Prognos-Zukunftsstudie

Aufsteigerregion Ostwürttemberg

Interview mit Dr. Olaf Arndt Vize Direktor/Bereichsleiter Standort & Region der Prognos AG, Bremen.
In der Analyse „Deutschland nach Corona. Regionale Branchenprognose 2030“ blickte das Wirtschaftsforschungsinstitut Prognos über die Corona-Krise hinaus in Deutschlands Branchen und Regionen. Dabei wurden Wachstumsprognosen bis zum Jahr 2030 errechnet – heruntergebrochen bis auf Landkreisebene. Der Landkreis Heidenheim und der Ostalbkreis schneiden ermutigend gut ab. Ostwürttemberg wird 2021 und 2022 auf einen soliden Wachstumskurs zurückkehren. Diese guten Zukunftsaussichten sieht Prognos, weil die Region über einen starken industriellen Kern verfügt, demografisch vergleichsweise robust ist und eine hohe Konzentration innovationsstarker Branchen aufweist. Die Region kann ein breites Branchenspektrum aufweisen; gegenüber dem Deutschlandtrend wachsen bis ins Jahr 2030 nahezu alle Branchen leicht überdurchschnittlich:

In Ihrer jüngsten Prognos-Studie wird der Landkreis Heidenheim in der Kategorie "Aufsteigerregion" geführt. Welches sind die wesentlichen Gründe für diese Zuordnung?
In unserer Analyse „Deutschland nach Corona. Regionale Branchenprognose 2030“ blicken wir über die Corona-Krise hinaus in Deutschlands Branchen und Regionen. Nach einem Schock im Zuge der Corona-Pandemie in den Jahren 2020 bis 2022 erwarten wir in Heidenheim eine Zunahme der wirtschaftlichen Leistung in Form der realen Bruttowertschöpfung im kommenden Jahrzehnt in Höhe von +11,7 Prozent. In Baden-Württemberg wird mit einem Anstieg von 10,8 Prozent und in Deutschland von 9,6 Prozent gerechnet. Beim Wachstum der Wirtschaftsleistung (BWS real) bis 2030 sehen wir Heidenheim damit auf Augenhöhe mit der Landeshauptstadt Stuttgart. Deutschlandweit ist das mit Platz 70 unter 401 Kreisen ein beachtliches Ergebnis.
Begleitet wird dies durch ein weiteres Bevölkerungswachstum von +2,6 Prozent bis 2030. Damit hebt sich Heidenheim positiv gegenüber dem Deutschlandtrend (+0.2%) und Baden-Württemberg (+2,3 Prozent) ab. Der demografische Wandel wird auch in Heidenheim bis 2030 spürbar. Immer mehr Menschen werden das Rentenalter erreichen. Dieser Effekt führt zu einem Absinken der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter in Heidenheim (-5,4 Prozent). Landesweit (-5,4 Prozent) wiegt der Rückgang ähnlich, während er bundesweit (-7,2 Prozent) deutlich schwerer ausfällt. Durch den demografischen Wandel sowie den technischen Fortschritt  - vor allem mit Blick auf eine weitere Hochautomatisierung - werden in Heidenheim (-3,3 Prozent) die Erwerbstätigenzahlen generell zurückgehen. Im Vergleich zum deutschlandweiten Trend (-4,7 Prozent) befindet sich der Rückgang allerdings noch auf moderatem Niveau; der Rückgang in Baden-Württemberg beläuft sich auf -3,2 Prozent.
Können Sie uns ebenso eine Einschätzung für den Ostalbkreis geben?
Der Ostalbkreis gehört schon seit Jahren zum oberen Viertel von 401 untersuchten Landkreisen und belegte zuletzt im „Prognos Zukunftsatlas 2019“ den Rang 59. Dank seiner guten Zukunftsperspektiven sehen wir ihn auch bis 2030 weiterwachsen. So prognostizieren wir eine Zunahme der wirtschaftlichen Leistung im kommenden Jahrzehnt in Höhe von +10,7 Prozent. Auch die Bevölkerung wird mit +2,3 Prozent auf Landesniveau weiter ansteigen. Allerdings bereitet uns das Absinken der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter im Ostalbkreis (-6,6 Prozent) Sorgen. In der demografischen Entwicklung machen sich hier die Herausforderungen des ländlichen Raumes bemerkbar. Neben der Fachkräftefrage wirkt sich das auf die regionale Nachfrage  bei Konsum und Bauinvestitionen aus und dämpft die vom industriellen Mittelstand ausgehenden Wachstumsperspektiven.
Welche sind für Sie die ausschlaggebenden Gründe dafür, dass unsere Region mit ihren Landkreisen Heidenheim und Ostalbkreis gestärkt aus der Krise hervorgeht?
Ostwürttemberg wird 2021 und 2022 auf einen soliden Wachstumskurs zurückkehren, das gilt gerade für Ostwürttemberg mit einem starken industriellen Kern. Diese guten Zukunftsaussichten sehen wir, weil die Region demografisch vergleichsweise robust ist und eine hohe Konzentration innovationsstarker Branchen aufweist. Die Region kann ein breites Branchenspektrum aufweisen, gegenüber dem Deutschlandtrend wachsen bis ins Jahr 2030 nahezu alle Branchen leicht überdurchschnittlich: Im Einzelnen sind dies vor allem Metallindustrie, Maschinen-, Anlagen- und Werkzeugbau, Automotive, elektrische und optische Ausrüstungen und pharmazeutischen Erzeugnisse.
In den nächsten zehn Jahren legt die Region eine insgesamt solide Entwicklung in allen Wirtschaftsbereichen hin. Neben der tragenden Rolle der Industrie sind dies die unternehmens- und wissensorientierten Dienstleistungen, aber auch die konsumnahen Services sowie die Dynamik aus jungen Start-up-Unternehmen. Die Gesundheitswirtschaft wird ebenso ein immer bedeutenderer Wirtschaftszweig. Das Besondere einer mittelständisch geprägten Region ist, dass kein einzelnes Segment so richtig hervorsticht, aber fast überall leicht überdurchschnittlich wächst. Das führt zu einer vorderen Platzierung in unserer Zukunftseinschätzung – Ostwürttemberg ist und bleibt eine Aufsteigerregion.
Wie schätzen Sie die Aussichten der Automobilzuliefererindustrie ein, die in Ostwürttemberg schwerpunktmäßig vertreten ist?
Durch sich überlagernde Transformationsprozesse im Zuge des technologischen Wandels, der Verschiebung des Gewichts globaler Märkte sowie der weltwirtschaftlichen Rezession im Kontext der Covid-19-Pandemie im Jahr 2020 erfährt sowohl die Produktion als auch Nachfrage im Automobilsegment einen Einbruch, wobei der kurzfristige Ausblick sehr volatil bleibt.
In Zukunft werden die Emerging Markets insbesondere in Asien eine noch größere Rolle spielen als bisher. Dies gilt sowohl hinsichtlich des Absatzmarktes wie auch in der Produktion und Entwicklung. Es erfolgt gerade eine Neubewertung der bestehenden globalen Lieferketten und Absatzmärkte im Zuge der Covid-19-Pandemie auf Robustheit und Resilienz. Daraus können sich neue Chancen durch die zentrale Lage zwischen den Metropolregionen Stuttgart, München und Rhein-Main für den Produktionsstandort Ostwürttemberg ergeben. Gleichzeitig beschäftigt die Branche die Frage nach neuen Antriebstechnologien, was insbesondere spezialisierte Zulieferer vor Herausforderungen stellt. Hier ist auch von Seiten der Politik eine höhere Technologieoffenheit erforderlich. Gleichzeitig entwickeln sich die Fahrzeuge immer mehr zu digitalen Systemen. Es wird zunehmend eine Plattform für Daten, Dienstleistungen und Schnittstellen. Dies führt zu erweiterten Wertschöpfungsketten, neuen und jungen auch branchenübergreifenden Marktteilnehmern und erweitern das ökonomische Umfeld der Fahrzeugindustrie. Damit steht die Automobilzuliefererindustrie gerade in einer der größten Transformation ihrer Geschichte. Eine Blaupause für die Zulieferer gibt es nicht. Klar ist aber: Die klassische Strategie – die Kosten radikal zu senken und die Krise weitgehend auszusitzen – wird nicht funktionieren. Die Zulieferer werden sich in Zukunft noch stärker auf Hochtechnologiebereiche und individuelle Wachstumssegmente fokussieren müssen. Daneben sind Konsolidierungsstrategien zur erwarten oder die Suche nach Partnerschaften aus der Region. Bei aller Stärke: Die Landschaft der Automobilzuliefererindustrie wird sich in zehn Jahren stark verändert haben.
Welche Faktoren machen eine Region anfällig für Schocks? bzw. Welche Faktoren machen eine Region besonders resilient? Worauf sollte der Standort Ostwürttemberg besonders ach-ten?
Unsere Erfahrungen zeigen, dass resiliente Regionen und Organisationen sich in einem ständigen Anpassungs-, Lern- und Erneuerungsprozess befinden. Sie verfolgen nicht das primäre Ziel, nach einer Krise zum Ausgangszustand zurückzukehren, sondern sind offen für Wandel und ermöglichen Innovationen, die wiederum neue Impulse für die nachhaltige Entwicklung der Region setzen. Mit dem Resilienz-Verständnis, dass ein System resilient ist, wenn es einen Schock übersteht, sich selbstständig erneuert und aus Erfahrungen lernt, sollten Unternehmen und Politik aus Ostwürttemberg sich auf folgende Maßnahmen fokussieren:
  • Industrielle KMU bei der digitalen und ökologischen Transformation unterstützen
  • Neue digitale Produkte und Geschäftsmodelle entwickeln
  • Regionales Innovationssystem stärken und die Wissenschaftslandschaft gezielt ergänzen
  • Attraktivität der Region für Fachkräfte erhöhen
  • Innovationskultur in Unternehmen weiter verbessern
  • Unternehmen für Fachkräfte attraktiv positionieren
  • Ausbildung weiter stärken
Handlungsbedarfe zur Stärkung des Standorts konzentrieren sich damit auf die vier Maßnahmenfelder Kompetenzaufbau in Wachstumsfeldern, Infrastrukturausbau, Fachkräfte und Qualifikation sowie Begleitung des Wandels in der Arbeitswelt und dem Trend des New Work.