Die IHK damals und heute

Wirtschaft bewegt

Der Blick in die IHK-Geschichte vergegenwärtigt, wie das Parlament der Wirtschaft dazu beigetragen hat, die Region zu verändern. Fachkräfte, Außenwirtschaft und Standortthemen beschäftigen die IHK damals wie heute.

Julia Weigl-Wagner
Die Tür steht noch offen. Allmählich füllt sich der Sitzungsraum in der IHK an der Regensburger D.-Martin-Luther-Straße. Es drängen Gesprächsfetzen auf den Flur: „Flaschenhals“, „Boomtown“, „Kapazitätsgrenze“. Da braut sich was zusammen. „Höchste Eisenbahn“, sagt jemand und eröffnet die Sitzung. Auf der Agenda des IHK-Verkehrsausschusses Ende Oktober letzten Jahres steht die Zukunft des Schienengüterverkehrs in und um Regensburg. Dazu hat der Ausschuss Experten aus Politik, Planung und Institutionen eingeladen. Vorsitzender Manfred-Jürgen Fichtl von der Spedition Fichtl in Saal stellt sie vor. Der Verfasser einer Studie rechnet im Schienengüterverkehr mit einem Wachstum von 40 Prozent bis zum Jahr 2030. Und wie soll dieser Zuwachs gemanagt werden? Das Güterverkehrszentrum im Osten der Stadt baut aus. Dort ist klar: Bei seiner Planung war es für 150.000 Ladeeinheiten pro Jahr ausgelegt, 2016 wurden dort 170.000 Container abgefertigt. Doch wenn einer handelt und die anderen nicht nachziehen, gibt es wieder Engpässe. Die Unternehmer im IHK-Verkehrsausschuss diskutieren, was sie tun können, damit sie den Zug nicht verpassen.
Die Arbeitsweise des IHK-Verkehrsausschusses ist typisch für die IHK. Vertreter mit unterschiedlichen Kompetenzen und Interessen verhandeln gemeinsam Strategien. Ein Ziel verbindet sie. Sie wollen die Wirtschaft in der Region voranbringen. Ein Unternehmen hat seinen stillgelegten Gleisanschluss reaktiviert und zieht daraus ökonomischen und ökologischen Nutzen. Doch Halt. Der Güterverkehr auf der Schiene verursacht Lärm, zum Schaden derer, die am Bahngleis leben. Experten raten: „Den Lärmschutz gleich mitplanen, um so eine höhere Akzeptanz der Bevölkerung zu erreichen.“ Umweltverträglich mobil bleiben, ist auch IHK-Prämisse, wenn Elektromobilität auf der Agenda steht wie beim Infotag „E-Mobilität in der Region“. IHK-Vizepräsident Dr. Rolf Pfeiffer ist sicher: „An der E-Mobilität kommt niemand vorbei. Sie wird eine Schlüsselrolle für Wachstum und Wohlstand spielen.“

Regensburger Luitpoldhafen mit Lagerhäusern

Kritiker werden Berater

Widerstreitende Positionen integrieren, Lösungen finden, Neues wagen im Denken und Handeln zwischen Konvention und Fortschritt, um allmählich etwas zu verbessern für die Wirtschaft in der Region. Prägte das nicht auch die Anfänge der IHK vor 175 Jahren? Was hat sich seither verändert? Wofür haben die Vertreter der Industrie- und Handelskammern gestritten? Mitte des 19. Jahrhunderts stießen Handel und die sich entwickelnde Industrie zunehmend an die Grenzen eines feudalen Systems. Der König und seine Minister führten ein rigides Regiment, alles andere als wirtschaftsfreundlich. Schutzzölle behinderten die Geschäfte der Regensburger Kaufleute, die sich in einem Handelsgremium zusammengefunden hatten. Ihre gemeinsame Vision: der freie Handel. Ein entscheidender Schritt folgte am 19. September 1842, als König Ludwig I. eine „Allerhöchste Verordnung zur Einführung von Handelskammern“ erließ. Denn Handel und Gewerbe waren zu einer nennenswerten Größe erstarkt, ihre Argumente nicht mehr wegzudiskutieren. Im königlichen Erlass war die Aufgabe der Handelskammern klar umrissen. Sie bestand darin, „die Regierung in der Förderung des Handels- und Gewerbefleißes und in der Beseitigung der ihrem Aufblühen entgegenstehenden Hindernisse durch ihren Rat und ihre Mitwirkung zu unterstützen“. Sechs Kammern sollten der Regierung fortan als Berater in Wirtschaftsangelegenheiten zur Seite stehen. Das ist heute noch IHK-Aufgabe. „Wir stehen ständig mit der Politik in Kontakt, um die Interessen der Unternehmen in der Region zu vertreten“, bemerkt Unternehmer Stefan Rödl, IHK-Vizepräsident und Vorsitzender des Gremiums Neumarkt.
Eine der neuen Kammern sollte in Regensburg entstehen, obwohl die Stadt damals nicht einmal 1.000 gewerbliche Arbeiter verzeichnete und weit hinter der industriellen Dynamik von Nürnberg oder Augsburg rangierte. Immerhin, die Zuckerfabrik hatte ihren Betrieb aufgenommen, die Bayerisch-Württembergische Donaudampfschifffahrtsgesellschaft hatte eine Maschinenfabrik samt Werft gegründet und die Verlage Manz und Pustet hatten sich hier niedergelassen. Die Regensburger Druckerei des Passauers Friedrich Pustet gehörte 1841 zu den drei größten in Bayern und der Verleger und Papierhersteller zwei Jahre später zu den Gründungsmitgliedern der „Handelskammer im Regierungsbezirk der Oberpfalz und von Regensburg“ im April 1843.
Ausschnitt der Gründungsurkunde der IHK Regensburg für Oberpfalz / Kelheim vom 7. April 1843

Weltoffen und mobil

Was waren das für Männer, die sich für die regionale Wirtschaft einsetzten, die die Zeichen der Zeit erkannten und die Stellschrauben, an denen sie drehen mussten? Einer der ersten Vorsitzenden der sich am 11. Mai 1843 im Alten Rathaus konstituierenden Handelskammer war der Großhändler Georg Heinrich Brauser. Die Kammer wurde mit je sechs Repräsentanten aus dem „Handels- und dem Fabrikantenstand“ paritätisch besetzt. Brauser, Spross einer Regensburger Kaufmannsfamilie, prägte die Geschicke der jungen Organisation 19 Jahre lang von 1844 bis 1862. Er folgte Heinrich Theodor Fabricius, einem Musikalien- und Mineralwasserhändler. Der frühere Vorsitzende des städtischen Handelsgremiums war bei der konstituierenden Sitzung der Handelskammer zum Vorsitzenden gewählt worden und hatte sein Amt ein knappes Jahr später aus Gesundheitsgründen niedergelegt. Sowohl Fabricius als auch Brauser gehörten der Regensburger Freimaurerloge „Carl zu den drei Schlüsseln“ an. Ihr Berufsstand forderte Liberalismus, Weltoffenheit und Mobilität, ihr Streben galt einer neuen wirtschaftlichen Dimension und stieß sich am feudalistischen Kleinklein in der ehemaligen Reichstadt. Ihre Briefe an den König waren gespickt mit diplomatischen Formulierungen und Argumenten für eine neue Freiheit des Handels. Die „Belebung durch das Netz der Eisenbahn“, von dem Regensburg bisher ausgeschlossen sei, war eine der Forderungen der Kammervertreter. Der Verkehrsanschluss an Böhmen, die Zugverbindung nach Prag, stand immer wieder auf der Tagesordnung. Das war für die Oberpfalz wichtig, um die Eisenhütten mit Steinkohle zu versorgen. „Was unser Verkehrsausschuss leistet, hat historische Dimension“, lautet der Kommentar des IHK- und DIHK-Vizepräsidenten Peter Esser heute.

Dauerbrenner Verkehr

Um die Lieferung von Rohstoffen und den Abtransport fertiger Produkte zu gewährleisten, traten die Vertreter der Handelskammer für den Ausbau der Donauschifffahrt ein. Fragen des Verkehrs sollten zum Dauerbrenner in den IHK-Debatten werden. Während das Schienennetz ausgebaut wurde und immer mehr Waren ihren Bestimmungsort auf der Schiene erreichten, dämmerte der 1846 eröffnete Ludwig-Donau-Main-Kanal als königliches Prestigeprojekt vor sich hin. Das Produktionsvolumen bayerischer Betriebe hatte sich selbst überholt. Die Leistungsfähigkeit der königlichen Wasserstraße kam nicht hinterher. Trotzdem erhob die Regierung dafür Gebühren und das nicht zu knapp. Immer wieder forderte die Handelskammer die Aufhebung der Kanalgebühren. Wir wissen, dass die Diskussion um den Rhein-Main-Donau-Kanal und dessen Leistungsfähigkeit noch sehr lange anhielt. Erst seit 1992 verbindet der heutige Main-Donau-Kanal Rhein und Donau, breit und tief genug für Fracht- und Kreuzfahrtschiffe. Der Verkehrsausschuss hat aus der Geschichte gelernt. Manfred-Jürgen Fichtl, der Vorsitzende des IHK-Verkehrsausschusses, weiß: „Infrastrukturprojekte gehen nicht von heute auf morgen. Der Schwung muss über viele Jahre aufrechterhalten werden. Letztendlich zählt nur die Realisierung.“ Viele Jahrzehnte nach Handelskammer-Pionier Brauser verdeutlicht Ludwig von Donle, wie eng Verkehrs- und Wirtschaftsfragen miteinander verbunden sind. Von Donle war Generaldirektor des 1913 in Regensburg gegründeten staatlichen Schifffahrtsunternehmens Bayerischer Lloyd. Der Handel zu Wasser hatte wieder an Fahrt gewonnen. Mit seiner knapp tausendköpfigen Belegschaft war der Bayerische Lloyd einer der größten Betriebe und Gewerbesteuerzahler Regensburgs. Die Wahl Ludwig von Donles zum Vorsitzenden der Handelskammer trug dieser Bedeutung Rechnung. Die regionale Wirtschaft gewann 1919 einen gebildeten, weltpolitisch versierten und diplomatischen Mann für ihre Spitzenposition. Ludwig von Donle, 1869 in Schweinfurt geboren, war als promovierter Jurist hochdotierter königlicher Beamter, zuständig für Kunst, Handels- und Zollpolitik, Völkerrecht, Schifffahrtsangelegenheiten und Handelsverträge. Nach dem Ersten Weltkrieg nahm er an den Friedensverhandlungen in Versailles teil und vertrat dort die Interessen der Deutschen Schifffahrt.
"Königliche Hauptwerkstätte" in Weiden

Gleichgeschaltet

Von Donle blieb bis zur Machtergreifung Hitlers 1933 an der Spitze der Kammer. Dann besetzte die gleichgeschaltete Regierung die Industrie- und Handelskammern nach dem Führerprinzip komplett neu. Die „unbedingt zuverlässige Zusammenarbeit der neugewählten Kammer mit der nationalen Regierung“ sollte sichergestellt werden. Neben Ludwig von Donle, dem die neuen Machthaber „nicht über den Weg trauten“, verloren der Tabakfabrikant und Liberale Heinrich Christlieb und der Verleger Martin Habbel ihr Amt. Als überzeugte NSDAP-Mitglieder wurden der Kohlengroßhändler Fritz Weidinger und ab 1935 Artur Knab, Bauunternehmer aus der Regensburger Krebsgasse, zu Präsidenten ernannt. Erst später fassten die Nationalsozialisten IHK und Handwerkskammer zur „Gauwirtschaftskammer Bayerische Ostmark“ zusammen.
Akten der IHK aus der Zeit des Nationalsozialismus sind nicht mehr vorhanden – vermutlich auch, weil eine Anweisung des Reichswirtschaftsministeriums kurz vor Kriegsende die mit der Arisierung jüdischen Vermögens befassten Stellen aufforderte, Akten zu vernichten. Der Prozess der „Entjudung“ riss schmerzhafte Lücken in das wirtschaftliche Leben in der Stadt. Vor allem in den Gründerjahren des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts waren jüdische Kaufleute in die Stadt gezogen. 1903 zählte die Regensburg 64 Geschäfte, die von Juden geführt wurden. IHK-Vizepräsidentin Karin Siegert erinnert an das Kaufhaus Schocken (heute Kaufhof), das nach der Arisierung 1938 von der Merkur AG übernommen, nach dem Krieg wieder an den jüdischen Firmengründer Salman Schocken zurückgegeben und in den 60er Jahren von Helmut Horten gekauft wurde. „Jüdische Geschäftsleute saßen auch in den Gremien und Ausschüssen der Handelskammer, handelten mitten in der Stadt und mitten in der Gesellschaft“, sagt die Inhaberin von Herrenausstatter Siegert e.K. im Regensburger Donau-Einkaufszentrum. In der Reichspogromnacht vom 9. November 1938 steckte das Nationalsozialistische Kraftfahrerkorps die Synagoge in Brand, plünderte die Geschäfte und Wohnungen von Regensburger Juden, zerstörte deren Habe und trieb sie unter Spottrufen durch die Stadt. 35 Männer wurden danach ins KZ Dachau, andere ins Gefängnis in der Augustenstraße gesperrt, um ihre Geschäfte und Betriebe in „arischen Besitz“ zu überführen oder zu liquidieren. Ab 1938 beteiligte sich auch die Handelskammer an Boykottaufrufen in Lokalzeitungen gegen jüdische Geschäfte. Dabei wurde die Kammer immer stärker in den Arisierungsprozess eingebunden, wo sie in Gutachten und Stellungnahmen den Beurteilungsspielraum häufig zu Lasten der jüdischen Verkäufer auslegte, um nationalsozialistische Konkurrenten zu bevorzugen.
Nicht nur Regensburg, die ganze Oberpfalz und Niederbayern zeigten das gleiche Bild ökonomischer und gesellschaftlicher Verwüstung. Der Zweite Weltkrieg brachte die Wirtschaft in der Region weitgehend zum Erliegen.

Vom Wirtschaftswunder keine Spur

Noch heute prüfen Nordoberpfälzer rund um den Globus mit Kennerblick Teller und Tassen, deren Form und Material ihnen bekannt vorkommen, obwohl die Porzellanindustrie in der nördlichen Oberpfalz Federn gelassen und anderen Branchen Platz gemacht hat. Bezirksgremien gab es bereits seit 1868, dennoch war Wilhelm Seltmann der erste Präsident in der Geschichte der IHK, der nicht aus Regensburg kam. Im November 1950 war der Weidner Unternehmer gewählt worden. In seiner Fabrik plante er etwa zeitgleich den ersten Tunnelofen der Branche, ein Symbol für die Automatisierung in der Porzellanindustrie. Mit einem in die Zukunft gerichteten Blick setzte er sich auch für ein neues Kammergebäude ein. Die bis dahin genutzten Räume in der Residenzstraße im Gebäude der Bayerischen Hypotheken- und Wechselbank waren zu klein und wenig repräsentativ. Modern und zukunftsorientiert stellte sich Seltmann die Arbeit der Kammer vor. Das neue Gebäude sollte repräsentieren, was anstand: Wiederaufbau und Neuorientierung in einer nach dem Krieg zerstörten und geopolitisch veränderten Region.
Die Wege Richtung Osten waren gekappt, nach Westen bestanden keine guten Verbindungen: „Das Eisenbahnnetz ist viel zu weitmaschig und wenig nach Westdeutschland ausgerichtet“, heißt es in einem Bericht aus den frühen 1950er Jahren. „Es ist durchaus nicht ungewöhnlich, dass die 150 - 200 Kilometer Bahnfahrt aus dem Bayerwald nach Regensburg einen ganzen Tag in Anspruch nehmen.“ Wieder bestimmten verkehrspolitische Themen die Arbeit der IHK. Im Namen der Wirtschaftstreibenden in der Region beklagte IHK-Präsident Wilhelm Seltmann die „Folgen der Abschnürung von den Rohstoffgrundlagen und Absatzgebieten im Norden, Osten und Südosten“. Kohle, Kaolin und Rundholz hatte die ostbayerische Industrie aus dem benachbarten Mitteldeutschland und aus Böhmen bezogen. Das war jetzt Geschichte. Noch heute, fast drei Jahrzehnte nach der Grenzöffnung, sind die Folgen zu spüren. IHK-Präsident Gerhard Witzany stellt klar: „Wie sich die Oberpfalz weiterentwickelt, hängt von den Verkehrswegen zwischen Ost und West ab.“
Firma Mayer & Reinhard
Den Unternehmen fehlte das notwendige Kapital, um zu modernisieren, ganz zu schweigen von gut qualifizierten Fachkräften bei einer Arbeitslosenquote von 25 Prozent. Die Abwanderung vieler Menschen verstärkte den „Bildungsnotstand“ in der Oberpfalz. Entsprechend niedrig war das Steueraufkommen. Man fühlte sich abgekoppelt und reaktivierte den Kanon politischer Forderungen aus den Jahrzehnten davor: Lückenschluss im Eisenbahnnetz. Noch heute geht es um die lückenlose Elektrifizierung der Bahnstrecke von Regensburg nach Hof. Fracht- und Kreditsubventionen, Senkung der Zollsätze für Heizöl und Kohle waren in den 1950er Jahren weitere IHK-Forderungen. In einer IHK-Schrift zur „Lage und Entwicklung von Handel und Industrie im Bezirk Oberpfalz-Kelheim unter Berücksichtigung der Staatshilfe“ wurden die Fakten für das Bayerische Ministerkabinett zusammengefasst: Das Einkommensteueraufkommen betrug 1955 nur 48 Prozent des Landesdurchschnitts und 34 Prozent des Bundesdurchschnitts. Die Kaufkraft lag bei 40 Prozent des bayerischen Durchschnitts. Von Wirtschaftswunder konnte keine Rede sein.

Die Wirtschaft kann das selbst

Die Einweihung des neuen Kammergebäudes an der D.-Martin-Luther-Straße war schließlich die Gelegenheit für Wilhelm Seltmann, den Bundeskanzler persönlich über die Lage im Osten der Republik zu informieren und Konrad Adenauer verstand: „Dass wir das ganze Grenzgebiet, den Streifen am Eisernen Vorhang, an das allgemeine Verkehrsnetz enger anschließen müssen, das scheint mir eine absolute Notwendigkeit zu sein und Sie können davon überzeugt sein, dass was ich kann, dafür tun werde, damit auch wirklich diese Aufgaben gelöst werden.“ Adenauer machte Hoffnung und verwies auf die „Europäisierung der Wirtschaft“, die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und Vorläuferin der EU. Doch diese Hoffnung teilten die Vertreter der IHK Regensburg nicht unbedingt. Der damalige Hauptgeschäftsführer, Agrarökonom Dr. Reinhold Brenneisen, von 1942 bis 1945 Professor an der Reichsuniversität in Posen und ab 1945 Hauptgeschäftsführer der IHK Regensburg, analysierte die Lage der Oberpfalz scharf, war Mitglied im Beirat des Bayerischen Ministerpräsidenten und befürchtete, dass sich durch einen gemeinsamen europäischen Markt die Randlage der Region noch verschärfen könnte.
IHK vertrat die Interessen der regionalen Wirtschaft nach Kräften, in politischen Debatten, juristisch und unterstützte durch sozialpolitische und arbeitsrechtliche Beratung. Kluge Volkswirte der Nachkriegsjahre arbeiteten für die Region, analysierten mit Akribie und entwickelten gemeinsam mit Unternehmern, Kommunen und staatlichen Institutionen Vorschläge zur Verbesserung der wirtschaftlichen Lage in der Oberpfalz. Schließlich erkannte die gesetzgebende Instanz der jungen Bundesrepublik, dass dieses Zusammenwirken von Wirtschaftstreibenden unter dem Dach der IHK sinnvoll war und übertrug den Wirtschaftskammern staatliche Aufgaben im Sinne der Selbstverwaltung. Am 18. Dezember 1956 trat das „Gesetz zur vorläufigen Regelung des Rechts der Industrie- und Handelskammern“ in Kraft. Es besagt, dass alle Unternehmen aus Industrie, Handel und Dienstleistungen Mitglied in der IHK sind. Als Aufgabe gibt es den IHKs mit, „das Gesamtinteresse der ihnen zugehörigen Gewerbetreibenden ihres Bezirks wahrzunehmen, für die Förderung der gewerblichen Wirtschaft zu wirken und dabei die wirtschaftlichen Interessen einzelner Gewerbezweige oder Betriebe abwägend und ausgleichend zu berücksichtigen“. „Die gesetzliche Mitgliedschaft aller gewerblichen Unternehmen ermöglicht es ihnen, das Gesamtinteresse der regionalen Wirtschaft zu formulieren und zu vertreten“, erklärt IHK-Hauptgeschäftsführer Dr. Jürgen Helmes.
Verlag Friedrich Pustet

Rohstoff Bildung

Der Sohn eines Deuerlinger Eisenbahners, Thomas Brennauer, hatte Biss. Von der Wirtschaftsaufbauschule war er an die Wirtschaftsoberrealschule in München gewechselt, um schließlich Volkswirtschaft zu studieren. Nach der Promotion und einer Begegnung mit Dr. Brenneisen wechselte der 27-Jährige als wissenschaftlicher Mitarbeiter an die IHK Regensburg. Zwölf Jahre später wurde er deren Hauptgeschäftsführer. Nach Krieg und Konsolidierung standen die 1960er Jahre im Zeichen des Neubeginns. Bildungsfragen wurden diskutiert. Die Grundsteinlegung der vierten Landesuniversität war das eine, doch bestand eine wesentliche Aufgaben der IHK in der Berufsausbildung junger Menschen, mehr noch: Die IHKs positionierten sich als Pioniere in der Weiterbildung nach der Berufsausbildung. Bereits in den 60er Jahren formulierten sie, was heute selbstverständlich ist: lebenslanges Lernen. Aus der Überzeugung heraus, dass Menschen den einmal erlernten Beruf nicht bis zu ihrer Rente ausüben, sondern sich beruflich weiterentwickeln, richteten die IHKs Berufsbildungszentren ein. Spätestens mit Einführung der EDV war die Notwendigkeit von Weiterbildung allen klar. Was unter der Ägide von Thomas Brennauer 1973 in Regensburg begann, wurde bald zur Institution mit eigener Adresse, in Bahnhofsnähe und direkt neben der IHK: Das IHK-Bildungszentrum. Millionengrab? Vision? – Manch einer wusste den Plan des Hauptgeschäftsführers nicht so recht einzuordnen. Nach zwei Jahren war die Auslastung des Gebäudes erreicht. Bis heute gehören die Weiterbildungszentren der IHKs zu den Vorbildern für viele privatwirtschaftlich geführte Institute.

Datenautobahnen

Man muss sich das vorstellen. Weiterbildungsangebote auf hohem Niveau in einer Region, in der zu Beginn der 1980er Jahre jeder siebte Oberpfälzer und jeder achte Regensburger arbeitslos waren. Vor allem besser Qualifizierte zogen in die Ballungsgebiete. „Brain Drain“ nennt man das heute. Dagegen war die Ansiedlung von BMW wirtschaftspolitisch gesehen ein Lichtblick. Brennauer hatte sich immer wieder mit standortpolitischen Fragen beschäftigt. Ja, die Region war nicht nur verkehrspolitisch abgeschnitten, auch demografisch stand sie nicht gut da. Das Weiterbildungszentrum der IHK wurde die Investition in das Fachkräftepotenzial der Region. Sprachkurse, Meisterkurse, EDV-Kurse, Bank-Englisch, Handelsfachwirt, CAD-Kurse oder „Verkaufen am Telefon“ gab es bald nicht nur in Regensburg, sondern auch in Kelheim, in Cham und in Weiden. In der nördlichen Oberpfalz kämpfte die Glas- und Porzellanindustrie gegen die Konkurrenz aus den Billiglohnländern. Viele Fabriken mussten schließen. Die Arbeitslosigkeit stieg. Mit Weiterbildung stemmte sich die IHK gegen die Krise in der Region. Speziell in Weiden kam 1988 der Industriemeister Keramik dazu, damit gelernte Porzelliner weiterqualifiziert werden und in den wenigen verbleibenden Fabriken Arbeit finden konnten. Umschulung war ein weiteres Thema. Und weil die Grenzöffnung nur noch eine Frage der Zeit war, wurde das Seminar „Erfolgreiche Geschäfte mit den Ostblockländern“ der Renner.
EDV sollte sich als Schlüssel für den Strukturwandel in der nördlichen Oberpfalz erweisen. Die EDV-Schulen in Wiesau bilden seit den 90er Jahren Informatiker und IT-Spezialisten aus. „Ob bei der IHK, an einer Schule oder einem privatem Institut, Weiterbildung ist extrem wichtig. Ohne sie wäre etwa die IT-Branche in der Region bei weitem nicht so stark“, erklärt Bernd Fürbringer, Vorsitzender des IHK-Gremiums Nordoberpfalz. Beispiele dafür sind Witron als Spezialist für Lagerlogistik oder SITLog, eine Firma, die sich auf die Steuerung von Materialfluss und Lagerverwaltung spezialisiert hat. Wer das braucht? Mit Intralogistik hat auch Witt Weiden, seit über hundert Jahren im Geschäft, den Versandhandel automatisiert und internationalisiert. Christian Hausner, Juniorchef von SITLog, lobt die gute Breitbandversorgung im Industriegebiet in Altenstadt. Datenautobahnen seien heute so wichtig wie analoge Verkehrswege.

Wirtschaftsförderung durch Grenzöffnung

Was für die Nordoberpfälzer die EDV, war für die Betriebe im Osten des IHK-Bezirks der Fall des Eisernen Vorhangs. „Die Grenzöffnung war für den Landkreis Cham, wenn nicht für den gesamten IHK-Bezirk die beste Wirtschaftsförderungsmaßnahme des 20. Jahrhunderts“, sagt der IHK-Vize und Vorsitzende des IHK-Gremiums Cham Dr. Alois Plößl.
Für die Unternehmen im IHK-Bezirk eröffneten sich neue Geschäftschancen. Mit der ehemaligen Tschechoslowakei teilte die Oberpfalz immerhin über 200 Kilometer Grenze. Der Chamer Josef Kappenberger hatte sich gemeinsam mit seinem Kompagnon Michael Braun seit den 60er Jahren auf den Handel mit Radio- und Fernsehapparaten spezialisiert. Ein gutes Geschäft, denn Rundfunkanstalten und Fernsehsender brachten zumindest die neuesten Nachrichten in die verkehrsmäßig an den Rand gedrängte Region, die bis in die 80er Jahre mit einer Arbeitslosenquote von bis zu 30 Prozent kämpfte. Um seinen Absatz zu steigern, schlossen sich Kappenberger und Braun, kurz K+B, der Fachhandelskooperation Expert an. In Niederbayern gründeten sie weitere Niederlassungen und als die Grenze aufging, knüpften die Partner Kontakte nach Prag und nach Bratislava, offizielle und inoffizielle. Fachkollegen, Wirtschaftsvertreter und Presseleute versorgten die Chamer mit Informationen. Bei der Eröffnung der Prager Niederlassungen standen die Leute Schlange. Sogar Vaclav Havel bestellte bei K+B eine Sony-Stereo-Anlage. Die Nachfrage der Tschechen bescherte K+B 1990 ein Umsatzplus von 100 Prozent. Kappenberger und Braun gehören zu den Pionieren des ostbayerisch-westböhmischen Wirtschaftsraums. Seit 2008 unterhält die IHK ein Büro in Pilsen, um wirtschaftliche Zusammenarbeit und nachbarschaftliches Miteinander aktiv mit zu gestalten. Dabei setzt die IHK wieder auf die Ausbildung von Fachkräften. Seit kurzem gibt es für tschechische Jugendliche die Möglichkeit, Berufsausbildungen in einem dualen Modell zu absolvieren.

Geschichte einer Adresse

Geschichte IHK Gebäude
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ließ sich der Regensburger Privatier, Seifensieder und Brauereibesitzer Johannes Gschwendtner an der Klarenangerstraße – so hieß die D.-Martin-Luther-Straße bis 1933 – eine spätklassizistische Villa bauen. Er beauftragte damit den Architekten Heinrich von Hügel, der unter anderem den Regensburger Bahnhof, das Theater in Franzensbad und das Casino von Bad Kissingen geplant hatte. Die spätklassizistische Villa mit Mittelrisalit über zwei Geschosse machte Eindruck, in Regensburg, auf der Internationalen Kunstausstellung in München 1869 und in der Zeitschrift des Bayerischen Architekten und Ingenieur-Vereins. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts erwarben Salomon und Babette Schwarzhaupt das Anwesen als Wohnung für ihre Familie. Die Schwarzhaupts hatten Geschmack. Etwa zeitgleich hatte der Regensburger Architekt Joseph Koch für das Paar deren sehr modernes Kaufhaus am Watmarkt/Ecke Goliathstraße geplant.
Modern war auch die Lebensweise der jüdischen Kaufleute, die Wohn- und Geschäftshaus trennten. Das war damals nicht selbstverständlich. Nach 1933 fielen die Geschäftsleute den „Arisierungsstrategien“ der Nationalsozialisten zum Opfer. Die NSDAP-Parteiführer sahen die repräsentative Villa als ideale „Parteiburg mit Aufmarschplatz“. 1935, bereits drei Jahre vor der Reichspogromnacht, wurde sie zwangsarisiert. Unter Druck verkauften die Schwarzhaupts ihre Villa für 61.500 Reichsmark. Im so genannten braunen Haus richteten sich die Gauleitung Bayerische Ostmark, die Gauinspektion Süd, die NSDAP-Kreisleitung und mehreren NSDAP-Ortsgruppen von der Deutschen Arbeiterschaft bis zur Kreisbauernschaft ein. Die Schwarzhaupt-Villa blieb bis Kriegsende Zentrale der NS-Gauleitung. Bei Kriegsende am 23. April 1945 wurde dort Michael Lottner erschossen. Er war auf einer Kundgebung für die kampflose Übergabe der Stadt verhaftet worden.
Das „Militärregierungsgesetz Nr. 59“ der Amerikaner bestimmte über die „Rückerstattung von Vermögensgegenständen an Personen, denen sie aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Weltanschauung oder Gegnerschaft gegen den Nationalsozialismus entzogen worden sind“. Die Länder zogen nach und verabschiedeten 1949 das „Gesetz zur Widergutmachung nationalsozialistischen Unrechts“. Auf dieser Grundlage wurde die Schwarzhaupt-Villa 1951 an Babette Schwarzhaupt in Buenos Aires zurückgeführt. Über einen Treuhänder kaufte die IHK die Villa im April 1951 für 120.000 DM, um sie in ein „modernes und zweckmäßiges Arbeitsgebäude“ umzubauen – nicht so einfach und nicht sofort.
Die Außenstelle des Landesamts für Vermögensverwaltung und Wiedergutmachung und das Flüchtlingsamt waren in der Villa untergebracht. Gegen die Kündigung legten die Ämter Widerspruch ein, ebenso der Hausmeister – ein Flüchtling aus Brünn – und ein Nachbar. 1952 wurde Jakob Oberberger, Regensburger Architekt und Bausachverständiger, der eine lange
Liste privater und öffentlicher Bauten in der Region vorweisen konnte, mit dem Bau des neuen IHK-Gebäudes beauftragt. Es wurde tatsächlich ein Neubau. Von der spätklassizistischen Villa blieb kaum etwas übrig. Weder mit dem spätklassizistischen Bau des Architekten Heinrich von Hügel noch mit der darunter verlaufenden Römermauer gingen die Bauherren zimperlich um. Die Denkmalpflege kam zu spät. „Ein immerhin vollständiges Haus ist abgetragen worden“, bemerkte der Kolumnist „Irion“ in der Regensburger „Woche“ im Juli 1952.
Doch der Präsident war begeistert. Bei der Eröffnung 1953 dankte Wilhelm Seltmann allen am Bau Beteiligten. Besonders repräsentativ war der Saal für 120 Personen, für den Bühnenbildner Jo Lindinger eine Fototapete mit dem Merian-Kupferstich von Regensburg (1644) anfertigen hat lassen. Seinen Kollegen in der ganzen Republik stellte Architekt Oberberger das neue und modern eingerichtete IHKGebäude in den „Nachrichten der deutschen Linoleum-Werke A.-G.“ von 1954 vor und ergriff dabei gleich die Gelegenheit, sie über die IHK als Institution in der jungen Bundesrepublik zu informieren. Sein Text beginnt mit den Worten: „Die Industrie und Handelskammern sind Institutionen, die dazu berufen sind, der gewerblichen Wirtschaft eines ganzen Bezirks mit Ausnahme des Handwerks als Ganzes zu dienen.“
2008 wurde der jüngste Umbau der IHK und der Anbau des gläsernen Servicecenters durch das Architekturbüro Peithner abgeschlossen. Dieses Mal erfuhren die Römermauer und die darauf sitzende mittelalterliche Stadtmauer an der Nordwestecke des IHK-Gebäudes eine ausgesprochen pflegliche Behandlung und sind heute ein Markenzeichen des Hauses. Nach Sitzungen der Gremien, Ausschüsse oder der Vollversammlung ist der so genannte Römerhof der IHK beliebter Treffpunkt zum Netzwerken.


Bildquellen:
Die historischen Aufnahmen auf den nächsten Seiten stammen aus
Handelskammer Regensburg (Hrsg.): Die Industrie der Oberpfalz in Wort und Bild, Verlag Habbel, Regensburg 1914.
Die Gründungsurkunde der IHK Regensburg für Oberpfalz / Kelheim vom 7. April 1843 befindet sich im Hauptstaatsarchiv München.