Recht und Steuern

A4b Nr. 44

A 4 b Nr. 44
Art. 103 Abs. 1 GG - Rechtliches Gehör in Verfahren vor ordentlichen Gerichten zur Nachprüfung von Schiedssprüchen, hier: Verfassungsbeschwerde eines ausländischen Staates gegen die Entscheidung über eine auf § 826 BGB gestützte Klage gegen die Vollstreckung aus einem ausländischen Schiedsspruch. Privatgutachten. Überraschungsentscheidung
1. Juristische Personen des öffentlichen Rechts, auch ausländische Staaten, können sich auf die grundrechtsgleichen Rechte der Art. 101 Abs. 1 S. 2 und 103 Abs. 1 GG berufen.
2. Art. 103 Abs. 1 GG verpflichtet das Gericht, Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und zu erwägen, sowie den Beteiligten Gelegenheit zur Stellungnahme zu entscheidungserheblichen Fragen einzuräumen; er garantiert weder die Richtigkeit der getroffenen tatsächlichen Feststellungen noch eine ordnungsmäßige Subsumtion und Entscheidungsbegründung und schützt auch nicht davor, dass das Vorbringen eines Beteiligten aus Gründen des formellen oder materiellen Rechts teilweise oder ganz unberücksichtigt bleibt.
3. Diese Pflicht verbietet auch „Überraschungsentscheidungen”. Eine solche liegt nur vor, wenn sie sich ohne vorherigen richterlichen Hinweis auf einen Gesichtspunkt stützt, mit dem auch ein gewissenhafter und kundiger Beteiligter nach dem bisherigen Prozessverlauf nicht zu rechnen brauchte. Sie setzt eine gravierende Enttäuschung prozessualen Vertrauens voraus; diese fehlt, wenn das Gericht die Beteiligten zuvor auf seine Einschätzung der entscheidungserheblichen Fragen hingewiesen hatte.
4. Rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung des Anspruchs auf wirkungsvollen Rechtsschutz (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG), so muss er darlegen, das Gericht habe ihm den Zugang zu den in den Verfahrensordnungen eingeräumten Instanzen in unzumutbarer, sachlich nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert.
BVerfG Beschl.v. 4.9.2008 - 2 BvR 2162, 2271/07; WM Zeitschrift f.Wirtschafts- und Bankrecht 2008, 2084 = RKS A 4 b Nr. 44
Aus dem Sachverhalt:
Die Beschwerdeführerin (Bf.), die Russische Föderation, wurde durch einen Schiedsspruch des internationalen Schiedsgerichts bei der Handelskammer in Stockholm zur Zahlung einer Entschädigung an den Beklagten des Ausgangsverfahrens, eines deutschen Staatsangehörigen, verpflichtet. Dem Schiedsverfahren lag der Vertrag der Bundesrepublik Deutschland und der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen vom 13.6.1989 (BGBl. II 1990 S. 342) zugrunde. Der Schiedsspruch wurde durch einen Beschluss des Kammergerichts Berlin für vorläufig vollstreckbar erklärt. Die gegen den Schiedsspruch erhobene Nichtigkeitsklage der Bf. wurde von den zuständigen schwedischen Gerichten rechtskräftig abgewiesen.
Nachdem der Bekl. des Ausgangsverfahrens Zwangssicherungshypotheken für Grundstücke der Bf. in Köln eintragen ließ, beantragte die Bf. vor dem LG Köln, den Bekl. zu verurteilen, den Schiedsspruch in Verbindung mit den vollstreckbaren Ausfertigungen des Beschlusses des Kammergerichts herauszugeben und die Vollstreckung daraus zu unterlassen: Der Bekl. habe die Anwendung des deutsch-sowjetischen Vertrages und damit die Zuständigkeit des Schiedsgerichts durch falsche Angaben zu seinem angeblich ununterbrochenen Aufenthalt in Deutschland erschlichen. Das LG Köln wies die Klage durch das in diesem Verfahren angegriffene Urteil vom 7.12.2006 ab: Der Anspruch aus § 826 BGB scheitere u.a. daran, dass die Bf. die Anforderungen an die Darlegung der Unrichtigkeit des Schiedsspruchs nicht erfüllt habe. Sie habe nicht substantiiert dargelegt, dass sie nicht in der Lage gewesen sei, die von ihr vorgebrachten Einwendungen im Schiedsverfahren oder in der sich daran anschließenden Nichtigkeitsklage geltend zu machen.
Die Bf. legte daraufhin Berufung ein. Das OLG Köln wies im Beschl.v. 14.5.2007 darauf hin, dass es beabsichtige, die Berufung der Bf. nach § 522 Abs. 2 ZPO zurückzuweisen, u.a. weil die Bf. die Unrichtigkeit des Schiedsspruchs nicht hinreichend dargelegt und unter Beweis gestellt habe. Der Vorwurf, der Bekl. habe durch unrichtige Angaben zum Wohnsitz die Zuständigkeit des Schiedsgerichts erschlichen, sei schon deshalb unbeachtlich, weil unter Unrichtigkeit nur die materielle Unrichtigkeit verstanden werden könne. In einem weiteren Bschluss vom 9.7.2007 korrigierte des OLG Köln auf eine Stellungnahme der Bf. hin seine Rechtsansicht. Zwar sei der Wohnsitz des Bekl. nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Zuständigkeit des Schiedsgerichts, sondern auch für die materielle Anspruchsberechtigung des Bekl. aus dem deutsch-sowjetischen Vertrag von Bedeutung. Der Vortrag der Bf. zur Frage des Wohnsitzes sei jedoch im Hinblick auf die Unrichtigkeit des Schiedsspruchs unsubstantiiert. Selbst wenn man die Richtigkeit der von ihr vorgelegten Auskünfte über den Aufenthalt des Bekl. in der Russischen Föderation unterstellte, wäre damit nicht widerlegt, dass der Bekl. vor dem Hintergrund seiner gesamten persönlichen und geschäftlichen Beziehungen in Deutschland jedenfalls seinen Hauptwohnsitz in Deutschland beibehalten habe. Für die Voraussetzungen des § 826 BGB trage die Bf. die Beweislast. Darüber hinaus datierten die von der Bf. vorgelegten Unterlagen teilweise aus 1999 und 2003, so dass die unterstellte Unrichtigkeit des Schiedsspruchs zumindest auch auf nachlässiger Prozessführung beruhe.
Die Bf. legte hierzu ein in ihrem Auftrag erstelltes Privatgutachten eines Zivilrechtslehrers vor, das den Anspruch der Bf. aus § 826 BGB bejahte. Durch den von der Bf. angegriffenen Beschluss vom 6.8.2007 wies das OLG Köln die Berufung der Bf. unter Bezug auf die vorangegangenen Beschlüsse vom 14.5. und 9.7.2007 nach § 522 ZPO zurück; die Stellungnahme der Bf. rechtfertige keine abweichende Beurteilung.
Die daraufhin von der Bf. . erhobene Anhörungsrüge nach § 321 a ZPO wurde durch den Beschl. des OLG Köln vom 12.9.2007 als unbegründet zurückgewiesen.

Aus den Gründen:
1. Die Verfassungsbeschwerde ist unzulässig. Zwar kann sich die Beschwerdeführerin als ausländischer Staat vor deutschen Gerichten zumindest auf Art. 103 Abs. 1 GG berufen. Denn juristische Personen des öffentlichen Rechts können sich jedenfalls auf die grundrechtsgleichen Rechte der Art. 101 Abs. 1 S. 2 und Art. 103 Abs. 1 GG berufen (BVerfGE 61, 82, 104; 75, 192, 200 = WM 1987, 801), In der Rechtsprechung des BVerfG noch ungeklärt ist allerdings die Frage, ob ein ausländischer Staat auch eine Verletzung der von der Bf. ebenfalls gerügten Grundrechte aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3, Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 und Art. 19 Abs. 4 GG geltend machen kann. Die Zweifel an der umfassenden Antragsberechtigung der Bf. können jedoch dahinstehen, da die Verfassungsbeschwerde jedenfalls aus anderen Gründen unzulässig ist.
2. Die Bf. hat die Möglichkeit einer Verletzung von Grundrechten und grundrechtsgleichen Rechten nicht hinreichend substantiiert nach § 92, § 23 Abs. 1 S. 2 BVerfGG dargetan. Eine Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG durch das Urteil des LG Köln und den Beschluss des OLG Köln vom 6.8.2007 ist nicht ersichtlich.
3. Soweit die Bf. die Beweiswürdigung des OLG Köln, insbesondere das Übergehen von Beweismitteln zum Aufenthalt des Bekl. des Ausgangsverfahrens, rügt und die inhaltliche Unrichtigkeit des Entscheidungen des LG und des OLG geltend macht, verkennt sie den Schutzbereich von Art. 103 Abs. 1 GG. Dieser verpflichtet das Gericht, Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen, nicht aber, der Rechtsansicht der Bf. zu folgen (BVerfGE 64, 64, 1, 12 = WM 1983, 722; 87, 1, 33). Art. 103 Abs. 1 GG garantiert weder die Richtigkeit der getroffenen tatsächlichen Feststellungen noch eine ordnungsmäßige Subsumtion und Entscheidungsbegründung (BVerfGE 65, 293, 295) und schützt auch nicht davor, dass das Vorbringen eines Beteiligten aus Gründen des formellen oder materiellen Rechts teilweise oder ganz unberücksichtigt bleibt (BVerfGE 21, 191, 194; 70, 288, 294). Soweit die Bf. vorträgt, es handle sich bei dem Beschluss des OLG Köln vom 6.8.2007 um eine Überraschungsentscheidung, weil das von ihr vorgelegte Privatgutachten eines Zivilrechtslehrers zu Fragen des Bestehens eines Anspruchs aus § 826 BGB nicht gewürdigt worden sei, kann sie auch damit keine Gehörsverletzung begründen. Zwar verbietet die in Art. 103 Abs. 1 GG niedergelegte Pflicht der Gerichte, den Beteiligten Gelegenheit zur Stellungnahme zu entscheidungserheblichen Fragen einzuräumen, „Überraschungsentscheidungen”. Diese setzen allerdings voraus, dass sie sich ohne vorherigen richterlichen Hinweis auf einen Gesichtspunkt stützen, mit dem auch ein gewissenhafter und kundiger Beteiligter nach dem bisherigen Prozessverlauf nicht zu rechnen brauchte. Eine Überraschungsentscheidung setzt eine gravierende Enttäuschung prozessualen Vertrauens voraus (BVerfGE 84, 188, 190; 86, 133, 144; 98, 218, 263). Vorliegend hat das OLG Köln jedoch auf seine Einschätzung der entscheidungserheblichen Fragen in zwei Beschlüssen vom 14.5. und 9.7.2007 hingewiesen. Die Bf. durfte es zwar für möglich halten,. das OLG durch das von ihr vorgelegte Privatgutachten von ihrem rechtlichen Standpunkt zu überzeugen, aus Sicht eines gewissenhaften und kundigen Beteiligten durfte sie aber darauf nicht vertrauen.
4. Eine Verletzung des für zivilrechtliche Streitigkeiten allein aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. 20 Abs. 3 GG und nicht aus Art. 19 Abs. 4 GG folgenden Anspruchs auf wirkungsvollen Rechtsschutz (BVerfGE 54, 277, 291; 93, 99, 107) erschließt sich aus dem Vortrag der Bf., das OLG Köln habe das vorinstanzliche Urteil in seinem Beschluss vom 6.8.2007 nicht hinreichend kontrolliert, ebenfalls nicht. Im Ergebnis greift sie auch hier die Beweiswürdigung des OLG und die inhaltliche Unrichtigkeit der Entscheidungen des LG und des OLG an. Sie hätte aber darlegen müssen, dass das OLG ihr den Zugang zu den in den Verfahrensordnungen eingeräumten Instanzen in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert habe (BVerfGE 74, 228, 234), indem es etwa § 522 Abs. 2 ZPO willkürlich ausgelegt und angewendet habe (BVerfG Beschl.v.29.5.2007 - 1 BvR 624/03).