Ostbayern und Westböhmen begegnen sich
Heute, eine Generation später, ist es schon Geschichte: 1989, das war das Jahr der unerwarteten Umbrüche und tiefgreifendsten Umwälzungen: politisch, wirtschaftlich, sozial, kulturell. Das Jahr, in dem die mitten durch Deutschland und Osteuropa verlaufende stacheldrahtbewehrte Grenze zwischen den beiden großen Machtblöcken sich öffnete, nicht als Resultat von Waffengewalt, sondern dank der Entspannungspolitik des russischen Präsidenten Michael Gorbatschow. Der sogenannte Eiserne Vorhang verschwand, die Berliner Mauer zerbrach, die Menschen aus den seit 1945 von sozialistischen Einheitsparteien geprägten Ostblockländern strömten gen Westen – besuchshalber, vorübergehend, für immer. Was im Herbst 1989 geschah, hätte so gut wie keiner von uns, die wir im Kalten Krieg aufwuchsen, jemals für möglich gehalten. Da passierte es, quasi vor der eigenen Haustür, Zeitgeschichte live: zum Anfassen, zum Selbsterleben, zum Mitgestalten. Einer der seltenen Augenblicke, in denen Utopie Wirklichkeit wird. Als hätte eine unsichtbare Tür in Zeit und Raum sich geöffnet.
Es gab schon immer Menschen mit einer Art siebtem Sinn, die im voraus spüren, dass etwas in der Luft liegt. Eine größere Veränderung. Wie ein Sturm. Menschen, die dann nicht die Beine in die Hand nehmen und Schutz suchen, sondern im Gegenteil: ihre Chance wittern und die Segel setzen. Der 2010 verstorbene Chamer Unternehmer Josef Kappenberger gehörte zu diesen Menschen mit Weitblick, Mut und feinem Gespür für Veränderungen. Aufgewachsen in der östlichen Oberpfalz, nur zwanzig Kilometer von der Grenze zu Westböhmen entfernt, kannte er sich aus mit Land und Leuten, mit dem Oberpfälzer Wald wie mit dem Böhmischen Wind, dem alle Grenzen schon immer einerlei sind.
Im Juli 1960 hatte Josef Kappenberger nach einer kaufmännischen und elektrotechnischen Ausbildung gemeinsam mit Michael Braun in Cham den Elektro-, Radio- und Fernseheinzelhandel Kappenberger + Braun eröffnet, kurz K+B genannt. In dem kleinen Laden in der Rosenstraße arbeiteten anfangs sechs Mitarbeiter, fünf Jahre später waren es zwölf. Entwicklungen gingen weniger rasant vonstatten als heutzutage. In jenen Jahren hielt das Fernsehen seinen triumphalen Einzug in die bundesdeutschen Haushalte, einfache Weltempfänger-Radioapparate wurden durch ausladende Stereoanlagen ersetzt. Man wollte dabei sein, bei der Beerdigung Konrad Adenauers ebenso wie bei der Mondlandung – zumal in dieser abgelegensten Ecke Bayerns am äußersten Rand der westlichen Welt, wo es nach wenigen Kilometern am Grenzstreifen nicht mehr weiterging. Bei K+B liefen die Geschäfte daher gut. Der Laden erweiterte die Verkaufsfläche, stellte mehr Mitarbeiter ein und zog von der Rosenstraße an den Steinmarkt. Josef Kappenberger schloss sich 1972 der bundesweiten Fachhandelskooperation expert an und baute eine neue Betriebsanlage mit Lager, Werkstatt und Bürogebäude in Cham Janahof. In den achtziger Jahren kamen im niederbayerischen Regen und in Neufahrn bei Freising Niederlassungen hinzu.
Im Verlauf von knapp dreißig Jahren hatte sich bis 1989 aus dem bescheidenen Radio-Fernseh-Geschäft von nebenan ein mittelständisches Unternehmen entwickelt, mit über vierhundert Mitarbeitern in den beiden Hauptbereichen Einzelhandel in Fachmärkten sowie Elektrotechnik mit Montage und Installation von Elektroanlagen und Haustechnik. K+B war also, wie es heute im Wirtschaftsjargon heißen würde, gut aufgestellt. Doch nicht zufällig lautete Josef Kappenbergers Leitspruch, den er auch an seine Kinder weitergab: „Stillstand ist Rückschritt“. Sein Blick ging weiter, über das Erreichte und die Baumwipfel des Böhmerwaldes hinaus, frei nach dem Motto: Go East!
Sein Vater habe das damals kommen sehen, sagt sein Sohn und Nachfolger Josef Ludwig Kappenberger, der gemeinsam mit seinem Bruder Thomas seit 2006 das operative Geschäft leitet. „Nur dass alles so rasant ging, das konnte keiner wissen. Aber man hat gemerkt, wie sich das Land geöffnet hat. Wir fuhren zu Messen in Bratislava, man konnte plötzlich teilnehmen, wo zwei Jahre vorher noch der Riegel vorgeschoben war.“
Schon Anfang 1989, ein halbes Jahr vor Öffnung der Grenzen, knüpfte K+B erste Geschäftskontakte in die damalige Tschechoslowakei. Zarte Pflänzchen, man wusste nicht, was kommt, was möglich ist und was nicht, aber die Neugier war groß. „Das war eine andere Welt“, erzählt der Sohn des Firmengründers rückblickend. Ohne eine „genaue Vorstellung davon zu haben, wie sich alles entwickeln würde“, vereinbarte sein Vater für die letzten Märztage 1989 eine Reihe von Terminen und machte sich 'unternehmenslustig' auf den Weg nach Prag, gemeinsam mit einer Dolmetscherin und einem leitenden Mitarbeiter der Firma.
Gesprächspartner waren Vertreter der LPGs Orion und Komorno, große landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften mit einer Lizenz für Außenhandel, außerdem Pressevertreter, Ingenieure eines Joint-Venture-Betriebs, Mitarbeiter des Otto-Versand-Büros in Prag, zukünftige Mitarbeiter von K+B sowie diverse Leute mit guten Kontakten. Man traf sich im Hotel Intercontinental: in der Hotelhalle, im Café, in der Brasserie, im Restaurant. Die Besprechungsprotokolle dieser ersten Begegnungen machen einerseits deutlich, wie gut Josef Kappenberger diesen Schritt vorbereitet hatte und wie wichtig es andererseits war, an die jeweils richtigen Kontakte heranzukommen. Da brauchte es das berühmte gewisse Händchen, denn alles ging Hand in Hand, das Offizielle und Inoffizielle, das Geben und das Nehmen auch von vielversprechenden Informationen unter der Hand: etwa dass die CSSR-Bürger ca. 140 Millionen DM im Sparstrumpf hätten und dass Devisen im Besitz von Privatpersonen demnächst offiziell zugelassen werden sollten. Gut zu wissen. Der künftige Markt zeichnete sich unter solchen Rahmenbedingungen schon deutlich ab, eine Riesennachfrage und entsprechende Umsätze waren zu erwarten – das Angebot zur Nachfrage würde K+B liefern.
Dafür brauchte das Unternehmen zunächst einen Partner, der die importierte Ware, vor allem Unterhaltungselektronik und Haushaltsgeräte, gegen Devisen (DM oder Dollar) in der CSSR verkaufen durfte: die staatliche Außenhandelsorganisation Tuzex, deren Aufgabe es war, für ausländische Firmen in der Tschechoslowakei Geschäfte zu vermitteln. Die kurzfristig anberaumten Gespräche führten zu einem Ergebnis, das langfristig großen Gewinn abwerfen sollte: im Mai 1989 unterzeichneten Tuzex und K+B einen Vertrag über ihre künftige Zusammenarbeit. Damit hatten die rührigen Chamer jenseits der Grenze einen verlässlichen, staatlich autorisierten Partner, über den Warenverkauf, Werbung und Zahlungen abgewickelt werden konnten. Punkt 13 in dem gemeinsamen Abkommen spricht Bände über das so sympathisch wie altmodisch wirkende Herangehen an diese Kooperation: „Streitfälle“, steht dort, „lösen die Vertragsparteien vor allem auf freundschaftlichem Wege.“ Ein Vertrag quasi per Handschlag und auf Vertrauensbasis. Und das zwischen Partnern in zwei Ländern, die jahrzehntelang in einem überaus frostigen kalten Krieg zueinander standen – jetzt machte man einen Riesenschritt aufeinander zu.
An diesen ersten Tagen in Prag wurden die Weichen gestellt für die künftige Expansion von K+B in Tschechien, später auch in Slowakien. Eins kam zum anderen. Der bei dem ersten Treffen anwesende Journalist einer überregionalen tschechischen Zeitung zeigte sich interessiert, über die Begegnung zu schreiben und wurde für fünf Tage nach Cham eingeladen, um sich vor Ort ein Bild von dem Unternehmen zu machen. Ein Student würde die künftige Service-Abwicklung in Prag übernehmen, Prospekte und Preislisten verteilen und in den Semesterferien in Cham eingearbeitet werden. Mit ins sprichwörtliche Boot geholt wurde auch ein angehender Maschinenbau-Ingenieur aus Pilsen für vier breitgefächerte Aufgabenbereiche: Werbung für K+B-Produkte in Pilsen und Umgebung; Computerverkauf an Privatpersonen und Betriebe; Aufbau einer Service-Station für Reparaturen; Verkauf und Montage von SAT-Anlagen. Bei einem Besuch bei der Firma Otto-Versand in Prag wurde vereinbart, künftig auch K+B-Produkte im Otto-Shop in Prag anzubieten; außerdem erhielt Josef Kappenberger dort wesentliche Informationen, wie die Abwicklung der Geschäfte in der CSSR erfahrungsgemäß lief.
So setzte sich das Projekt Expansion gen Osten nach und nach zusammen. Doch was auf den ersten Blick wie ein teils zufälliges Zusammenfügen von Puzzleteilen wirkt, erscheint im Rückblick wie ein weitsichtig vorbereiteter und durchdachter Plan. Die Wahrheit wird, wie so oft, irgendwo in der Mitte liegen. Und die Pioniere von K+B, Josef Kappenberger und Michael Braun, waren zu richtigen Zeit am richtigen Ort. In einem MZ-Interview anlässlich seines 80. Geburtstags sagte Michael Braun: „Viele historische Entscheidungen passierten aus dem Bauch heraus. Das wurde aber nicht zugegeben, damit niemand sagen konnte: Die hatten bloß Glück.“
Konkret lief die Zusammenarbeit so ab: Tuzex schickte Sammelbestellungen nach Cham, K+B lieferte einmal wöchentlich. Von Cham und Regen aus fuhren die betriebseigenen LKWs über die Grenze Folmava oder Zelezná Ruda nach Prag, im Laderaum stapelten sich die zuvor via Katalog bei Tuzex bestellten Fernseher, Videogeräte, HiFi-Anlagen, Haushaltsgeräte, Satellitenanlagen u.v.m. Weil sich die Lieferungen auch aufgrund von Zollformalitäten und Bearbeitung im Schneckentempo teils bis zu drei Monaten hinzogen, begann K+B ab 1990, Musterwaren in größerer Menge vorab in ein Zollfrei-Lager von Tuzex in der Nähe von Prag zu liefern.
Im Herbst 1990 tat man den nächsten Siebenmeilenschritt nach vorn: In Prag wurden, immer in Zusammenarbeit mit Tuzex, zwei Verkaufsstellen eröffnet, eine davon im ehemaligen KP-Versammlungsraum der staatlichen Omnibus- und Speditionsfirma. Die Verkaufsstellen von K+B waren nach modernsten westlichen Standards eingerichtet, das Personal für die fachliche Beratung wurde vorher in Cham zu den Themen Kundenpsychologie, Gesprächsführung, Beratung, Verkaufssignale etc. geschult. Bei der Eröffnung der beiden Läden im November 1990 standen die Leute Schlange und griffen dann tief in den berühmten Sparstrumpf, denn die Preise, die in D-Mark bezahlt werden mussten, waren beachtlich: „Die Auswahl ist groß, es gibt z.B. sieben verschiedene Stereoanlagen unterschiedlicher Hersteller schon von 290 DM aufwärts …“, heißt es in einem tschechischen Pressebericht, und: „als große Neuheit gilt der Rasierer für Damen (98 Mark).“
Wie waren die tschechischen Kunden auf das Geschäft und die Neueröffnung aufmerksam geworden? K+B hatte mit dem A & O begonnen und von Anfang an auf eine gezielte Werbekampagne gesetzt, die landesweit für ein positives Image der Firma aus dem Westen sorgte: sei es durch eine Anzeigenserie in der Tageszeitung Mladá Fronta mit einer Auflage von 350.000 Exemplaren, durch riesige Werbebanner an Autobahnbrücken, in Fußballstadien und bei Radrennen, durch Buswerbung auf 150 Linien- und Stadtbussen des Staatsbetriebes CSAD Klicov in Prag, durch Vitrinenwerbung auf dem Wenzelsplatz, das Auslegen von Handzetteln bei Messen oder das Schalten von Fernsehspots für alle angebotenen Warensegmente im 1. und 3. Fernsehprogramm. Dem Ideenreichtum waren keine Grenzen gesetzt: in der beliebten Sendung „Video-Stop“ gab es Gewinne aus dem Sortiment des Chamer Unternehmens; jedes Jahr spendete K+B einen Sachpreis für das Sommertennisturnier, im Gegenzug wurde ein Werbespannband auf den Tennisplätzen der ersten Liga aufgehängt. K+B war wie im Handumdrehen einfach überall in Tschechien vertreten.

Das mag für all jene, die in einer kapitalistischen Marktwirtschaft westlichen Zuschnitts und mit flächendeckender Werbung aufgewachsen sind, nicht außergewöhnlich wirken. Aber wie in den meisten kommunistischen Ländern war auch in der CSSR Warenwerbung im Straßenbild und im Alltag eher ein Fremdkörper und dort, wo sie ab 1989/90 auftauchte, entsprechend augenfällig. K+B – das merkte man sich. K+B – das wurde nachgefragt. Auch Václav Havel, der erste demokratisch gewählte Präsident der CSFR nach der „Samt-Revolution“, erstand im Sommer 1991 bei K+B eine Sony-Stereo-Anlage und einen Videorecorder, die durch K+B Techniker in seiner Wohnung installiert wurden.
Im Verlauf von nur zwei Jahren verwandelte sich die CSSR in die föderative demokratische Republik CSFR und ebnete auch gesetzlich den Weg für die freie Marktwirtschaft. Im Zuge der Privatisierungen kam Ende 1991 auch das Ende der altvertrauten Tuzex-Verkaufsstellen – K+B übernahm die Standorte, gestaltete sie nach dem Corporate-Design der expert-Gruppe und begann mit dem Verkauf gegen Landeswährung. 1991 wurde in Pilsen die Tochterfirma Kappenberger + Braun Elektro-Technik s.r.o. gegründet, 1995 die Einkaufskooperation expert CR s.r.o., die 20 Gesellschafter und 35 Geschäfte in Tschechien umfasste – Gesamtverkaufsfläche: 445.000 qm. Das Unternehmen baute in den 1990er Jahren ein eigenes Händlernetz für Groß- und Einzelhandel auf und eröffnete fast wie am laufenden Band weitere K+B Elektromärkte und Servicestellen, u.a. in Prag, Bratislava, Kosice, Pilsen, Holysov. Nötige Ersatzteile wurden aus Cham und Regen geliefert, tschechische Techniker vor Ort eingestellt und in Ostbayern mit Chamer K+B-Know-How geschult. Eine Zentrale für K+B in Tschechien entstand 1998 in Prag. Die Zahl der bei K+B in Tschechien Beschäftigten stieg von anfangs 15 Mitarbeitern bis Ende 1991 auf 120 und 2014 auf 580 Mitarbeiter; auch die Führungspositionen waren und sind bis auf eine einzige Ausnahme in tschechischer Hand.
Ein Blick zurück über die Grenze in die Oberpfalz und den Bayerischen Wald zeigt: Das Geschäft von Kappenberger + Braun boomte natürlich zu beiden Seiten der Grenze. Die riesige Konsumnachfrage der Tschechen bescherte K+P im Jahr 1990 einen Umsatzsprung von 100 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Geschäftsführer Neumeier, der auch bei den ersten Verhandlungen in Prag vor Ort dabei war, erinnert sich noch an die Anfangszeiten nach der Grenzöffnung, als Fernseher und Kassettenrekorder in Cham direkt vom Laster an die neuen Kunden von jenseits der Grenze verkauft wurden, weil der Andrang so gewaltig war.
„Das ist uns zugute gekommen, dass die Tschechen ein Informationsbedürfnis hatten und dass Fernsehen und Radio, Satellitentechnik im Fokus standen“, sagt auch Josef Ludwig Kappenberger. Der Bedarf an SAT-Anlagen für Ein- und Ausblicke in die westliche Welt via TV, und zwar auf neuestem Standard, war enorm. Vor allem in der grenznahen Region hatte K+B daher schon 1989 mit dem Verteilen von Werbehandzetteln in tschechischer Sprache begonnen – die Wege nach Cham und Regen waren kurz, oftmals kürzer als nach Prag. K+B stellte tschechisch sprechende Verkäufer ein; eine neue tschechische Mitarbeiterin, Chefin der Agentur OLMA, organisierte Buseinkaufsfahrten nach Cham und Regen. Die Kunden erhielten ein Infoblatt, das alle nötigen Details zum mehrwertsteuerfreien Kauf der Ware, sprich zu 14 % Rabatt, enthielt. K+B sorgte dafür, dass auch für nicht ganz so pralle Geldbeutel qualitativ gute Niedrigpreisware angeboten wurde.

„Ostbayern und Westböhmen könnten einen guten Klang ergeben im europäischen Konzert“, verhieß Landrat Ernst Girmindl in Pilsen im Mai 1990 anlässlich der Eröffnung der Messe „Schaufenster Ostbayern“, zu der über 85.000 Besucher kamen. Das Augenmerk galt in jenen Umbruchsjahren außer Unterhaltungselektronik vor allem Kinderwagen, Nähmaschinen und Gebrauchtwagen. Westliche Unternehmen standen bald in den Startlöchern. „Ostbayerns Wirtschaftsbosse“ wollten, wie es in einem Zeitungsbericht hieß, an sich zwar liebend gerne Handelskontakte mit Unternehmen in der CSFR aufnehmen, nur war die Gesetzeslage noch zu unklar, speziell die Frage nach dem Transfer der Gewinne oder dem Erwerb von Grundstücken noch völlig ungeklärt. „Alles fließt noch“, wie IHK-Vizepräsident Andreas Gedeon bei einem Podiumsgespräch im Chamer Kolpinghaus die Übergangsproblematik behutsam umschrieb. Es gebe fraglos „gute Chancen“ für wirtschaftliche Kontakte, auch seien einige Hürden auf dem Weg zur sozialen Marktwirtschaft bereits überwunden. Wünschenswert für Ministerien wie Firmen zu beiden Seiten der Grenzen sei, dass der „Fluss“ möglichst bald zu strömen begänne – am liebsten in beiden Richtungen gleichzeitig. Kappenberger + Braun waren zu diesem Zeitpunkt längst unterwegs.
Naturgemäß stellt sich die Frage, wie Josef Kappenberger senior und seine Mitarbeiter sich damals mit den tschechischen Nachbarn und Verhandlungspartnern verständigten, auf Deutsch oder Englisch – oder hatten sie etwa einen Schnellkurs in Tschechisch absolviert? Natürlich nicht. Extrem schwierig. Josef Ludwig Kappenberger, der Sohn des Firmengründers und heute gemeinsam mit seinem Bruder Thomas Firmenchef von K+B, lacht. „Die tschechische Sprache hat allein sieben Fälle!“ Aber zum Glück gab es auch damals vor allem nahe der Grenze, ebenso in Prag und in Pilsen viele Leute, die sehr gut Deutsch sprachen, fügt er hinzu. Einige von ihnen konnten ein wenig Englisch. Auch waren bei vielen Gesprächen Dolmetscher dabei. Dennoch war es enorm wichtig zu zeigen, dass man sich bemühte. Manchmal habe schon eine Mischung aus Gestik und Mimik gereicht, so Kappenberger, drei Wörter Englisch, drei Wörter Deutsch und tschechische Minimalkenntnisse für Begrüßungen und Bitte, Danke, Kaffee, Wasser, Bier … Man müsse den Nachbarn eben zeigen, dass der Wille und das Interesse da sind, „dass man menschlich und kulturell zusammenfindet“, sagt Josef Kappenberger junior mit Nachdruck. Go east, go west – mittlerweile hat Englisch in der Tschechischen Republik Deutsch als erste Fremdsprache vom Lehrplan verdrängt.
Eine Studie der IHK über die Chancen für Handel und Tourismus in Ostbayern und Westböhmen zeigt, dass vor allem in Sachen Willkommenskultur, Marketing und Kommunikation Handlungsbedarf besteht. Zu nennen wären u.a. zweisprachige Beschilderung am Ortseingang sowie in allen tourismusrelevanten Bereichen, Workshops zum besseren Verständnis der tschechischen Kultur, Internetauftritte der Firmen in tschechischer Sprache, eine höhere Akzeptanz der tschechischen Krone oder tschechischer Kreditkarten als Zahlungsmittel in Bayern. Alle lernen dazu, auf beiden Seiten. „Vertrauen ist unsere Währung“, sagt Richard Brunner, der Leiter der IHK-Geschäftsstelle Cham.
Fest steht: Der Wirtschaftsraum Ostbayern – Westböhmen, der 1,8 Millionen Einwohner zählt und rund eine Million Arbeitsplätze bietet, wächst Schritt für Schritt zusammen. Über 800 Unternehmen aus dem Kammerbezirk pflegen heute Geschäftsbeziehungen zum Nachbarland, etwa ein Drittel davon sogar mit eigenen Standorten. Was Produktionsprozesse, die Ausbildung von Fachkräften oder den Transfer von Know-How angeht, werden vielfach Synergien zwischen Firmensitz und Niederlassung genutzt, allerdings gehen tschechische Unternehmen seltener über die Grenze. Der Wissensstandort Pilsen, seit 1993 Partnerstadt von Regensburg, übernimmt nicht zuletzt durch die Westböhmische Universität Pilsen in der gesamten Region eine zunehmend wichtige Rolle.
Seit über zwei Jahrzehnten ist die IHK Regensburg für Oberpfalz/Kelheim im Bezirk Pilsen präsent. 2008 startete man mit einem Projektbüro im Verwaltungsgebäude von Skoda Nuclear, 2012 wurde direkt am Marktplatz von Pilsen das dortige Regionalbüro eröffnet. Als feste Niederlassung von IHK und DIHK sowie der tschechischen Wirtschaftskammer AHK dient das Regionalbüro beiden Seiten als wichtige Schnittstelle und als zentraler Anlaufpunkt für Unternehmen, Politik und Institutionen. Das Büro bietet Beratung zu Markteintritt, Fördermitteln, rechtlichen und steuerlichen Fragen, hilft bei der Kommunikation mit tschechischen Behörden und Kommunen sowie bei der Suche nach Geschäftspartnern und Lieferanten. Auch fungiert es als eine Art Scharnier zwischen Wissenschaft und Wirtschaft, gibt Impulse zur Fachkräftesicherung und bietet sich als Netzwerkplattform an. Auf Initiative der IHK wurden in Pilsen eine Vielzahl von Fachseminaren und Konferenzen abgehalten, nicht zuletzt ein grenzübergreifendes Verkehrsleitbild erarbeitet. Viele offene Fragen bestehen nach wie vor bei der gegenseitigen Anerkennung von Berufsausbildungen und Schulabschlüssen oder nicht zuletzt Arbeitsschutzbestimmungen.
Auch die IHK-Geschäftsstelle Cham ist in der Grenzregion ein wichtiger Akteur in den Bereichen Kontaktpflege, Ausbildung von Fachkräften und Sensibilisierung von Führungskräften für interkulturelles Management. Am Projekt „Gemeinsam mit Europa wachsen“, das Handelskammern von Rostock bis nach Triest vernetzte, war die IHK-Geschäftsstelle Cham federführend beteiligt. Das sogenannte „Chamer Modell“ erprobte einige Jahre lang Ausbildungsgänge im deutschen dualen System für tschechische Jugendliche, die dann mit ihrem IHK-Zertifikat in ihre Heimat zurückgingen. Das in vielerlei Hinsicht bewährte bundesdeutsche duale Ausbildungssystem sähe Josef Ludwig Kappenberger gern auch in Tschechien realisiert. Seit 1960 wurden bei K+B insgesamt über 1.100 Jugendliche in über zehn Berufen ausgebildet, viele der langjährigen Mitarbeiter haben ihre berufliche Karriere bei den Unternehmen begonnen und sind geblieben. Diese enge Bindung zum Personal sieht Josef Ludwig Kappenberger als „Garanten für den Erfolg“ und als eine der Kernkompetenzen von Kappenberger + Braun.
Auch das ehrenamtliche Engagement bei der IHK gehört für Josef Ludwig Kappenberger wie selbstverständlich zur unternehmerischen Verantwortung und Verpflichtung. Der Kammerbeitrag, über den manche Mitglieder stöhnen? „Wenn ich etwas nutzen will, dann muss ich meinen Beitrag leisten, das ist einfach so“, sagt Kappenberger nüchtern. Er ist Mitglied des IHK-Handelsausschusses, nimmt an allen Vollversammlungen der Kammer teil und fährt oft zum Erfahrungsaustausch nach Regensburg: Das sei eben Teil ihrer Unternehmenskultur, die sie als Kultur des Handelns und Kultur des Kommunizierens begreifen. In den ersten Jahren in Tschechien, so Kappenberger, sei die IHK stets mit Informationen zur Hand und gern behilflich gewesen. Umgekehrt schwärmt Richard Brunner, Leiter der IHK-Geschäftsstelle Cham, davon, wie bereitwillig und uneigennützig Josef Kappenberger senior bei Dutzenden von „Gruppenberatungen“ (sprich Unternehmerstammtischen) sein über Jahre hinweg gesammeltes Insiderwissen mit jedem teilte, der ihm eine Frage stellte.
„Er hat die Menschen gemocht“, sagen jene, die den Firmengründer, der 2010 nach kurzem Leiden verstarb, persönlich kannten. Ein Mäzen im guten alten Sinne sei er gewesen, zutiefst menschlich, voller Ideenreichtum und Engagement. Das Familienunternehmen war sein Leben. „Ich bin in der Firma mit aufgewachsen. Es hat mir immer Spaß gemacht“, so formuliert es sein Sohn. Und die nächste Generation? Da ist Josef Ludwig Kappenberger zuversichtlich: seine Kinder und die Kinder seines Bruders Thomas würden ebenfalls schon Interesse zeigen.
„Familienunternehmen treffen Entscheidungen einfach anders“, sagt er so bescheiden wie sachlich, „nicht nur nach Zahlen, Daten, Fakten, also nach all dem, was so sein muss. Wir müssen nicht expandieren, nicht um jeden Preis. Und wir können andere Entscheidungswege gehen, kürzer, schneller, auch langsamer – wir sitzen das aus, wir warten noch ab. Wir müssen uns manchen Zwang nicht auferlegen, können dafür von heute auf morgen reagieren.“
Keine Höhenflüge, lieber Qualitätsarbeit weltweit. In Brasilien haben K+B-Experten die Deutsche Botschaft mit modernster Technik ausgestattet, der Reichstag in Berlin wird mit Audio-Technik aus Cham beschallt, zu den Kunden zählen u.a. auch BMW, die Allianz, die OTH oder der Bayerische Rundfunk in München.
Kontinuität und Nachhaltigkeit, Mittelstand und Familienunternehmen, Umsicht, Ausgewogenheit, Weitblick, Pioniergeist – kein Wunder, dass der Firma Kappenberger + Braun in den vergangenen Jahren ein Preis nach dem anderen zugesprochen wurde. 2010 wurde K+B erstmals, 2011 gleich ein zweites Mal gemeinsam mit fünf weiteren Firmen aus Bayern mit dem „Großen Preis des Mittelstandes“ der Oskar Patzelt-Stiftung ausgezeichnet. 2012 erhielt K+B unter 1800 von der Bayerischen Staatsregierung ausgewählten mittelständischen Firmen die Auszeichnung „Bayerns Best 50“. 2014 war K+B Premier-Finalist unter den 209 Preisträgern des „Großen Preises des Mittelstandes“ der vergangenen Jahre, 2015 zählte das Chamer Unternehmen dann wieder zu „Bayerns Best 50“. Dafür bekam der Firmenchef auf dem Podium erneut den Porzellanlöwen überreicht, der die linke Pranke auf den Schild mit dem Rautenwappen legt. „Wir verdanken es nicht zuletzt der mittelständischen Wirtschaft, dass unser Land die Krisen der vergangenen Jahre so gut überstanden hat“, lobte 2014 Finanzminister Wolfgang Schäuble in einer Grußbotschaft anlässlich der Preisverleihung.
Und noch eine weitere sehr begehrte Auszeichnung für herausragende Initiativen zur Völkerverständigung erhielt das Familienunternehmen: den Brückenbauerpreis / Stavitel mostů, der seit 2007 alljährlich vom deutsch-tschechischen Zukunftsfonds verliehen wird. Ursprünglich für Kulturakteure, Partnerprojekte und Kulturinitiativen geschaffen, wurde der Preis 2013 erstmalig auch an Persönlichkeiten verliehen, die „weit über ihr Unternehmen hinaus Maßstäbe im Wirtschaftsraum links und rechts der Grenze setzen“.
„Uns hatte eine Himmelsrichtung gefehlt. Wir besaßen kein Hinterland", beschreibt Richard Brunner, heutiger Leiter des IHK-Büros in Cham, die Lage vor 1989. Das hat sich mit der Grenzöffnung grundlegend geändert. Es gibt jetzt wieder links und rechts, Ostbayern und Westböhmen und das Motto: go east, go west, je nach Perspektive. Die Firma Kappenberger + Braun aus Cham pulsiert und ruht mittendrin. Als vielfach preisgekrönter, regionaler Leuchtturm mit dem bayerischen Löwen auf Augenhöhe mit dem doppelschwänzigen, goldgekrönten Löwen des böhmischen Wappens: stolz und bodenständig, der Grenzregion verpflichtet und zugleich überregional im Denken und Handeln.