Es hakt im Binnenmarkt

Wenn die Unternehmen sich aber aktuell wieder verstärkt dem Binnenmarkt zuwenden, müssen sie feststellen, dass es diesen eigentlich nur im Konjunktiv gibt: ein richtiger Binnenmarkt wäre wohl etwas anderes; dort wäre es ohne  zusätzlichen Aufwand möglich, in jedem Mitgliedsland tätig zu sein; es wäre egal, ob man sein Produkt nach Sachsen oder Spanien verkauft, seine Fachkräfte nach Friedrichshafen oder Frankreich entsendet oder ob man seine Dienstleistung in Potsdam oder in Polen anbietet und ausführt. Leider sieht die Realität anders aus.
Das ist deutlich zu merken anhand der Anfragen, die bei der IHK Hannover zu Geschäftstätigkeiten in der EU eingehen: der  Tenor der meisten Anfragen geht nicht in die Richtung, zu eruieren, in welchem EU-Land aktuell welche Marktchancen zu finden sind oder wie man Geschäftspartner findet. Vielmehr drehen sich die Anfragen fast durchweg darum, welche bürokratischen oder sonstigen Anforderungen zu erfüllen sind, wenn man seine Mitarbeitenden in ein anderes EU-Land schicken oder sein Produkt dort anbieten will.
Einige Beispiele:

Mitarbeiterentsendung

In den Diskussionen der vergangenen Jahre traurige Berühmtheit erlangt hat die A1-Bescheinigung, mit der Mitarbeitende, die im Ausland eingesetzt werden, ihren Sozialversicherungsstatus nachweisen.
Schon bei stundenweisen Einsätzen muss sie vorgehalten und zumeist für jeden Einsatz neu beantragt werden. Zweifellos ein bürokratisches Hindernis. Aber im Rahmen der Entsende-Formalitäten im Binnenmarkt ist die A1-Bescheinigung nur ein  wucherndes Pflänzchen in einem schier undurchdringlichen Dschungel. Denn über die A1-Bescheinigung hinaus sind für Mitarbeiterentsendungen noch eine Vielzahl weiterer Formalitäten zu erledigen. So muss häufig der Einsatz vor Beginn in einem eigenen Landesportal angemeldet werden – mit zusätzlich erforderlichen Spezialangaben: In Frankreich etwa muss auch eine Vertretung benannt werden, die für die Dauer des Einsatzes im Land als Ansprechpartnerin für Fragen fungiert – das können die entsandten Fachkräfte selbst sein, sofern sie ausreichend Französisch sprechen, und Zugriff haben auf ein ganzes Bündel an Unterlagen: Lohnabrechnungen, Arbeitsverträge, Nachweise über das vertraglich zwischen Arbeitgeber und Auftragnehmerin vereinbarte anwendbare Recht, zum Teil noch arbeitsmedizinische Bescheinigungen; das Ganze bitte in einer französischen Übersetzung! Für die Baubranche dann noch ein spezieller Berufsausweis (carte d’identité professionelle BTP), der extra beantragt und bezahlt werden muss – für alle Mitarbeitenden, für jeden einzelnen Einsatz neu!
Besonders unübersichtlich wird es bei der Mitarbeiterentsendung, weil jedes Land andere Anforderungen stellt und es für Unternehmen sehr schwer ist, jeweils die aktuell geltenden Regelungen zu recherchieren. Häufig wird auch die Einhaltung eines Tariflohns gefordert, ohne genaue Angabe, wo man diesen für seine Branche findet. Wenn Unternehmen dann versuchen, den für sie relevanten Mindestlohn auf exklusiv in Finnisch oder Portugiesisch publizierten Internetseiten zu recherchieren, nimmt die Lust auf das Auslandsgeschäft ziemlich schnell ab.

Online-Handel

Ein schönes Beispiel für eine EU-Regelung, die auf Unternehmensebene unüberschaubaren Aufwand bedeutet, ist auch die 2021 in Kraft getretene Marktüberwachungs-Verordnung, die auf den Online-Handel abzielt. Für jedes im B2C-Bereich gehandelte Produkt ist in jedem Land ein Entsorgungskanal zu beauftragen. Auf jedem Produkt sind nach länderspezifischen Vorgaben Informationen und Logos zu den im Land beauftragten Entsorgungskanälen anzubringen. Bei einem Händler, der im kompletten Binnenmarkt tätig ist, lässt sich ein den Anforderungen entsprechendes Label wegen der Größe an vielen Produkten schon kaum anbringen. Es müssen dann aber auch noch in der jeweiligen Landessprache in jedem Entsorgungskanal Reports nach – man ahnt es – landesspezifisch unterschiedlichen Kriterien angefertigt werden. Aber damit ist es lange noch nicht getan. In manchen Ländern muss dann auch noch auf der Rechnung eine Angabe der Lizenznummer des beauftragten Entsorgungskanals erfolgen. 
Noch nicht kompliziert genug? Nun, einzelne Länder fordern zusätzlich auch noch, dass auf der Rechnung bei jeder einzelnen Artikelposition exakt der Euro-Betrag auf der Rechnung angegeben wird, der für diesen Einzelposten an den Entsorgungskanal abgeführt wird. Insgesamt fühlt sich das dann für Online-Händler nicht mehr wie ein europäischer Binnenmarkt an, sondern wie eine Zeitreise in die deutsche Kleinstaaterei vor über 200 Jahren. Die Folge solcher (Über-)Regulierungen: Die Kosten sind zu hoch, um noch alle Märkte zu bedienen. Online-Händler sperren also manche Länder komplett für den Export ihrer Produkte oder sie sperren einzelne ihrer Produkte, für die sich der Aufwand nicht lohnt, für manche Länder. 

Verpackung/Entsorgung 

Ein erklärtes Ziel der EU ist die Erhöhung der Recyclingquoten. Für geschlossene Materialkreisläufe ist es dafür wichtig, dass Abfallbehandlungsanlagen effizient betrieben werden können. Oft erfordert das eine gewisse Größe der Anlagen – kleine EU-Länder aber können solche Anlagen häufig nicht allein auslasten. Der Transport von Abfällen über Grenzen im Binnenmarkt ist wiederum mit einer Vielzahl von Hürden versehen; oft müssen Behörden am Versandort, beim Bestimmungsort und in möglichen Transitländern einbezogen werden.
Die Genehmigung solcher Transporte verschlingt dann rasch fünfstellige Euro-Beträge, nur weil eine Grenze innerhalb des Binnenmarkts überquert wird, während ein Transport innerhalb eines Landes, der zu derselben Recyclinganlage durchgeführt wird, ohne einen solchen Aufwand auskommt – eine klare Ungleichbehandlung, die durch den Binnenmarkt eigentlich abgeschafft werden sollte.

Das letzte Beispiel: die Umsatzsteuer

Auch hier ergibt sich für Unternehmen, die in vielen Ländern des Binnenmarkts tätig sind, rasch ein sehr unüberschaubares Geflecht an unterschiedlichen Sachverhalten, die in jedem Zielmarkt anders, aber dafür dann penibel zu beachten sind: Nicht nur sind die Mehrwertsteuersätze und auch die ermäßigen Sätze in jedem Land anders, sondern die Steuerpflicht hängt noch von vielen weiteren Faktoren ab: ist der Rechnungsempfänger ein deutsches Unternehmen, die Lieferung erfolgt aber in ein anderes Binnenmarktland? Dann ist die Rechnung mit Umsatzsteuer auszustellen. Hat die Kundschaft aber im EU-Empfängerland selbst eine Umsatzsteuer-Id – dann ist diese auf der Rechnung anzugeben und es ist keine deutsche Umsatzsteuer zu berechnen; wobei dann auch noch unterschieden werden muss, ob die ausländische Umsatzsteuer-Id für eine ausländische Tochtergesellschaft des Kunden ausgestellt worden ist oder für das deutsche Mutterunternehmen.
Das ist nur ein einfacher Fall. Kompliziert wird es dann, wenn Dreiecksgeschäfte vorliegen, wenn Vorprodukte im Rahmen einer Lohnveredelung für ausländische Kundinnen bearbeitet und dann an Dritte entweder in Deutschland oder im EU-Ausland weitergeschickt werden – hier und in anderen Konstellationen hängt die Umsatzsteuerpflicht dann noch von weiteren Faktoren ab, unter anderem auch davon, ob eine sogenannte „Gelangenheitsbestätigung“ vorliegt.