Eingebunden und doch ungebunden

Groß war sie in der Tat, Friedl Kitzmüller: eine großgewachsene, schlanke, attraktive „feine Dame“, stets gut gekleidet und irgendwie vornehm wirkend – so wird sie rückblickend beschrieben, die „Grande Dame“ der IHK, wie man sie respektvoll nennt. Dieser informelle Titel ist ein sprechender Beleg der Hochachtung vor der Mitarbeiterin, die 44 Jahre lang für die IHK tätig war, vom Beginn ihrer Lehrzeit 1942 bis zur Pensionierung im Jahr 1986. Ein ganzes Arbeitsleben für die IHK – fast ein ganzes Leben lang, aber wahrlich nicht lebenslänglich. Für Friedl Kitzmüller war die Arbeit ein wesentlicher, nicht wegzudenkender Bestandteil ihres Lebens und ihrer Persönlichkeit. Sie packte zu, wo es nötig war, machte klaglos Überstunden, trug dafür Sorge, dass alles klappte, vom ersten Tag bis zum letzten. Mit erhobenem Kopf und hoch angesehen. Nur sie selbst sah sich nicht als so groß und auch nicht als etwas Besonderes. Sie stand eben einfach mitten im Berufsleben – eine berufstätige Frau, und zwar zu einer Zeit, als Frauen in der neu gegründeten Bundesrepublik Deutschland zurück an Heim und Herd geschickt wurden, um den Männern Platz zu machen. Friedl Kitzmüller: blieb. „Die Kammer war ihre Familie“, sagt eine langjährige Kollegin. Friedl Kitzmüller erlebte wechselnde Präsidenten und Geschäftsführer (durchweg Männer), viele MitarbeiterInnen, Räume, Gebäude, Besprechungen, Prüfungen, Prüflinge, Prüfer. Sie kannte alles und jeden – und jeder kannte sie. Friedl Kitzmüller war vielfach eingebunden und doch ungebunden, von Anfang an.
Es war Hochsommer im Jahr 1926, als Friedl Kitzmüller in Regensburg-Steinweg zur Welt kam. Ihre Mutter Babette war erst sechzehn, ihr Vater Georg zweiundzwanzig. In den ersten Lebensjahren wuchs Friedl in einem Dreifrauenhaushalt in der Brauergasse auf: Großmutter, Mutter, Tochter unter einem Dach. Die Verbindung der Eltern erwies sich als dauerhaft, 1930 wurde geheiratet, die bis dato uneheliche Tochter vom Vater adoptiert. Als die Eltern in die Alte Waldmünchener Straße in Reinhausen zogen, blieb Friedl bei ihrer Großmutter wohnen – das war nicht nur vertrauter, sondern auch praktischer, denn beide Eltern waren tagsüber bei der Arbeit. Abends und am Wochenende aß man gemeinsam, über die damals einzige Regenbrücke an der Donaustaufer Straße war es ja nicht weit. Friedl blieb in gewissem Sinne Einzelkind mit zwei Müttern: Das war eben so – ein Satz, der von ihr stammen könnte, die alles im Leben so annahm, wie es kam; auch als viele Jahre später, mitten im Krieg, ebenso ungeplant wie sie selbst, doch noch ein Bruder zur Welt kam, der ihr eigener Sohn hätte sein können.
Was hätte sein können, Gedankenspiele um Verpasstes, Versäumtes, Ersehntes, das spielte in Friedl Kitzmüllers Leben keine Rolle: was nicht war, war nicht. Was zählte und woran man sich halten konnte, das waren die Fakten, die unverrückbaren Tatsachen, von Anfang an. Fakt war auch, dass Friedl in der NS-Zeit aufwuchs, ihr historisches Umfeld. Im Mai 1933, kurz nachdem das Ermächtigungsgesetz (offizieller Titel: „Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich“) Adolf Hitler die uneingeschränkte Macht im Staat übertrug, wurde Friedl in Steinweg eingeschult; im Frühjahr 1941, nur wenige Monate vor Kriegsbeginn gegen die Sowjetunion, schloss sie die Volksschule nach acht Jahren ab. Dies ihr historisches Umfeld, die Einbindung des Privaten ins Gesellschaftliche.
Was Friedl im Lebensalltag des Nationalsozialismus lernte, war das Verstummen nach außen. Offen sprach man allenfalls innerhalb der Familie, in der Öffentlichkeit hielt man sich zurück und sah zu, dass man diese unheilvollen Zeiten überlebte. „Wir haben zu Hause schon über die Juden und so gesprochen und das auch verurteilt“, sagte Friedl Kitzmüller rückblickend in einem Interview und fuhr fort: „Im Dritten Reich waren wir sowieso nur stumm. Damit man ja nicht aufgefallen ist. Vor allem, dass einem kein schlechter Witz irgendwie rausgekommen ist. Da wäre man sofort ins Gefängnis gekommen.“ Nicht nach außen zu tragen, was man besser für sich behält, stumm sein, aber nicht gefühlstaub oder blind – eine Lektion, die Friedl Kitzmüller wie so viele in ihrer Generation nachhaltig lernte und nach innen trug. Nie erzählte sie später vom Krieg, von Fliegeralarm und Luftschutzkellern, von den Bombardierungen, den Deportationen, den Todesmärschen der Zwangsarbeiter. Dabei arbeitete sie in der Altstadt, musste täglich eine der Donaubrücken überqueren, hatte Augen zu sehen, Ohren zu hören, einen Kopf zu denken. Das tägliche Leben, geprägt von Angst, Vorsicht und Kontrolle über alles, was man dachte und worüber man lachte. Dass man sich mit Friedl Zeit ihres Lebens nicht streiten konnte, erzählt ihre Schwägerin. Dass sie sich aus Disputen stets heraushielt, sich nicht in die Karten blicken ließ und auch nicht richtig aus sich herausgehen konnte. Mit Blick auf die prägenden Jahre in Kindheit und Jugend wird dies nachvollziehbar. Es gibt viele Brücken im Leben, auch von einer Lebenszeit zur nächsten. Erfahrungen hinterlassen ihre Spuren.
Im Anschluss an die Schulzeit folgte ein Pflichtjahr als Kindermädchen, Haushaltshilfe und Putzkraft in einem für die Versorgung der Bevölkerung wichtigen Betrieb: in Friedls Fall war das die Metzgerei Rauscher in der Winklergasse. Für die Vierzehnjährige mitten in Kriegszeiten eine durchaus glückliche Fügung: „schon zur Brotzeit gab es Wurst“. Friedl kümmerte sich gern um das Kleinkind der Metzgereibesitzer und erhielt eine gute Beurteilung – „treu und fleißig und überall verwendbar“ –, doch wollte sie weder Kinderpflegerin oder Krankenschwester werden, noch eine Ausbildung zur Verkäuferin machen. Ins Büro wollte sie, das wusste sie von Anfang an genau: an den Schreibtisch, mit Zahlen und Worten arbeiten.
„Und wie die Frauen halt so reden“, hörte Friedls Mutter durch eine Bekannte genau zum richtigen Zeitpunkt von einer freien Lehrstelle bei der Industrie- und Handelskammer in Regensburg. „Also habe ich beim Arbeitsamt angerufen und eine Zuweisung bekommen. So war das damals.“ Die Fakten. Friedl würde also eine zweijährige kaufmännische Lehre als Bürogehilfin machen.
Kitzmüller an schreibmaschine
Friedl Kitzmüller machte eine kaufmännische Lehre als Bürogehilfin (Foto: IHK)
Die Räumlichkeiten der IHK befanden sich damals in der Residenzstraße, im ersten Stock zwischen der Hypobank im Erdgeschoss und der Wohnung des Bankdirektors im zweiten Stock. Bald nachdem Friedl ihre Ausbildung begonnen hatte, wurde die IHK umorganisiert zur Gauwirtschaftskammer mit Sitz in der Weißenburgstraße – Handel und Handwerk kamen unter ein Dach, auch die Berufsausbildung wurde zusammengelegt. Der Berufsschulunterricht wiederum fand im Thon-Dittmer-Palais am Haidplatz statt, wo ehemals die städtische Feuerwehr untergebracht war.
Über zehn Mitarbeiter zählte die IHK in der NS-Zeit, Referenten und deren Sekretärinnen. Hauptgeschäftsführer war Dr. Dr. Bingold, Präsident der Bauunternehmer Knab aus der Krebsgasse. „Er war ein Nazi und ist immer in Uniform gekommen. Aber er war ein netter Mann, zumindest uns gegenüber. Er hat uns immer besucht und mit uns geredet.“ Ein leitender Angestellter hingegen blieb Friedl in schlechter Erinnerung – ein „alter Junggeselle“, der mit Vorliebe die jungen Frauen scheuchte und zum Weinen brachte, wie sie später erzählte. Ob Friedl dies nur bei den Kolleginnen beobachtete oder selbst erfahren musste? Sie hätte nicht darüber geredet, hätte es vielleicht an sich abperlen lassen. Wir wissen es nicht. Wir kennen sie und ihr Leben nur vom Hörensagen, aus Erzählungen, einem Interview, von Fotos, und Menschen sind bekanntlich komplexer als das, was sie nach außen zeigen. Klar ist eines: Friedl Kitzmüller ließ sich nicht von ihrem Weg abbringen, nicht einschüchtern, auch nicht entmutigen. Das Berufsleben gefiel ihr über die Maßen, sie mochte ihre Arbeit und was sie schon damals Tag für Tag dazulernte. Als sie am ersten Ausbildungstag, dem 1. April 1942, den anderen Mitarbeitern vorgestellt und dann vor eine Schreibmaschine gesetzt wurde, war die allererste Aufgabe das Überprüfen des Eingangs der Prüfungsgebühren. Auf diesem Weg sollte sie bleiben.
Kurz vor Kriegsende, im April 1945 hatte Friedl Kitzmüller ihre Lehre seit einem Jahr abgeschlossen und verdiente ihr eigenes Geld. Sie wohnte nicht mehr zu Hause, half aber nach Kräften in der Familie mit, denn 1944 war ihr Bruder Georg zur Welt gekommen: hineingeboren in einen längst verlorenen, dennoch fanatisch weitergeführten „totalen“ Krieg. Die Schlangen vor den Lebensmittelläden wurden immer länger, die Not wuchs, die Front rückte näher, bedrohlicher jetzt auch für die einheimische Bevölkerung. Viele Menschen schlugen ihr Nachtquartier gleich im Keller auf, statt ständig bei Fliegeralarm mit dem Notgepäck in den Luftschutzkeller zu hetzen. Man wusste, Würzburg war im März unter den Bombardierungen binnen zwanzig Minuten in Flammen aufgegangen, Nürnberg war völlig zerstört, Neumarkt ein einziger Trümmerhaufen – unschwer auszumalen, wie es Regensburg ergehen würde, zumal der Gauleiter der Bayerischen Ostmark Ruckdeschel bei einer Kundgebung im Velodrom „die Verteidigung Regensburgs bis zum letzten Stein“ gefordert hatte.
Am Morgen des 23. April befahl Ruckdeschel – seinerseits weitab von jedem Schuss im Landschloss Haus bei Thalmassing residierend – die Sprengung aller Regensburger Brücken. Nach der Sprengung von vier Bögen der Steinernen Brücke versammelten sich Hunderte von Bürgern, überwiegend Frauen, darunter auch Friedl Kitzmüllers Mutter, auf dem heutigen Dachauplatz, damals Moltkeplatz, und forderten die kampflose Übergabe der Stadt. Friedl blieb zu Hause, beim kleinen Bruder, sie kam nicht über den Fluss. Augenzeugen berichteten, was geschah: Sprechchöre, die lauter wurden, weiße Taschentücher, die wehten, die Menge bewegte sich Richtung Kreisleitung, Hitlerjungen schossen in die Luft, die Forderung, den Gauleiter aufzuhängen, wurde laut, das NS-Stadtregime versuchte mit Alarmsirenen und Feuerwehrspritzen die Versammlung aufzulösen, Gestapoleute rasten mit einem Lastwagen auf die Menge zu – in dieser eskalierenden Lage ergriff, wie wir wissen, Regensburgs Domprediger Johann Maier, der eigentlich nur hatte zuhören wollen, spontan das Wort, um die Wogen zu glätten und zur Mäßigung aufzurufen: „Wenn wir die Obrigkeit beeindrucken wollen, so können wir das am besten dadurch, dass wir mit Ruhe und sittlichem Ernst vor sie hintreten. Was wir erbitten wollen, die kampflose Übergabe unserer Stadt mit ihren vielen Lazaretten …“ In den Wind gesprochen, an den Mauern verhallt, aber nicht vergessen: der Domprediger wurde sofort festgenommen und noch am gleichen Abend zusammen mit dem ehemaligen Lageristen Josef Zirkl zum Tod durch den Strang verurteilt; Bezirksinspektor Michael Lottner wurde in der NS-Kreisleitung in der D.-Martin-Luther-Straße erschossen. Einen Sieg der Menschlichkeit und der Vernunft erreichte Maier nicht, die kampflose Übergabe und Erhaltung Regensburgs erfüllte sich dennoch – die „Kampfgruppe Regensburg“, drei Tage später zum Aufbau einer neuen Verteidigungslinie bei Landshut beordert, verließ ihre „Festung“, und die Amerikaner stoppten die bereits befohlene Bombardierung. Das „mittelalterliche Wunder Deutschlands“ entging der Zerstörung. Gauleiter Ruckdeschel, ein eiskalter, unbeugsamer Nazi, der nicht nur den Mord am Domprediger auf dem Gewissen hatte, wurde zu acht Jahren Haft verurteilt, vorzeitig entlassen und arbeitete bis 1968 als Gästeführer bei VW in Wolfsburg.
Diese Jahre, in denen Friedl Kitzmüller aufwuchs und erwachsen wurde – der Nationalsozialismus, die Kriegsjahre, die letzten Tage des Krieges, die unmittelbare Nachkriegszeit – haben sie ganz wesentlich geprägt und müssen als Hintergrund ihres Lebens mitgedacht werden. Von altersgemäßen Vergnügungen, Ausgelassenheit, lustigen Erlebnissen ist rückblickend nie die Rede. „Die Not war zu groß“, wie sie in einem Gespräch sagte: An den Wochenenden trennte sie alte Pullover auf und strickte daraus für ihren kleinen Bruder neue. „Wir sind heimgegangen, haben Strümpfe gestopft, genäht oder gestrickt, damit wir am nächsten Tag wieder etwas zum Anziehen hatten.“ Hauptsache, das Leben ging weiter. Von Tag zu Tag.
In dem Gebäude in der Weißenburgstraße waren mittlerweile die Amerikaner einquartiert. Die Mitarbeiter der IHK durften das Haus weder betreten, noch etwas Privates aus ihren Büros holen. Die Kammer zog zurück in die Residenzstraße, nun wieder als Industrie- und Handelskammer. Friedl Kitzmüller, zuständig für die kaufmännische Berufsausbildung und die Prüfungen, teilte sich dort ein Zimmer mit ihrer Kollegin Johanna Schad, die sich um den gewerblichen Teil kümmerte. Die ersten Prüfungen nach dem Krieg wurden wieder in der Berufsschule am Haidplatz durchgeführt: „Und da hab ich mich dann in dem finsteren Haus verirrt und nachts davon geträumt.“ Dennoch: die Arbeit gab Halt, war ihr ein sicherer Ort. Über die Hungerjahre nach dem Krieg, die bitterkalten Winter, die Lebensmittelrationierung, den Tausch von Wertgegenständen gegen Eier, das Kohlerauben und Kartoffelklauben wurde viel berichtet und geschrieben. Essen, Wohnen, Arbeiten – die Organisation des Alltäglichen stand im Mittelpunkt. Und nachts schlüpften die schweren, bedrohlichen, bedrückenden Träume mit ins Bett, darin all das, was tagsüber ausgespart werden musste, von Leib und Seele abgespart. Eine aufwühlende Zeit, in der alles im Umbruch war.
Gehilfenprüfung 1949
Gehilfenprüfung Köche und Kellner, 1949 (Foto: IHK)
Nach Kriegsende gab es in Deutschland deutlich mehr Frauen als Männer. Mehr als vier Millionen Männer waren im Krieg gefallen, ungefähr zwölf Millionen befanden sich in Gefangenschaft. Frauen machten etwa zwei Drittel der Gesellschaft aus. Sie übernahmen in der Nachkriegszeit die meisten Arbeitsplätze der Männer und sorgten insgesamt dafür, dass es weiterging mit dem Leben in Deutschland – vor allem als Versorgerinnen, als Aufbauende, tatkräftig, mutig, ideenreich, stark. Auf diese Frauen trafen die nach und nach aus den verschiedenen Gefangenenlagern zurückkehrenden Männer, entkräftet, bedürftig, verwundet an Leib und Seele und ebenfalls voll Tatendrang, an ihren angestammten Platz zurückzukehren und ihre früheren Rollen wieder einzunehmen. Viele Frauen mussten um ihre Arbeitsplätze bangen, sie vielfach abgeben, schlechter bezahlte Aufgaben übernehmen – oder selbst zurückkehren in eine untergeordnete Rolle an Heim und Herd. So war das Gesetz: Die Männer konnten darüber bestimmen, ob die Frauen arbeiten durften oder nicht.
Ehe und Familie wurden im sich entfaltenden Wirtschaftswunder der Fünfziger Jahre zum Ideal der bürgerlichen Existenz. Der Idealtyp der Ehegattin hatte sich um das Wohl des Mannes zu kümmern: ein gemütliches Zuhause schaffen, kochen, Kinder hüten und sich herausputzen. Das Lebensziel lediger Frauen richtete sich darauf, einem Mann zu gefallen und ihn dann zu heiraten. Zahlreiche Zeitschriften versorgten die alleinstehende Frau der 1950er mit Tipps, wie sie das anstellen könnte – Verhaltensratschläge, zahllose Schönheitstipps, damit auch sie endlich „unter die Haube“ kam.
Friedl Kitzmüller war jung, ungebunden, frei von diesen Sorgen und Problemen. Ein Mann? „Das ist schwierig gewesen bei mir. Ich habe so eine bestimmte Vorstellung gehabt von einem Mann und dann, die ganzen Jahrgänge, die für mich passend gewesen wären, waren alle im Krieg … Sehr viele sind gar nicht mehr zurückgekommen und die paar, die dann zurückgekommen sind, die waren so schnell vergeben, weil so viele junge Mädchen gewartet haben, dass sie an einen Mann kommen. Und ich habe unmittelbar nach dem Krieg sowieso keine Vorstellung gehabt, mich zu binden.“ Sie sei wählerisch gewesen, sagt Friedl Kitzmüller mehr als sechzig Jahre später. Die Auswahl war nicht groß. „Nachgelaufen sind mir sehr viele, aber mir hat irgendwie keiner gepasst.“ Und irgendeinen Mann zu heiraten, nur um der Konvention zu dienen? Das kam für Friedl Kitzmüller nicht in Frage. „Ich wäre nicht glücklich geworden.“
IHK-Betriebsausflug 1951
Betriebsausflug 1951 (Foto: IHK)
Sie brauchte keinen Mann. Nicht als Ernährer, nicht als Ergänzung, nicht als wärmenden Gefährten, als Spiegel ihrer selbst oder als Unterhalter, im doppelten Sinne. Sie war selbständig und unabhängig, verdiente ihr eigenes Geld, hatte alle Hände voll zu tun, ging ihren Weg. Auch war sie eingebunden in ihre Familie, durch den kleinen Bruder, der „irgendwie auch ihr Kind war“, wie die Schwägerin sagt. Und noch etwas kam hinzu, für die Schatzkiste des Wesentlichen: mit Anfangs zwanzig entdeckte Friedl Kitzmüller ihre Liebe zum Unterwegssein und Reisen.
Die Welt war groß und weit und verlockend, weitaus größer als Friedls bisherige Welt zwischen Steinweg, Reinhausen und der Regensburger Altstadt. 1947 lernte Friedl Kitzmüller bei der IHK Lislott Klausmann kennen, Sekretärin des damaligen Präsidenten Carl Lanz. Die beiden Frauen freundeten sich schnell an, entdeckten gemeinsame Interessen und Leidenschaften, verbrachten künftig die Wochenenden gemeinsam beim Wandern – „ein Mann hätte nur gestört.“ Die sechs Jahre ältere Kollegin wurde zu der Freundin, wie Friedl Kitzmüller sie bis dahin nie gehabt hatte: der allerbesten.
Die erste Reise ging 1947 zum Skilaufen in den Bayerischen Wald. In den folgenden vier Jahrzehnten bereisten die beiden Frauen per Bus und Bahn, Schiff und Flugzeug die halbe Welt – stets unternehmungslustig, neugierig, offen. War eine Reise vorbei, wurden Fotos eingeklebt und die nächste Reise geplant. Ging es anfangs noch in die nähere Umgebung, kam bald Italien hinzu, Frankreich, Jugoslawien, Spanien, Portugal, immer größer wurde der Radius, immer exotischer die Ziele, ob vorderer oder hinterer Orient, wie Gus Backus in den sechziger Jahren in seinem Ohrwurm-Schlager sang. In den Fotoalben sieht man Friedl Kitzmüller in Indien auf einem Elefanten reiten, in Nepal wandern, in Jamaika am Strand liegen. Friedl Kitzmüller hat akribisch über Reiseziele und Ausgaben Buch geführt: je zweimal Jamaica und Zypern, viermal Portugal, dreimal Dubai und Oman, außerdem Hurtigrute, Ostseekreuzfahrt, Antigua, Barbados – es gab „nichts auf der Welt, wo die zwei nicht waren“, sagt Ilse Kitzmüller, Friedls Schwägerin, Witwe des viel zu früh an Lungenkrebs verstorbenen „kleinen“ Bruders Georg.
Es ist bemerkenswert, in welcher Zeit diese Reisen ihren Anfang nahmen: Anfang der Fünfziger Jahre kämpften die meisten Deutschen darum, sich eine neue Existenz aufzubauen. Es ging darum, Arbeit und Wohnung zu finden, diese notdürftig einzurichten, Kühlschrank, Bett, Tisch und Stuhl; ein Kinobesuch war ein kleiner Luxus, an Reisen oder die Anschaffung eines Autos war für die meisten gar nicht zu denken. In diesen Jahren fuhren Friedl Kitzmüller und Lislott Klausmann in die Welt hinaus, völlig zweckfrei und sorglos, „nur“ um Urlaub zu machen und „eine gute Zeit zu haben“, wie die Amerikaner sagen. Fotos zeigen zwei schick gekleidete, modebewusste, attraktive junge Frauen, beim Skifahren, am Strand, lachend, gut gelaunte Grazien, denen die Männer vom Skilehrer bis zum Gigolo sicherlich in Scharen den Hof machten. Eine Frauenfreundschaft, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Die beiden Freundinnen genossen ganz einfach die Freiheit, gemeinsam ungebunden unterwegs zu sein.
Den Führerschein machte Friedl Kitzmüller erst 1976, im Alter von fünfzig Jahren, in der Ferienfahrschule. Die Theorieprüfung bestand sie auf Anhieb, ein Klacks, die praktische Prüfung brauchte ein Weilchen. Die Freundin weigerte sich zunächst, zu ihr in den Golf zu steigen, der eine Woche später angeschafft wurde. Per Auto wurden die Wochenendausflüge, zuvor mit der Bahn unternommen, einfacher und die Ziele vielfältiger. „Wir hatten ein Wanderbuch vom Wanderverein. Wir sind viele Strecken abgegangen, haben uns auch oft verlaufen.“ Sie habe einen schlechten Orientierungssinn, gestand Friedl Kitzmüller freimütig. Mit fast neunzig Jahren, gegen Ende ihres Lebens, kam sie noch immer mit dem Auto zu Besuch in die IHK: Einfahrt in die Tiefgarage, mit dem Aufzug hoch, schon war sie da.
„Man hat viel von ihr lernen können“, sagt Helga Köhler, die 15 Jahre lang mit Friedl Kitzmüller zusammenarbeitete. „Sie hat einem viel beigebracht, auch den Umgang mit den Prüfern. Ihre Meinung wurde geachtet.“
Friedl Kitzmüller und Johanna Schad sind die einzigen Frauen, die in den Jahresberichten der IHK Regensburg auf der Liste des Führungspersonals seit Beginn der fünfziger Jahre namentlich genannt werden: Sachgebietsleiterinnen, die eine für die gewerbliche, die andere für die kaufmännische Berufsausbildung, die mit den Jahren zunehmend an Bedeutung gewann – eine Art Aushängeschild der IHK. Zu organisieren waren sämtliche Prüfungsausschüsse sowie die kaufmännischen Abschlussprüfungen. Friedl Kitzmüller musste Einladungen und Unterlagen verschicken und dafür sorgen, dass die Ausschüsse richtig besetzt waren, mit Arbeitgeber-, Arbeitnehmer- und Lehrervertreter. Es galt, die Ergebnisse der schriftlichen Prüfungen und die Einladungen für den mündlichen Teil zu verschicken, natürlich auch die Abschlusszeugnisse – und bis Anfang der achtziger Jahre wohlgemerkt manuell, mit 6-fachem Durchschlag. Die Zahl der Prüflinge stieg kontinuierlich, immer neue Richtlinien und Berufe kamen hinzu. In Boomzeiten fanden im Zeitraum Mai bis Anfang Juli 2.700 Prüfungen statt. Oft setzte Friedl Kitzmüller sich sogar mit in die Prüfungen, hörte zu, machte sich ein Bild vom Prüfungsverlauf und auch von den Prüfern. Immer wieder machte sie Überstunden, wenn die Prüfer die Zeit überzogen: „Das ist mir in Erinnerung geblieben, weil es Sommer war und oft alle anderen um fünf zum Baden gegangen sind und ich allein in der Kammer saß.“
Die Prüfungsphasen waren, wie sie rückblickend erzählt, extrem anstrengend, weil alles innerhalb einer begrenzten Zeit organisiert werden musste. „Aber es hat jedes Mal geklappt, es ist nie etwas schiefgegangen, außer Kleinigkeiten. Das war mein Ehrgeiz.“ Nur einmal ging etwas verloren, ein Paket mit Prüfungsunterlagen aus Cham, das zum Glück bald darauf im Heizungskeller der IHK wieder auftauchte – der Hausmeister hatte es für Heizmaterial gehalten …
Kitzmüller feiert 1982 ihr 40-jähriges Dienstjubiläum
Friedl Kitzmüller feiert 1982 ihr 40-jähriges Dienstjubiläum (Foto: IHK)
Friedl Kitzmüller nahm ihre Arbeit ernst. Es war ihr wichtig, alles so gut wie möglich zu machen, Fehler zu vermeiden, immer wieder Neues hinzuzulernen, so war sie geprägt worden – zuverlässig zu sein, pflichtbewusst, diszipliniert. Trotz Nervenbelastung und Hektik war Friedl Kitzmüller dankbar für den ständigen Kontakt mit der berufsbildenden Jugend, den Ausbildern und ehrenamtlichen Prüfern – „die Würze meiner beruflichen Tätigkeit“, wie sie 1982 in einem Antwortbrief auf die Glückwünsche zum 40jährigen Dienstjubiläum an Präsident Willy Lersch schrieb. Der Einführung der Datenverarbeitung aber begegnete sie mit verhaltener Neugier und viel Skepsis. „Wir haben stoßweise Papierausdrucke bekommen. Das war alles noch primitiv im Verhältnis zu heute. Man musste für alles erst einmal Zettel ausfüllen. Dann hatte man Apparate, mit denen man die für die Berufsausbildung registrierten Verträge feststellen konnte. Bis man da etwas gefunden hat! Für mich war die Datenverarbeitung keine Vereinfachung, sondern mehr Arbeit.“ Körperlich und nervlich war Friedl Kitzmüller nicht mehr so fit wie noch zehn Jahre zuvor – die neue Technologie bedeutete eine massive Umwälzung der Arbeitsabläufe, ein Umdenken, einen arbeitsintensiven „Neustart“: Das war etwas für die nächste Generation.
Am 31. August 1986 verabschiedete sich Friedl Kitzmüller von ihrem Arbeitsleben. Kein leichter Schritt. Die IHK nach so langer Zeit zu verlassen, rief bei ihr gemischte Gefühle hervor. Ihr zu Ehren wurde im Sitzungssaal eine große Abschiedsfeier organisiert und von Dr. Brennauer geleitet. Aber der Morgen danach? Vierundvierzig Jahre lang war sie wochentags jeden Morgen in „die Kammer“ gegangen, zu Fuß, mit dem Fahrrad, mit dem Auto, je nach Wetter, war durch die Eingangshalle am Empfang vorbei gegangen und die Treppe hinauf, den Korridor entlang bis zu ihrem Zimmer, hatte den Mantel oder die Jacke aufgehängt, sich an den Schreibtisch gesetzt und zu arbeiten begonnen, hatte stapelweise Unterlagen und Papiere vorgefunden und bearbeitet, hatte mit Kollegen und Kolleginnen geredet, gelacht, zwischendurch einen Blick aus dem Fenster geworfen, eine Tasse Kaffee getrunken – und weiter im Tagesablauf. Und nun?
Etwas fehlte, gar keine Frage. Aber Friedl Kitzmüller freute sich auch darauf, endlich tun zu können, was sie wollte, wann sie wollte – ins Museum gehen zum Beispiel, Bücher lesen, vorzugsweise Biographien, längere Wanderungen mit Lislott Klausmann zu unternehmen, die schon seit einiger Zeit pensioniert war. Doch dann erwarteten sie zwei andere Aufgaben: die Mutter brauchte Pflege, die sechsjährige Agnes, Friedls Nichte und Patenkind, war gerade erst zur Schule gekommen. „Nach der Pensionierung habe ich mich sehr um meine Mutter gekümmert. Ich war jeden Tag bei ihr und habe täglich für sie und für meine Nichte gekocht. Meine Schwägerin war Lehrerin und kam immer erst mittags nach Hause.“ Friedl brachte Agnes das Schwimmen bei, so wie sie ihrem kleinen Bruder Anfang der Fünfziger Jahre das Skilaufen gezeigt hatte. Anderen Menschen zu helfen: eine Konstante in Friedl Kitzmüllers Leben. Im hohen Alter hätte sie ihrer etliche Jahre jüngeren Schwägerin zu gern noch beigebracht, wie man eine Steuererklärung anfertigt – doch dazu kam es leider nicht mehr.
Denn ihr Lebensende kam rasch und unerwartet. Ein Ostersonntag in der Welt der Familie, Friedl stand am Herd, kochte Bröselschmarrn mit Kraut für ihre Schwägerin und ihre Nichte: „a Gurgelmarterer“, den alle drei liebten. Danach ging es ihr „nicht so gut“, wie sie sagte, Meisterin der Untertreibung. Sie ging nach oben in ihre Wohnung im Haus der Schwägerin, erlitt einen Schwächeanfall, stürzte unglücklich auf den Badewannenrand, brach sich mehrere Rippen, kam ins Krankenhaus – umsichtig wie eh und je bat sie noch darum, dass ihr Friseurtermin abgesagt und um ein paar Tage verschoben wurde. Doch im Grund ihres Herzens verstand, spürte, wusste sie: „Das war das Leben.“
Die große Reise des Lebens der Friedl Kitzmüller. In neunundachtzig Jahren mehrfach um die ganze Welt. „Sie war ein guter Mensch“, sagt ihre Schwägerin schlicht. Im Gespräch mit ihr wird Friedl Kitzmüller wieder lebendig: als umgängliche, hilfsbereite, pflichtbewusste, freundliche, mutige, aufgeschlossene, neugierige, starke, bescheidene, loyale, herzliche, ausgeglichene, souveräne Frau, die bei aller Verbundenheit doch immer ungebunden war – wahrlich eine große Grande Dame.