Recht und Steuern

A 1 Nr. 178

A 1 Nr. 178

VO (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22.12.2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, Übereinkommen vom 27.9.1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (Brüsseler Übereinkommen)- Unzulässigkeit einer –Anti Suit Injunction gegen ein anderes Verfahren als das (vereinbarte) Schiedsgerichtsverfahren”

1. Eine –Anti Suit Injunction–, d.h. eine gerichtliche Anordnung, die einer Partei die Einleitung oder Fortführung eines Verfahrens vor einem Gericht eines Mitgliedsstaates untersagt, verstößt gegen die EG-VO Nr. 44/2001 und gegen das Brüsseler Übereinkommen.
2. Dies gilt auch für eine Anti Suit Injunction auf Untersagung, ein anderes Verfahren als das (vereinbarte) Schiedsverfahrens einzuleiten oder fortzuführen. Dem steht nicht entgegen, dass Art. 1 Abs. 2d der VO Nr. 44/2001 die Schiedsgerichtsbarkeit aus ihrem Anwendungsbereich ausschließt. Die Injunction würde nämlich das Ziel der VO – Vereinheitlichung der Vorschriften über die internationale Zuständigkeit in Zivil- und Handelssachen und Freizügigkeit von in diesem Bereich ergangenen Entscheidungen – vereiteln.
3. Denn die Injunction würde das staatliche Gericht eines anderen Mitgliedstaates an der Ausübung seiner ihm durch die VO verliehenen Befugnisse hindern, über den Anwendungsbereich der VO, über die Zuständigkeit des Schiedsgerichts und damit über seine eigene Zuständigkeit zu entscheiden.
4. Darum ist eine Anti Suit Injunction „gegen ein anderes als das Schiedsverfahren” unzulässig.

EuGH (Große Kammer) Urteil vom 10.2.2009 – C-185/07 (Allianz SpA und Generali Assicurazioni SpA vs. West Tankers Inc.); IHR 2009, 84 = NJW 2000, 1655 = SchiedsVZ 2009, 120 = RKS A 1 Nr. 178

Aus dem Sachverhalt:

[9] Im August 2000 kollidierte MS „F.C.”, ein der Reederei W.T. gehörendes, von E.SpA gechartertes Schiff, in Syrakus (Italien) mit einer der E.SpA gehörenden Mole und verursachte dort Schäden. Im Chartervertrag zwischen W.T. und E.SpA war die Geltung englischen Rechts und ein Schiedsverfahren in London vereinbart.
[10] E.SpA erhielt von ihren Versicherern A.+G. Schadensersatz in Höhe der Versicherungssumme und leitete hinsichtlich des übrigen Schadens das Schiedsverfahren in London gegen W.T. ein. W.T. bestritt die Haftung.
[11] A.+G. erhoben am 30.7.2003 eine Klage gegen W.T. vor dem Tribunale di Siracusa auf Rückzahlung der an E.SpA gezahlten Beträge: Durch gesetzlichen Forderungsübergang gem. Art. 1916 Codice Civile seien sie in die Rechte von E.SpA eingetreten. W.T. erhob die Einrede der Unzuständigkeit des genannten Gerichts wegen der im Chartervertrag enthaltenen Schiedsvereinbarung. [12] Parallel dazu, am 10.9.2004, leitete W.T. gegen A.+G. ein Verfahren vor dem High Court of Justice (England & Wales), Queen–s Bench Division (Commercial Court) ein mit dem Antrag auf Feststellung, dass nach der geschlossenen Schiedsvereinbarung ihr Rechtsstreit mit A.+G. dem Schiedsverfahren zu unterwerfen sei. W.T. beantragte außerdem den Erlass einer –Anti Suit Injunction”, d.h. einer Anordnung, mit der es A.+G. untersagt werden solle, sich eines anderen Verfahrens als des vereinbarten Schiedsverfahrens zu bedienen und das vor dem Tribunale di Siracusa eingeleitete Verfahren fortzuführen.
[13] Mit Urteil vom 21.3.2005 gab der High Court den Anträgen von W.T. statt und erließ gegen A.+G. die beantragte Anti Suit Injunction. A.+G. legten gegen das Urteil Rechtsmittel zum House of Lords ein: der Erlass einer solchen Anordnung widerspreche der EG-VO Nr. 44/2001.

1. [14] Das House of Lords [= 2007 UKHL 4 = IHR 2007,83] nimmt zunächst Bezug auf die Urteile vom 9.12.2003 (Gasser C-116/02 Slg. 2003, I-14693) und vom 27.4.2004 (Turner C-159 Slg.2004, I-3565), mit denen im Wesentlichen entschieden worden sei, dass eine Anordnung, mit der einer Partei die Einleitung oder Fortführung eines Verfahrens vor einem Gericht eines Mitgliedstaates verboten werde, mit dem durch die Verordnung Nr. 44/2001 geschaffenen System nicht vereinbar sei, selbst wenn sie von dem nach dieser VO zuständigen Gericht erlassen werde. Dies beruhe darauf, dass die VO Nr. 44/2001 eine abschließende, einheitliche Regelung der Zuständigkeitsverteilung zwischen den Gerichten der Mitgliedstaaten enthalte, die einander bei der ordnungsgemäßen Anwendung dieser Regelung Vertrauen entgegenbringen müssten.
[15] Dieser Grundsatz lasse sich jedoch nicht auf die Schiedsgerichtsbarkeit erstrecken, die nach Art. 1 Abs. 2 b der VO Nr. 44/2001 vollständig von deren Anwendungsbereich ausgeschlossen sei. In diesem Bereich gebe es keine gemeinschaftsrechtliche Regelung, deren Bestehen aber eine notwendige Voraussetzung dafür sei, dass zwischen den Mitgliedsstaaten gegenseitiges Vertrauen entstehe und praktiziert werden könne. Überdies ergebe sich aus dem Urteil vom 25.7.1991 (Rich C-190/89 Slg. 1991 I-3855), dass der Ausschlusstatbestand des Art. 1 Abs. 2 d der VO Nr. 44/2001 nicht nur für Schiedsverfahren als solche gelte, sondern auch für gerichtliche Verfahren, die die Schiedsgerichtsbarkeit zum Gegenstand hätten. Im Urteil vom 17.11.1998 (Van Uden C-391/95 Slg. 1998 I-7091) sei klargestellt worden, dass die Schiedsgerichtsbarkeit dann Gegenstand eines Verfahrens sei, wenn dieses auf die Sicherung des Anspruchs ziele, den Rechtsstreit im Wege der Schiedsgerichtsbarkeit zu erledigen, was im Ausgangsrechtsstreit der Fall sei.
[16] Zudem könne die an A.+G. gerichtete Anordnung, mit denen ihnen das Betreiben eines anderen Verfahrens als des Schiedsverfahrens und die Fortführung des Verfahrens vor dem Tribunale die Siracusa untersagt werde, deshalb nicht gegen die VO Nr. 44/2001 verstoßen, weil der gesamte Bereich der Schiedsgerichtsbarkeit außerhalb des Anwendungsbereichs der VO liege. [17] Schließlich weist das House of Lords darauf hin, dass die Gerichte des Vereinigten Königreiches seit vielen Jahren Anti-Suit-Injunctions erließen. Diese Praxis sei ein wirksames Mittel für das Gericht am Sitz des Schiedsgerichts, das die richterliche Kontrolle über Letzteres ausübe, da es die Rechtssicherheit dadurch fördere, dass es die Möglichkeit von Konflikten zwischen dem Schiedsspruch und dem Urteil eines nationalen Gerichts reduziere. Zudem trage diese Praxis, wenn auch die Gerichte der anderen Mitgliedsstaaten sie befolgten, zur Wettbewerbsfähigkeit der Europäischen Gemeinschaft gegenüber weltweit anerkannten Zentren der Schiedsgerichtsbarkeit wie New York, den Bermudas und Singapur bei.
[18] Vor diesem Hintergrund hat das House of Lords das Verfahren ausgesetzt und dem Europäischen Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:
„Ist es mit der Verordnung Nr. 44/2001 vereinbar, dass ein Gericht eines Mitgliedstaates eine Entscheidung erlässt, wonach eine Person es zu unterlassen hat, ein Verfahren in einem anderen Mitgliedstaat einzuleiten oder fortzuführen, weil ein solches Verfahren gegen eine Schiedsvereinbarung verstößt?”
Zur Vorlagefrage:
[19] Mit seiner Frage möchte das House of Lords wissen, ob eine solche Anordnung mit der VO Nr. 44/2001 unvereinbar ist, obwohl Art. 1 Abs. 2 d der VO die Schiedsgerichtsbarkeit vom Anwendungsbereich der VO ausschließt.
[20] Eine solche Anti Suit Injunction kann sich an den tatsächlichen oder potentiellen Urheber einer Klage im Ausland richten. Wie die Generalanwältin–ausgeführt hat, setzt sich der Adressat einer solchen Anordnung, wenn er ihr nicht nachkommt, einer Verfolgung wegen Missachtung des Gerichts aus, die mit Zwangshaft oder Beschlagnahme seines Vermögens bestraft werden kann. [21] Sowohl W.T. wie die Regierung des Vereinigten Königreichs meinen, dass eine solche Anordnung nicht mit der VO unvereinbar sein könne, weil deren Art. 1 Abs. 2 d die Schiedsgerichtsbarkeit vom Anwendungsbereich dieser VO ausnehme.
[22] Für die Feststellung, ob ein Rechtsstreit in den Anwendungsbereich dieser VO fällt, ist nur der Gegenstand des Verfahrens zu berücksichtigen (Urteil Rich a.a.O. Rd-Nr. 26). Die Zugehörigkeit zum Anwendungsbereich der VO bestimmt sich nach der Rechtsnatur der durch das fragliche Verfahren gesicherten Ansprüche (Urteil Van Uden a.a.O. Rd-Nr. 33).
[23] Ein Verfahren wie das Ausgangsverfahren, das zum Erlass einer Anti Suit Injunction führt, kann daher nicht in den Anwendungsbereich der VO fallen.
2. [24] Jedoch kann ein Verfahren, auch wenn es nicht in den Anwendungsbereich der VO fällt, gleichwohl Folgen haben, die deren praktische Wirksamkeit beeinträchtigen, und zwar kann es verhindern, dass die Ziele einer Vereinheitlichung der Vorschriften über die internationale Zuständigkeit in Zivil- und Handelssachen und der Freizügigkeit von in solchen Sachen ergangenen Entscheidungen erreicht werden. So verhält es sich insbesondere dann, wenn ein derartiges Verfahren ein Gericht eines anderen Mitgliedstaates an der Ausübung der Befugnisse hindert, die ihm durch die VO Nr. 44/2001 verliehen werden.
[25] Es ist daher zu prüfen, ob das von A.+G. beim Tribunale di Siracusa gegen W.T. eingeleitete Verfahren selbst unter die VO Nr. 44/2001 fällt, und sodann, wie sich die Anti Suit Injunction auf dieses Verfahren auswirkt.
[26] Insoweit ist, wie die Generalanwältin in ihren Schlussanträgen ausgeführt hat, davon auszugehen, dass dann, wenn ein Verfahren nach seinem Streitgegenstand, d.h. nach der Rechtsnatur der in diesem Verfahren zu sichernden Ansprüche, etwa eines Schadensersatzanspruchs, in den Anwendungsbereich der VO Nr. 44/2001 fällt, eine Vorfrage, die die Anwendbarkeit einer Schiedsvereinbarung einschließlich deren Gültigkeit betrifft, ebenfalls in den Zuständigkeitsbereich dieser Verordnung fällt. Diese Schlußfolgerung wird bestätigt durch Rd-Nr. 35 des Evrigenis/Kerameus-Berichts über den Beitritt der Republik Griechenland zum Übereinkommen vom 27. September 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 1972 L 299 S. 32, im Folgenden: Brüsseler Übereinkommen – ABl. 1986 C 298 S. 1). Danach kann nach dem Brüsseler Übereinkommen inzidenter die Gültigkeit eines Schiedsvertrages geprüft werden, auf den sich die eine Partei beruft, um die internationale Zuständigkeit des Gerichts geltend zu machen, vor dem sie nach dem Übereinkommen verklagt wird.
[27 ] Daraus folgt, dass die von W.T. vor dem Tribunale di Siracusa erhobene Unzuständigkeitseinrede, die auf das Bestehen einer Schiedsvereinbarung gestützt ist, einschließlich der Frage der Gültigkeit dieser Vereinbarung in den Anwendungsbereich der VO Nr. 44/2001 fällt und dass es daher ausschließlich Sache dieses Gerichts ist, gemäß den Art. 1 Abs. 2 d und 5 Nr. 3 dieser VO über diese Einrede sowie über seine eigene Zuständigkeit zu entscheiden.
3. [28] Ein für die Entscheidung über einen Rechtsstreit normalerweise nach Art. 5 Nr. 3 der VO Nr. 44/2001 zuständiges Gericht eines Mitgliedsstaates durch eine Anti Suit Injunction daran zu hindern, im Einklang mit Art. 1 Abs. 2 d dieser VO gerade über deren Anwendbarkeit auf den bei ihm anhängig gemachten Rechtsstreit zu befinden, läuft deshalb notwendig darauf hinaus, ihm seine Befugnis zu nehmen, gemäß der VO über seine eigene Zuständigkeit zu entscheiden.
[29] Daraus folgt zunächst, dass eine Anti Suit Injunction wie die im Ausgangsverfahren ergangene nicht den sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs zum Brüsseler Übereinkommen ergebenden allgemeinen Grundsatz wahrt, wonach jedes angerufene Gericht nach dem für dieses Gericht geltenden Recht bestimmt, ob es für die Entscheidung über den bei ihm anhängig gemachten Rechtsstreit zuständig ist (in diesem Sinne Urteil Gasser Rd-Nrn. 48 und 49). Die VO 44/2001 gestattet - abgesehen von einigen begrenzten, im Ausgangsrechtsstreit nicht einschlägigen Ausnahmen - nicht die Prüfung der Zuständigkeit eines Gerichts eines Mitgliedsstaats durch ein Gericht eines anderen Mitgliedsstaates (Urteile vom 27.6.1991 Overseas Union Insurance u.a. C-351/89 Slg. 1991 I-3317 Rd-Nr. 24, und Turner Rd-Nr. 26). Diese Zuständigkeit bestimmt sich unmittelbar nach den Vorschriften der VO einschließlich derjenigen über ihren Anwendungsbereich. Ein Gericht eines Mitgliedsstates ist daher in keinem Fall besser in der Lage, über die Zuständigkeit eines Gerichts eines anderen Mitgliedsstaates zu befinden (Urteile Overseas Union Insurance u.a. Rd-Nr. 23, und Gasser Rd-Nr. 48).
[30] Sodann widerspricht eine solche Injunction auch dem Vertrauen, das die Mitgliedstaaten gegenseitig ihren Rechtssystemen und Rechtspflegeorganen entgegenbringen und auf dem das Zuständigkeitssystem der VO Nr. 44/2001 beruht (in diesem Sinne Urteil Turner Rd-Nr. 24); denn sie beeinträchtigt das Gericht eines anderen Mitgliedsstaates darin, die ihm durch die VO verliehenen Befugnisse auszuüben, nämlich auf der Grundlage der Bestimmungen der VO über deren Anwendungsbereich, darunter ihres Art. 1 Abs. 2 d, über die Anwendbarkeit der VO zu entscheiden.
[31] Schließlich könnte sich, wenn das Tribunale durch eine solche Injunction daran gehindert wäre, selbst die Vorfrage der Gültigkeit oder Anwendbarkeit der Schiedsvereinbarung zu prüfen, eine Partei dem Verfahren einfach dadurch entziehen, dass sie sich auf diese Schiedsvereinbarung beruft, und der Kläger, der diese für hinfällig, unwirksam oder nicht erfüllbar hält, sähe sich dadurch vom Zugang zu dem staatlichen Gericht ausgeschlossen, das er nach Art. 5 Abs. 3 der VO angerufen hat, und wäre somit eines Form des gerichtlichen Rechtsschutzes beraubt, auf die er Anspruch hat.
4. [32] Folglich ist eine Anti Suit Injunction wie die im Ausgangsverfahren fragliche mit der Verordnung Nr. 44/2001 nicht vereinbar. [33] Dieses Ergebnis wird durch Art. II Abs. 3 des NewYorker Übereinkommens bestätigt, wonach das Gericht eines Vertragsstaats, das wegen eines Streitgegenstandes angerufen wird, hinsichtlich dessen die Parteien eine Schiedsgerichtsvereinbarung abgeschlossen haben, die Parteien auf Antrag einer von ihnen auf das schiedsrichterliche Verfahren verweist, sofern es nicht feststellt, dass die Vereinbarung hinfällig, unwirksam oder nicht erfüllbar ist.
[34] Nach alledem ist auf die gestellte Frage zu antworten, dass der Erlass einer Anordnung durch ein Gericht eines Mitgliedstaates, mit der einer Person die Einleitung oder Fortführung eines Verfahrens vor den Gerichten eines anderen Mitgliedstaates mit der Begründung verboten wird, dass ein solches Verfahren gegen eine Schiedsvereinbarung verstoße, mit der Verordnung Nr. 44/2001 unvereinbar ist.