleiter der Porzellanfabrik in Arzberg geworden. Erlernt hatte er den Beruf des Porzellandrehers, in seiner Freizeit bemalte er Porzellan. Als sein Entwurf einer Porzellanschale auf einer Ausstellung in Amerika prämiert wurde, konnte er zum Dank die Porzellanfachschule Teplitz-Schönau besuchen. 1901 gründete Christian Seltmann zusammen mit seinem älteren Bruder Johann in Vohenstrauß eine eigene Fabrik, die binnen kurzem 600 Arbeiter beschäftigte, so groß war die Nachfrage. 1910 trennten sich die Wege der beiden Brüder, als Johann den Besitz in eine Aktiengesellschaft überführen, Christian den Betrieb aber unbedingt in der Familie belassen wollte. Er gründete daraufhin in Weiden seine eigene Porzellanfabrik Christian Seltmann. Die Produktion begann mit drei Rundöfen, 1913 kamen zwei weitere dazu.
Nach dem frühen Tod des Vaters 1921 übernahm der fünfundzwanzigjährige Wilhelm die Fabrik. Zwei Jahre später heiratete er die zwanzigjährige Maria Winterling, die ursprünglich eine Karriere als Pianistin angestrebt hatte und aus der Porzellanfabrik Oscar Schaller & Co. Nachf. in Röslau, Oberfranken, stammte. Maria widmete sich künftig der frisch gegründeten Familie und half gemeinsam mit ihrer Schwiegermutter Katharina beim weiteren Ausbau der Fabrik. 1939 konnte die Familie Wilhelm Seltmann die Porzellanfabrik Krummennaab und 1940 auch noch die Porzellanfabrik Erbendorf dazukaufen.
Wie es danach weiterging, schilderte die 1903 geborene Maria Seltmann in einem Interview anlässlich ihres hundertsten Geburtstages im Jahre 2003: „Hier in Weiden habe ich den Krieg erlebt, hier mussten die Männer allesamt zum Militär. Ich kann mich gut an den Tag erinnern, als mein Mann ganz aufgeregt zu mir heraufkam und sagte: unser Modelleur ist von heute auf morgen eingezogen worden! Jetzt gehst du runter! Ich sagte, ich geh schon, ich kenne das ja von daheim. Der Betrieb lief die ganze Zeit weiter, als ob kein Krieg wäre. Ich war so verrückt danach, Formen zu entwerfen – noch heute spintisiert mir eine spezielle Form im Kopf herum, eine Kanne mit neun dazu passenden Tassen. Die Rosen an den Gefäßen wollte ich formen, nicht aufmalen. Das wäre schön gewesen.“
Nach dem Krieg wurden die Werke in Erbendorf und Krummennaab von der US-Armee requiriert und jahrelang als Kaserne für amerikanische Soldaten genutzt. Als der Betrieb erneut aufgenommen werden konnte, waren die Fabrikeinrichtungen zum Großteil zerstört oder unbrauchbar, man musste letztlich beim Nullpunkt beginnen. Wilhelm Seltmann, der denselben Unternehmergeist besaß wie schon sein Vater, ließ die Fabrik komplett modernisieren und Anfang der 1950er Jahre den ersten Tunnelofen der Branche bauen. „Der Tunnelofen war der erste Teil der Automation in der Porzellanindustrie. Inzwischen ist auch der Weidener Betrieb Seltmann gefolgt und auch das Werk Krummennaab wurde allen modernen Erfordernissen angepaßt“, schrieben die Oberpfälzer Nachrichten im Herbst 1957. Im selben Jahr kaufte Seltmann die 1794 gegründete „Königlich privilegierte Porzellanfabrik Tettau“, die älteste Porzellanfabrik in Bayern.
Im Gegensatz zu vielen anderen Branchen ging es der feinkeramischen Industrie in den Fünfziger Jahren durchweg gut. Die deutsche Porzellanindustrie war die größte in Europa und zu 90 % in Nord- und Ostbayern ansässig, allein im Kammerbezirk mit dreiundzwanzig Firmen und über zehntausend Beschäftigten. Die Auftragslage war stabil, die Exportquote lag im Schnitt bei 30 %. 13,5 % aller Industriebeschäftigten im IHK-Bezirk waren 1958 in der Porzellanindustrie tätig. In Bedrängnis kamen nur jene Betriebe, die – um es mit Adenauer zu sagen – „geschlafen“ hatten. Oder aber einfach zu spät den Mut aufbrachten, ebenfalls auf das Tunnelofen-Brennverfahren zu setzen und rationeller zu arbeiten.
Die Porzellanfabriken Christian Seltmann jedenfalls zählten zu den ersten im Bereich der Oberpfalz, die konsequent technische Neuerungen einführten. Vor allem daraus erklärt sich, dass die Seltmann-Werke profitabel wirtschafteten und sich bis heute als reines Familienunternehmen erhalten und behaupten, sprich weiter expandieren konnten. Der bislang letzte große Zukauf der Gruppe erfolgte Anfang der 1990er Jahre, als die Seltmann-Gruppe vier traditionsreiche Hersteller aus Thüringen übernahm: die „Aelteste Volkstedter Porzellanmanufaktur“ (gegr. 1762), die „Unterweißbacher Werkstätten für Porzellankunst“ (gegr. 1882) mit ihrer Kunstabteilung „Schwarzburger Werkstätten für Porzellankunst“, die Porzellanmanufaktur Scheibe-Alsbach (gegr. 1835) und die „Porzellanmanufaktur Plaue“ (gegr. 1817); die vier Werke wurden 2007 zur „Gläsernen Porzellanmanufaktur“ umgebaut, die seither in Rudolstadt/Thüringen ansässig ist. Insgesamt gesehen fertigt die Seltmann-Gruppe heute in fünf Werken mit rund achthundert Mitarbeitern Porzellan für die Bereiche Haushalt, Hotellerie und Sozialgastronomie.
Das Unternehmen also florierte – doch mit der Gesundheit des Firmenchefs ging es trotz zahlreicher Kuraufenthalte Schritt für Schritt bergab. Gut zwei Jahre nach seinem Rücktritt als Kammerpräsident verstarb Wilhelm Seltmann (im selben Jahr wie der von ihm verehrte Konrad Adenauer) am 27. September 1967: das Ende eines bewegten, erfolgreichen, genuss- und arbeitsintensiven Lebens.
Der frühe Tod Wilhelm Seltmanns veränderte natürlich auch das Leben seiner Witwe Maria. „Danach kam eine sehr bewegte Zeit“, erzählte sie rückblickend. „Was sollte ich schon machen? Also bin ich verreist. Ich war zehn Wochen in Japan. Zwei Mal zehn Wochen in den USA. Ich war in Afrika. Mit einem Bus, in dem man schlafen konnte. Manche lachen drüber, aber ich fand es gut.“
1993 vermachte die Fabrikantenwitwe anlässlich ihres neunzigsten Geburtstags fast ihr gesamtes Privatvermögen in zweifacher Millionenhöhe als Maria-Seltmann-Stiftung der Stadt Weiden. Schon zuvor hatte sie als Mäzenin der Stadt mehr als drei Millionen Euro gestiftet. Wichtigstes Element der Stiftung (die 2014 ein Grundvermögen von 11,4 Millionen € besaß) ist das 1996 eröffnete Maria-Seltmann-Haus, eine Begegnungsstätte für ältere Mitbürger. Ebenfalls 1993 schenkte Maria Seltmann dem Internationalen Keramikmuseum in Weiden eine kostbare Sammlung von 140 seltenen Objekten von chinesischem Porzellan aus der Zeit der Qing-Dynastie (1616 bis 1912); die Sammlung kann zu den üblichen Öffnungszeiten besichtigt werden. Ein Besuch des sehenswerten Museums, untergebracht im mustergültig restaurierten barocken „Waldsassener Kasten“, ist unbedingt zu empfehlen. Maria Seltmann überlebte ihren Mann um beinahe vierzig Jahre und starb erst 2005 im biblischen Alter von 102 Jahren.
Aber zurück zu Dr. Wilhelm Seltmann. Der Nachruf im Jahresbericht 1967 der IHK Regensburg würdigte den langjährigen Präsidenten als überragende Persönlichkeit: „Die Verdienste des Verstorbenen um die Bezirkswirtschaft werden unvergessen bleiben. Sie finden sichtbaren Ausdruck vor allem in einer nachhaltigen Stärkung der Wirtschaftsstruktur, in den eingeleiteten Maßnahmen zur Verbesserung der Infrastruktur, die zu einem wesentlichen Teil auf seine Initiative zurückzuführen sind und nicht zuletzt in einem würdigen Kammergebäude.“
Seltmann bei der IHK-Vollversammlung 1957
Ansprache des IHK-Präsidenten Seltmann bei der Vollversammlung 1957 (Foto: Ernst Berger)
An anderer Stelle wurden als besondere Eigenschaften Wilhelm Seltmanns die „unabdingbare Verpflichtung der Gemeinschaft gegenüber“ genannt, daneben sein Pflichtbewusstsein, seine Klarheit in Denken und Handeln, seine Schlichtheit, sein umfassendes Wissen gerühmt; auch dass er nie „dem Sog des materialistischen Denkens und damit einer egozentrischen Lebensauffassung“ erlag, hob man hervor. „Seine Arbeit hat ihn geformt.“
Und doch war „seine Arbeit“ für Wilhelm Seltmann keinesfalls ein Ein und Alles. Der Unternehmer und IHK-Präsident Seltmann mag in seiner Arbeit aufgegangen sein, aber er ging nicht darin unter. Außerdem verfügte er, wie die wenigen erhaltenen Briefe aus der Korrespondenz mit seinem Hauptgeschäftsführer zeigen, über eine gute Portion Gelassenheit und Humor. Prof. Dr. Brenneisen ließ nämlich schon von Amts wegen nicht locker und versorgte seinen Präsidenten auch im Urlaub und bei dessen häufigen Kuraufenthalten mit einer Menge Post – teils mit der Bitte um Unterzeichnung oder Beantwortung, teils mit Fragen zu kammerrelevanten Themen wie etwa der Linienführung der Autobahn zwischen Nürnberg und Regensburg, der geplanten Errichtung einer Raffinerie in Regensburg oder der Staatlichen Förderung von Industrieansiedlungen im Grenzraum.
Und Seltmann? „Verkriecht“ sich in Djerba, wie Brenneisen ihm verhalten ungehalten schrieb, weil sein Präsident nicht einmal telefonisch erreichbar war. Im Januar 1959 schickte Brenneisen ihm ein Bücherpaket nach Bad Reichenhall, mit Rückumschlag. Die Antwort notierte Seltmann handschriftlich gleich auf dem Brief: „Ich lese z.Zt. die Filserbriefe von Ludwig Thoma, ebenso lehrreich wie die Briefe der „Volkswirtschaftlichen Gesellschaft“, nur etwas humorvoller. Im übrigen will ich dem Herrn Hauptgeschäftsführer nicht vorgreifen, er muss doch seinen Präsidenten dann unterrichten, was er zu tun und zu sagen, ja auch, was er zu denken hat. Filser drückt das mit den Worten aus: ‚Du weißt es schon.’ Lieber Herr Professor, in diesem Sinne verbleibe ich Ihr Präsident – z.Zt. in dringendem Erholungsurlaub.“ 1961, Seltmann war zur Kur in Österreich, schrieb Brenneisen besorgt: „Bitte halten Sie durch, bis Sie sich wirklich gut erholt haben!“
Erst nach seinem Rücktritt als Präsident bot Seltmann seinem langjährigen Mitstreiter Brenneisen ein freundschaftlich-herzliches „Du“ an, das sich in den Briefen schon seit Jahren ankündigte und nur zwischen den Zeilen versteckte.
Quasi als Postskriptum soll an dieser Stelle noch einmal Wilhelm Seltmann im O-Ton zu Wort kommen. Aus Taormina schrieb er 1952 an Reinhold Brenneisen, der gerade eine ganze Reihe von Detailfragen bezüglich des laufenden Umbaus des Kammergebäudes an ihn gerichtet hatte: „Als einen Gruß aus der Heimat empfing ich Ihren Brief. Entschuldigen Sie, wenn ich mich kurz fasse. Zeit zum Schreiben bliebe mir genug, aber ich habe keine Lust. (…) Lassen Sie bald wieder von sich hören und seien Sie aufs herzlichste gegrüßt von Ihrem – Wilhelm Seltmann – Bitte einen Gruß an die ganze Bagage – Briefpapier ist italiano.“