„Es werden Ängste geschürt und falsche Bilder gezeichnet“

Kann sich die Wirtschaft in Dortmund nur weiter entwickeln, wenn Grün- zu Gewerbeflächen werden? IHK-Hauptgeschäftsführer Stefan Schreiber hat darauf eine klare Antwort - und begründet sie in einem Interview mit Peter Wulle von den Ruhr Nachrichten vom 2. Juli 2025, das wir an dieser Stelle mit ausdrücklicher Genehmigung des Verlags veröffentlichen.
Hier das Interview im Wortlaut:
Wenn am Donnerstag, 3. Juli, im Rat der Stadt Dortmund die Wirtschaftsflächenstrategie beraten wird, soll die Politik der Verwaltung unter anderem erlauben, die Ausweisung neuer Wirtschaftsflächen zu prüfen. Die Ansiedlung von Industrie und Gewerbe etwa in der Brechtener Niederung wäre damit nicht beschlossen, aber weiter denkbar. SPD und Grüne, die zusammen eine Mehrheit im Rat haben, lehnen das ab, wollen Grünflächen möglichst nicht zu Wirtschaftsflächen machen. Das wiederum kritisiert die Industrie- und Handelskammer (IHK) zu Dortmund. Als Körperschaft des öffentlichen Rechts ist sie keine Planungsbehörde, sondern vertritt die Interessen der gewerblichen Wirtschaft in der Region und kann im Sinne ihrer Mitgliedsunternehmen nur Empfehlungen geben. Welche das sind und warum, darüber haben wir mit dem IHK-Hauptgeschäftsführer Stefan Schreiber gesprochen.
Herr Schreiber, zusammen mit der Handwerkskammer und ähnlich wie die Unternehmensverbände Dortmund und Umgebung kritisieren sie SPD und Grüne scharf dafür, dass sie für Firmenansiedlungen erstmal alte Industrieflächen nutzen und nur in Ausnahmefällen eine Gewerbeentwicklung im Freiraum wollen. Was ist denn so falsch daran?
Es ist falsch, weil es die Realitäten verkennt. Leider gibt es in der Öffentlichkeit allzu oft ein völlig verzerrtes Bild davon, wie viel Fläche von der Wirtschaft in Anspruch genommen wird. Lassen Sie mich die wirkliche Situation beschreiben: Die Wirtschaft nimmt nur noch, Prozent der Gesamtfläche ein. Und selbst diese kleine Fläche ist seit Jahren rückläufig, denn auch in Dortmund werden gewerblich oder industriell genutzte Flächen verstärkt in Wohnbauflächen oder für Freizeitnutzungen umgewandelt, ohne dass an anderer Stelle für Ersatz gesorgt wird. Wer bei der Entwicklung von Wirtschaftsflächen den Status quo beibehalten möchte – also nur an die Altflächen denkt – unterstützt damit eine Rückentwicklung. Deshalb kritisieren wir die Vorlage scharf. Übrigens richtet sich unsere Kritik nicht gegen die vorrangige Besiedlung von Altflächen …
Sondern?
… sondern gegen das beabsichtigte Denk- und Planungsverbot für neue Gewerbeflächen. Der Antrag ist ja so zu verstehen, dass erst dann die Planungen für Neuflächen aufgenommen werden, wenn der letzte Quadratmeter Altflächen vermarktet ist. Doch die Neuplanungen dauern rund 15 Jahre, und zwar mit unsicherem Ausgang. Was macht Dortmund in der Zwischenzeit? Eine solche Investitionslücke kann sich die Stadt einfach nicht leisten. Deshalb plädieren wir für eine parallele Entwicklung.
Bis wir in Dortmund beim letzten Quadratmeter Altfläche sind, wird es noch dauern. Ich denke nur mal an das brach liegende Industrieareal von Hoesch Spundwand (HSP-Fläche), für das das Stadtentwicklungsprojekt Smart Rhino krachend gescheitert ist. Das ist doch eine 52 ha große, verfügbare Wirtschaftsfläche, oder nicht?
Die ursprüngliche Planung der HSP-Fläche mit der Ansiedlung der Fachhochschule ist ein gutes Beispiel. In dieser Planung wäre nur ein geringer Teil der Fläche für die Wirtschaft übriggeblieben. Und selbst diese Restfläche hätte nur für „Nicht störendes Gewerbe“ zur Verfügung gestanden. Für produzierende Betriebe wären die ganzen 52 Hektar vollständig verloren gewesen. Blicken wir aber gerne auch in die Zukunft und stellen uns vor, dass bei der Neuplanung eine volle Kehrtwende erfolgt und die gesamte HSP-Fläche der Wirtschaft zur Verfügung steht. Unsere statistischen Berechnungen zeigen, dass von der Bruttofläche nur 57 Prozent am Ende für eine Ansiedlung übrigbleiben. Egal wie die Entscheidung für die zukünftige Nutzung also ausfällt: Der Wirtschaft gehen hier etwa 22 Hektar verloren – und wenn es nach dem Willen von SPD und Grünen geht, dann ohne eine Chance auf eine Kompensation.
Ich kann noch andere vorhandene Industriebrachen nennen: das Gelände des abgerissenen Knepper-Kraftwerks in Oestrich/Castrop-Rauxel etwa. Die Fläche ist über 50 ha groß und wird gerade aufbereitet. Oder das Areal Kokerei Kaiserstuhl auf der Westfalenhütte, das rund 46 Hektar groß ist. Zusammengenommen sind diese beiden Flächen fast so groß wie das über Jahrzehnte zum Technologie- und Dienstleistungsstandort entwickelte Stahlwerksgelände Phoenix West (115 ha). Lassen Sie die auch nicht gelten?
Doch, natürlich. Diese Flächen sind unverzichtbar. Ich erläutere Ihnen aber auch, wie komplex das Thema Wirtschaftsflächen ist: Die Politik macht es sich manchmal zu einfach und Fläche ist nicht gleich Fläche. Für das Gewerbe auf Phoenix West oder den Technologiepark wurden strenge Auswahlkriterien gestellt, sodass die Vermarktung viele Jahre gedauert hat. Deshalb mussten parallel weitere Flächen mit anderen Ansprüchen entwickelt werden. Flächenpolitik lebt mehr denn je von Angeboten, die verschiedene Optionen bieten müssen. Vor allem die Transformation der Wirtschaft mit den Schwerpunkten Kreislaufwirtschaft, Energiewende und Wasserstoff braucht neue Flächen.
Sie sagen also, dass neben diesen Flächenrevitalisierungen auch noch neue Flächenausweisungen unerlässlich sind. Das heißt, Sie sind zum Beispiel dafür, die herrlich grüne Landschaft in der Brechtener Niederung zu einem Industrie- und Gewerbegebiet zu machen?
Es geht der IHK nicht um eine konkrete Fläche, sondern um den Grundsatz: Es darf in Dortmund kein Denk- und Planungsverbot für neue Wirtschaftsflächen geben. Leider werden in den Diskussionen Ängste geschürt und falsche Bilder gezeichnet. Ihre Frage suggeriert bereits, dass man etwas verliert, wenn eine landwirtschaftlich intensiv genutzte Fläche zu einem modernen Gewerbegebiet wird. Stellen Sie sich stattdessen klimaneutrale Gebäude mit hochwertigen Arbeitsplätzen, Dachbegrünung, modern gestalteten Außengeländen mit Fuß- und Radwegen und Betriebskindergärten vor, die auch den Nachbarn offenstehen. Ein solches Gebiet in der Nachbarschaft würden viele Anwohner wohl nicht ablehnen. Ich plädiere dafür, die konkreten Anforderungen von Anwohnern aufzunehmen in einen Kriterienkatalog für solche Wirtschaftsflächen. Damit entsteht ein Dialog und keine Fronten. In benachbarten Kommunen in unserem IHK-Bezirk gelingt eine solche positive Einbindung.
Verstehen Sie denn die Empörung von Bürgerinnen und Bürgern, die in Sonntagsreden hören, wie wichtig Klimaschutz und der Erhalt natürlicher Lebensräume ist, und die dann erleben, wie ganz anders gehandelt wird. Deshalb jetzt nochmal die Frage: Was ist so falsch daran, wenn SPD und Grüne sagen, nur aus Bequemlichkeitsgründen, weil die Nutzung altindustrieller Flächen langwierig und teuer ist, soll kein Freiraum versiegelt werden?
Noch einmal ganz langsam: Ich wiederhole mich, dass die Entwicklung der Altflächen unverzichtbar ist, aber nicht ausreicht. Deshalb brauchen wir parallel einen Planungsprozess mit Vorgaben der Politik. Wir sind uns mit der SPD und den Grünen einig, dass nicht jede Freifläche, die diskutiert wird, sich am Ende als Gewerbegebiet eignet. Das ist genau der Grund, warum eine breite Suche und Prüfung von Potenzialen stattfinden muss. Auch die Energiewende und der Klimaschutz benötigen übrigens Flächen. Es reicht also nicht aus, in denselben Sonntagsreden auch gute Arbeitsplätze zu versprechen, aber nicht die Voraussetzungen zu schaffen. Es ist vielmehr die Aufgabe der Politik, eine faire Abwägungsentscheidung zwischen den Interessen zu treffen. Leider schiebt der Antrag von SPD und den Grünen nach Einschätzung von IHK, Handwerkskammer und dem Arbeitgeberverband die Interessen der Wirtschaft vollständig beiseite, weil man offenbar nur dort zu neuen Wirtschaftsflächen bereit ist, wo kein Anwohner Protest anmeldet, und kein ökologisches Schutzinteresse besteht.
Eine Nachfrage dazu: Es soll so sein, dass es bei einer altindustriellen Fläche 175 Euro pro Quadratmeter kostet, bis sie vermarktet werden kann, während die Kosten im Freiland nur bei 90 Euro pro Quadratmeter liegen. Können Sie das bestätigen?

Diese Größenordnungen gehen in die richtige Richtung. Es handelt sich aber nur um Durchschnittswerte. Eine Brachennutzung kann auch mal günstiger ausfallen und die Inanspruchnahme einer Freifläche teurer – je nach Lage, Beschaffenheit der Fläche und Verkehrsanbindung. Gerade deshalb plädieren wir dafür, alle möglichen Flächenpotenziale ergebnisoffen zu prüfen.
Ist es neben den Kosten für die Revitalisierung von Altflächen nicht auch ein Kirchturmdenken, das zu einem Flächenfraß führt? Laut Regionalverband Ruhr liegt das Brachflächenpotenzial für gewerblich-industrielle Entwicklung im Ruhrgebiet bei rund 678 Hektar. Muss das nicht ein Totschlagargument für jeden Griff in einen Freiraum wie die Brechtener Niederung sein? Wie ist es zu verantworten, in Dortmund grüne, idyllische Areale zu versiegeln, während in benachbarten Städten große Industriebrachen vor sich hin gammeln?
Nach den Zahlen der Business Metropole Ruhr wurden von Mitte 2021 bis 2023 insgesamt 370 Hektar an Gewerbe- und Industrieflächen in Anspruch genommen – also rund 185 Hektar pro Jahr. Davon entfielen durchschnittlich rund 130 Hektar (70 Prozent) auf Brachen und 55 Hektar auf Freiflächen. In Dortmund war das Verhältnis Brachen/ Freiflächen im gleichen Zeitraum noch eindeutiger: Rund 17 Hektar Brachflächen und etwa ein Hektar Freifläche pro Jahr. Diese Zahlen zeigen doch ganz klar, dass die Kommunen bemüht sind, Brachflächen zu entwickeln. Aber es gibt eben auch Brachflächen, da ist der Eigentümer nicht verkaufsbereit oder will nur an bestimmte Unternehmen vermarkten. In anderen Fällen sind die Sanierungskosten und die Aufwendungen für die Anbindungen an die Infrastruktur nicht zu stemmen. Man kann deshalb sicher nicht einfach sagen, dass in der Region große Brachen „vor sich hin gammeln“.
Eine letzte Frage: Kennen Sie bereits Firmen, die in Dortmund vergeblich nach einem Standort oder Erweiterungsmöglichkeiten suchen?
Ja, die sind uns bekannt. Wir werden die Namen nicht in der Öffentlichkeit diskutieren, aber der Bedarf ist da. Und deshalb unterstützen wir den Ratsantrag der Verwaltung, der ein nachvollziehbares und transparentes Flächenmonitoring vorsieht. Ein solches Steuerungsinstrument sichert eine sparsame Inanspruchnahme von Flächen. Allerdings muss der lange Planungs- und Genehmigungsprozess deutlich verkürzt werden. Kein Unternehmen wartet 15 Jahre auf eine Fläche.
Quelle: Ruhr Nachrichten, 2. Juli 2025