Es ist Viertel nach 12! Ein Weckruf
Unsere Wirtschaft ist in der Krise. 20 Prozent aller Unternehmen in unserem IHK-Bezirk kämpfen mit Zahlungsengpässen. Besonders unsere Industrieunternehmen stehen mit dem Rücken zur Wand. Es besteht akuter Handlungsbedarf. Deutschland erlebt das zweite Rezessionsjahr in Folge. Die Wirtschaft schrumpft – und die Politik schaut zu.
Text Uwe Vetterlein, Willi Haentjes
Die Ampel-Regierung hat sich zerlegt, das gelähmte Land wartet auf Neuwahlen. Und der amtierende Bundeskanzler? Unterschätzt die Lage offenkundig. „Ich weiß als ehemaliger Hamburger Bürgermeister, dass der Gruß des Kaufmanns die Klage ist“, so Olaf Scholz nach einem Spitzentreffen mit Wirtschaftsverbänden.
Auf Landesebene ein ähnliches Bild: Obgleich sich die Ziffern auf der Windrad-Schuldenuhr am Portal unserer IHK kaum bewegen und klar ist, dass die acht benötigten großen Gaskraftwerke auf keinen Fall bis 2030 gebaut werden können, betont NRW-Wirtschaftsministerin Mona Neubaur nach wie vor, dass der Kohleausstieg 2030 noch zu schaffen sei. Und dies noch in einem Interview im Oktober 2024.
Kein Wunder also, dass die Unternehmen mittlerweile die politischen Rahmenbedingungen als „Risiko Nummer eins“ sehen. Auch die weiteren von unserer Wirtschaft in der IHK-Konjunkturbefragung genannten Top-Risiken Überbürokratisierung, Energieversorgung, Fachkräftemangel, Arbeitskosten oder die marode Infrastruktur sind politisch herbeigeführt.
Die Politik selbst als Top-Risiko für die deutsche Wirtschaft? Kann das sein? Was sind das genau für Probleme, mit denen unsere Unternehmen täglich zu kämpfen haben und die ihnen ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit rauben?
Viele Unternehmen würden sich freuen, wenn es noch 5 vor 12 wäre. Aber wer jeden Tag Verantwortung in der Wirtschaft trägt, spürt: Es ist längst Viertel nach 12. Und die Uhr tickt weiter.
Hier sind die Ursachen für die hausgemachte Schieflage:
Papier macht geduldig: Vor lauter Vorschriften kommt man kaum mehr zum Arbeiten (Bild mit KI generiert).
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Unglaubliche Gesetzesflut
Die Politik schafft die Rahmenbedingungen für die Wirtschaft. Diese müssen einen verlässlichen, berechenbaren Rahmen für die Unternehmen und ihr Handeln auf Märkten schaffen. Doch ein Regelwerk muss Bestand haben. Würde ein Schiedsrichter beim Fußball während des Spiels dauernd die Regeln ändern und sogar selbst mitspielen – er wäre schnell allein auf dem Rasen. Und genau das passiert gerade in Deutschland.
Zu viele Regeln:
Die Brüsseler Gesetzesmaschinerie ist atemberaubend. 1.400 neue Richtlinien und Verordnungen wurden in der letzten Wahlperiode beschlossen. Dabei ist die frisch wiedergewählte Kommissions-Chefin Ursula von der Leyen mit dem Versprechen angetreten, pro neuer Regel eine alte zu streichen („one in, one out“). Das Gegenteil ist geschehen: mehr Bürokratie statt weniger Regeln. Und damit nicht genug: In Berlin wurden diese Rechtsnormen nicht nur in deutsches Recht umgesetzt, sondern maßgeblich um den speziellen deutschen Weg in der Klimapolitik erweitert, dem kein anderes Land in Europa folgt. Viele dieser Regeländerungen greifen tief in die Prozesse der Unternehmen ein, werfen Kalkulationen über den Haufen und entwerten Investitionen. Oder sie schaffen mit überbordenden Berichtspflichten zusätzliche Aufwände, die schon in mittleren Unternehmen nicht mehr zu leisten sind – von den kleinen ganz zu schweigen. Kaum mehr jemand hat den Überblick über die Flut an Gesetzen. Viele Regeln werden nur noch von absoluten Fachexperten verstanden.
INTERVIEW: IHK Präsidentin Dr. Nicole Grünewald bei Phoenix vor Ort
Zu viele Änderungen:
Doch das größte Problem ist, dass sich die Rahmenbedingungen ständig ändern und die Auswirkungen kaum berechenbar sind. Ein kleines Beispiel ist die degressive Abschreibung für bewegliche Wirtschaftsgüter (höhere Abschreibungssätze am Anfang). Sie wurde scheinbar willkürlich abgeschafft und 2024 wieder eingeführt. Ein weiteres Beispiel ist das EEG, das Erneuerbare-Energien-Gesetz, das fast im Jahresturnus geändert wird. Mal braucht es einen „Erzeugungszähler“, mal nicht, auch die Vergütungssätze sind unterschiedlich, je nach Inbetriebnahme – und wie viel ins öffentliche Netz eingespeist werden darf, ändert sich auch. Und das GEG, das Gebäudeenergiegesetz, hat bereits vor seiner Einführung zu großer Unsicherheit geführt. So geht für Unternehmen die Planungssicherheit verloren. Das Vertrauen in den Staat und seine Institutionen schwindet. 70 Prozent der Bürgerinnen und Bürger halten den deutschen Staat laut einer Forsa-Umfrage für überfordert.
Keine Konsequenzen:
Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck hat neulich selbst festgestellt, dass man beim Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz „bei guter Intention völlig falsch abgebogen“ sei. Nun fordert er „klare Regelgesetzgebung, aber keine Berichtspflichten“, und Bundeskanzler Olaf Scholz pflichtet dem bei. Doch es passiert – nichts!
Ideologische Energie- und Klimapolitik
Der Klimawandel ist real. Alle müssen nach Kräften daran arbeiten, den Temperaturanstieg zu begrenzen. Dazu ist die Transformation der Energiesysteme auf globaler Ebene notwendig. Nicht alleine in Europa. Nicht alleine in Deutschland. Wenn nur in einem Land Regularien gelten, wird es nicht zum Vorreiter, sondern es wird deindustrialisiert. Denn auch durch die politisch festgelegten Regularien ist Energie in Deutschland zu teuer – und nachhaltige Energie steht jetzt und in absehbarer Zukunft nicht ausreichend zur Verfügung.
Alle wissen es. Wenige trauen sich, es auszusprechen. Aber all diese Versprechen sind nicht mehr zu erfüllen:
Kohleausstieg im Rheinischen Revier bis 2030 → nicht zu halten
Genügend Gaskraftwerke in NRW bis 2030 → nicht zu halten
Wasserstoffhochlauf bis 2032 → nicht zu halten
Nutzung von Wasserstoff für die Stromerzeugung bis 2035 → nicht zu halten
Wasserstoffanbindung von Industrie-Unternehmen in der Fläche bis 2045 → nicht zu halten
CO2-Neutralität bis 2045 ohne CO2-Einlagerung und -Nutzung (CCS und CCU) → nicht zu halten
Kein Plan:
Es ist mittlerweile Konsens in der Wirtschaft: Das Energiesystem der Zukunft wird extrem teuer, ein Masterplan für die Transformation fehlt völlig. Es ist höchste Zeit, dass sich Bund und Land von ideologischen Zielen und unrealistischen Zeitplänen lösen, die Realität anerkennen und gemeinsam mit der Wirtschaft einen realistischen Plan B für ein Energiesystem der Zukunft und den Weg dahin entwerfen. So muss auch die Politik endlich realisieren, dass unsere Wirtschaft noch für eine lange Übergangszeit Erdgas oder LNG für die Energieerzeugung braucht. Würde man das von Seiten der Politik einsehen und öffentlich klarstellen, wäre vielen Industrieunternehmen geholfen. Denn sie könnten dann in diese Richtung investieren.
Der Fachkräftemangel sorgt für leere Produktionshallen (Bild mit KI generiert).
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Verschärfung des Fachkräftemangels
Gut ausgebildete Fachkräfte waren über Jahrzehnte ein klarer Wettbewerbsvorteil in Deutschland. Doch von unseren Top-Fachkräften gehen in den nächsten Jahren 30 Prozent in Rente. Neue Fachkräfte in der Menge sind demografisch bedingt nicht da. Auch hier liegen die Lösungen seit Jahren auf der Hand. Sie werden nur von Seiten der Politik nicht in die Tat umgesetzt.
Bessere Kinderbetreuung:
NRW und die Kommunen müssen die Kita-Betreuung auf ein verlässliches Niveau ausbauen und mehr Ganztagsangebote machen. Zurzeit erleben wir genau das Gegenteil – Betreuungszeiten für Kinder werden flächendeckend reduziert. Doch wie wollen Familien ihr Berufsleben planen, wie sollen Mütter und Väter arbeiten, wenn die Kinderbetreuung nicht funktioniert? Auch der gesetzliche Anspruch auf Ganztagsbetreuung in den Grundschulen im Jahr 2029 muss daher vorgezogen und verlässlich umgesetzt werden.
Jugendliche qualifizieren:
Land und Kommunen müssen die Quote von Schulabgängerinnen und Schulabgängern ohne Abschluss maßgeblich verringern und alle Jugendlichen zur Ausbildungsreife bringen.
Geflüchtete in Arbeit bringen:
Bund, Länder und Kommunen müssen effiziente Strukturen schaffen, um es den Unternehmen zu erleichtern, die bereits im Land lebenden Geflüchteten so schnell wie möglich in Arbeit zu bringen. Der „Jobturbo“ der Bundesregierung ist ein Schritt in die richtige Richtung – doch die Anreize müssen größer werden, und auch die Kinderbetreuung für Geflüchtete muss besser funktionieren.
Zuwanderung in Arbeit besser regeln:
Wir brauchen Zuwanderung von Arbeits- und Fachkräften für unsere Unternehmen. Die Änderung des Fachkräftezuwanderungsgesetzes hat keinen Durchbruch gebracht. Mitarbeitende aus dem Ausland einzustellen, ist nach wie vor für Unternehmen viel zu kompliziert, es sind zu viele Behörden beteiligt, und es gibt zu viele Stolpersteine.
Arbeitszeit verlängern:
Die Rente mit 63, Diskussionen über die Vier-Tage-Woche – all das geht in die völlig falsche Richtung. Stattdessen müssen Anreize geschaffen werden, dass Mitarbeitende auch über das gesetzliche Rentenalter hinaus unserem Arbeitsmarkt erhalten bleiben. Viele wollen das – warum belohnt man sie nicht dafür?
Wohnraum schaffen:
Ein standortrelevantes Thema in Ballungsräumen wie Köln ist, dass es für Mitarbeitende keine bezahlbaren Wohnungen gibt. Das Ziel der Bundesregierung von 400.000 Wohnungen im Jahr wird seit Jahren nicht mal zur Hälfte erreicht. Wohnungsbau muss schneller, einfacher und billiger werden. Hier sind Bund und Länder gefordert, die überkomplexen gesetzlichen Regeln rund ums Bauen massiv zu vereinfachen, Kommunen müssen Flächen ausweisen und sich mit schnellen Genehmigungsprozessen als attraktive Partner von Investoren präsentieren.
Kostenfalle Unternehmertum! Wer das Geschäft ankurbeln will, sieht sich mit unfassbaren Arbeitskosten konfrontiert (Bild mit KI generiert).
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Zu hohe Arbeitskosten
Ein weiteres Problem für den Standort Deutschland sind die stetig steigenden Arbeitskosten. Das lag in den vergangenen Jahren sicher auch am Fachkräftemangel und der Quasi-Vollbeschäftigung. Denn wenn Arbeits- und Fachkräfte knapp sind, steigt der Preis. So waren dann auch die letzten Tarifabschlüsse sehr hoch. Doch es sind vor allem auch die vom Staat bestimmten Kosten, die Arbeit immer teurer machen. Dieses „Gesamtpaket“, verbunden mit den geringsten Jahresarbeitszeiten im internationalen Vergleich, geht ganz klar auf Kosten der Wettbewerbsfähigkeit unserer Unternehmen. Und der Trend geht immer weiter in die falsche Richtung.
Rentenreform:
Die geplante Rentenreform mag für die SPD für die nächsten Wahlen ein wichtiges Thema sein. Doch sie wird teuer für alle Beitragszahlenden – und macht das System dennoch nicht demografiefester.
Löhne:
Das Bürgergeld und stets steigende politische Mindestlöhne – weit über die Ergebnisse der Mindestlohnkommission hinaus – treiben das ganze Lohngefüge in die Höhe. Da Unternehmen die steigenden Kosten weitergeben müssen, dreht sich die Inflationsspirale immer weiter nach oben.
Fehlzeiten:
Die krankheitsbedingten Fehlzeiten sind nach der Coronakrise förmlich explodiert. Für die Unternehmen gibt es nahezu keine Handhabe gegenzusteuern. Hier sind die gesetzgebenden Stellen und die Sozialpartner dringend gefragt, das Problem einzudämmen.
Arbeitszeiten:
Was den Unternehmen helfen und den Staat kein Geld kosten würde, wäre endlich ein flexibles und auf moderne Arbeitswelten angepasstes Arbeitszeitgesetz.
Marode Infrastruktur
Straßen kaputt, Schienen kaputt, Brücken kaputt. Alle kennen die Nachrichten: Die Kardinal-Frings-Brücke in Düsseldorf ist für den Lkw-Verkehr gesperrt, die Mülheimer Brücke wird seit Jahren saniert, die Deutzer Brücke und die Rodenkirchener Brücke – ebenfalls Sanierungsfälle. Egal ob Autobahnen, Landes- oder Kommunalstraßen, überall bröckelt es. Das gilt auch für das Netz der Deutschen Bahn, den Zustand vieler öffentlicher Gebäude und für viele Leitungsnetze.
Sanierung jetzt:
Die Politik muss handeln. Sprich: Bund und Land müssen mehr Mittel für Infrastrukturinvestitionen bereitstellen. Es ist auch dringend geboten, die Planverfahren zu vereinfachen und zu beschleunigen. Die Behörden müssen an einem Strang ziehen und dürfen sich nicht mehr wechselseitig blockieren. Für all das braucht es den politischen Willen auf allen Ebenen, um den Verfall des Standorts Deutschland zu stoppen.
Mittel nutzen:
Es darf auch nicht länger sein, dass NRW-Umwelt- und -Verkehrsminister Oliver Krischer den Ausbau von Landes- und Bundesstraßen verschleppt und vorhandene Mittel nicht nutzt. Auch wenn man es aus ideologischen Gründen nicht wahrhaben will: Der Verkehr wird auch nach der jüngsten Prognose für den Bundesverkehrswegeplan weiter kräftig zunehmen – alleine beim Güterverkehr um ca. ein Drittel.
Wirtschaftspolitik muss Politik für die Wirtschaft sein
Entbürokratisierung. Sichere, günstige Energie. Genug Arbeits- und Fachkräfte. Geringere Arbeitskosten. Eine funktionierende Infrastruktur. Das braucht die Wirtschaft. Und das ist in anderen Ländern an der Tagesordnung.
Damit diese Länder nicht weiter wie ein Magnet an unseren Unternehmen ziehen, ist jetzt die Politik gefragt. Auf allen Ebenen. In der EU, im Bund, im Land und in den Kommunen. Dazu gehört, sich aus der jeweils eigenen Blase zu lösen, sich der Realität zu stellen und den Standort Deutschland wieder dahin zu bringen, wo er hingehört – international an die Spitze.
Wir befinden uns in einer ernsthaften Strukturkrise. Das bedeutet: Unsere Kaufleute werden nicht länger klagen. Sondern sie schließen ihre Firmen. Oder sie packen gerade ihre Koffer und ihre Unternehmen – und wenden sich ab von einem Land, in dem sie anscheinend politisch nicht mehr gewollt sind. Die Krise ist politisch verursacht. Und deshalb nur durch eine neue Wirtschaftspolitik zu bewältigen, die wieder Politik für – und nicht gegen die Wirtschaft macht. Auch gut zu wissen: Die selbstgemachten Standortnachteile lassen sich nicht mit Fördermilliarden zukleistern. Und ganz bestimmt nicht mit Geld, das gar nicht da ist.
Deutschland braucht eine Politik, die pragmatisch und lösungsorientiert ist. Die den Mittelstand stärkt. Die der Wirtschaft den Raum gibt, zu wachsen und Arbeitsplätze zu schaffen. Es ist Viertel nach 12. Wir müssen als Wirtschaft die Probleme weiter klar benennen. Die Politik muss die Probleme verstehen und die Weichen wieder richtig stellen. Denn nur dann können die Unternehmen wieder Vertrauen in den Standort Deutschland fassen. Und wir können die Deindustrialisierung, die hunderttausende von Arbeitsplätzen und unseren Wohlstand kosten wird, noch aufhalten.
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