25.04.2024

Europa im Fokus

Region Bodensee-Oberschwaben:
Auf großes Interesse stieß die Podiumsdiskussion „Quo vadis, Europa?“, zu der die Industrie- und Handelskammer Bodensee-Oberschwaben (IHK) nach Weingarten eingeladen hatte. Sechs Kandidatinnen und Kandidaten zur Europawahl im Juni aus den Parteien AfD, CDU, FDP, Bündnis 90/Die Grünen, SPD und Die Linke diskutierten die Zukunft Europas und stellten sich Fragen und Kritik der mehr als 80 Gäste aus der regionalen Wirtschaft, Verwaltung, Politik und Wissenschaft. 
„Die EU und der Binnenmarkt sind für unsere Wirtschaft unabdingbar“, sagte Christina Palm, Geschäftsbereichsleiterin Recht, Steuern, International bei der IHK, in ihrer Begrüßung. Laut Unternehmensbarometer schätzten und wollten deutsche Unternehmen die EU vor allem mit Blick auf den Binnenmarkt und die politische Stabilität. Die aktuelle Umfrage zeigte aber, so Palm, dass 56 Prozent der Befragten weniger Chancen im Binnenmarkt sehen als noch vor fünf Jahren. 95 Prozent nannten vor allem die überbordende EU-Bürokratie als Transformations-Hemmnis. Die von der IHK initiierte Podiumsdiskussion habe zum Ziel, den Teilnehmenden eine Entscheidungsgrundlage für die Europa-Wahl am 9. Juni zu bieten, so Palm.
Bei der Diskussion, die eine der wenigen Veranstaltungen dieser Art in der Region darstellte, blieb der Ton sachlich, die Argumente wurden allerdings prägnant vorgetragen. Beteiligt waren Kandidaten aller sechs zum Stichtag 31. Dezember 2023 in Fraktionsstärke im Bundestag vertretenen Parteien anwesend: Alexander Kauz (Die Linke), Jeremy Tietz (SPD), Anna Peters (Die Grünen), Anja Widenmann (FDP), Norbert Lins (CDU) und Lars Haise (AfD). Im Fokus der Debatte: aktuelle wirtschaftspolitische Fragestellungen auf europäischer Ebene. Der Abend bestätigte die Ergebnisse der aktuellen Unternehmensumfrage der IHK-Organisation zum Thema: Die Unternehmen stehen hinter der Europäischen Union, wünschen sich aber deutlich mehr Gehör seitens der Politik.
Klares Bekenntnis zur EU bei allen Parteien – außer der AfD
Die EU stehe für Sicherheit, Stabilität und Wohlstand, sagte Norbert Lins (CDU) und warb für eine „wieder stärkere soziale Marktwirtschaft“ als Grundlage für Wachstum und Innovation. Die FDP wehre sich gegen die Zunahme planwirtschaftlicher Elemente in der europäischen Klimapolitik und setze auf die Kräfte des Marktes, so Anja Widenmann. Die aktuelle Klimapolitik aus Brüssel verteidigte dagegen Anna Peters (Grüne). Der Ausbau der erneuerbaren Energien, gemeinsame Investitionen in Energieinfrastruktur und Energieverbundnetze seien wichtige Voraussetzungen auf dem Weg zur Klimaneutralität. Es brauche dabei auch fixe Vorgaben, da der Markt allein nicht alles regle. Das sah auch Jeremy Tietz (SPD) so, mahnte aber, Klimaschutz und Transformation müssten sozial verträglich erfolgen. Es gehe dabei auch um eine mittel- und langfristige Stärkung der Wirtschaft. „Wir brauchen eine Wirtschaft, die sich selbst versorgen kann.“ Zu viel verlorene Zeit prangerte Alexander Kauz an, Vertreter der Linkspartei auf dem Podium. In Sachen Transformation sei die EU 50 Jahre zu spät dran, kritisierte er. „Wir brauchen verdammt viel Energie, die wir nicht haben.“    
Trotz der Differenzen einte fünf der sechs anwesenden Parteien ein klares Bekenntnis zur EU in der bestehenden Form. Einzig Lars Haise, der Kandidat der AfD, sprach sich dagegen aus. Seine Partei strebe eine Abwicklung der EU zurück auf den Ursprung der einstigen Europäischen Wirtschaftsunion an.
Pro und contra Lieferkettengesetz
Unterschiedlich bewertet wurde das in der Wirtschaft und auch von der IHK mit einiger Kritik und Skepsis aufgenommene EU-Lieferkettengesetz. Dieses sei im Grundsatz richtig, sagte Norbert Lins (CDU). Staatliches Versagen dürfe aber nicht in den Verantwortungsbereich der privaten Unternehmerschaft übertragen werden, räumte er mit Blick auf den enormen Aufwand zur Erfüllung der Richtlinie bei den Unternehmen ein. Dass die detaillierten Nachweispflichten überdies teils nicht komplett nachvollziehbar seien, gab Anja Widenmann (FDP) zu bedenken. Lieferanten, beispielsweise in Afrika, liefen dadurch Gefahr, aufgrund von Unsicherheiten rauszufallen und ihre Existenzgrundlage zu verlieren. Sichere Wege und sichere Regularien mit menschenrechtsbasierten Werten seien ohne Lieferkettengesetz nicht möglich, betonte dagegen Anna Peters (Grüne). Es gehe um Menschenrechte und diese seien nicht verhandelbar, bestätigte Jeremy Tietz (SPD). Die Umsetzung liege nun bei den nationalen Staaten. In Deutschland gebe es gute Unterstützungsmöglichkeiten für die Unternehmen, wie sie beispielsweise die IHK biete, so Tietz. Das Lieferkettengesetz habe seine Berechtigung und stärke die Menschenrechte, sagte auch Alexander Kauz (Linke). „Lieferkettennachweise sollen uns ein gutes Gefühl geben“, verursachten allerdings darüber hinaus wenig Nutzen, wandte dagegen Lars Haise (AfD) ein. Die Lösung könne nicht nur bei der „Insel EU“ liegen.
Was sollte sich in der EU ändern?
Auch Verbesserungsvorschläge in Sachen EU nannten die Kandidatinnen und Kandidaten – allen voran den Bürokratieabbau. In den Fragen und der Kritik der Teilnehmenden wurde immer wieder deutlich, wie sehr die Wirtschaft unter einer überbordenden Bürokratie leidet. „Unsere Forderung ist ‚one in, two out‘“, sagte Anja Widenmann (FDP). Wenn eine neue Regelung verabschiedet werde, müssten zwei bestehende Regelungen dafür entfallen. Darüber hinaus schlug sie vor, bei der Verabschiedung neuer Regelungen eine Klausel einzuführen, die zu einer Überprüfung beispielsweise nach fünf Jahren verpflichte. „Dann kann entschieden werden, ob diese Regelung noch stimmig ist. Ist sie es nicht, kommt sie weg.“
Sie habe die Europapolitischen Positionen der IHK genau gelesen, berichtete Anna Peters (Grüne). Einige der Vorschläge könnten umgesetzt werden und dafür mache sie sich stark. Vor allem gelte es, Doppelstrukturen und Doppelverpflichtungen abzuschaffen und so Unsicherheiten abzubauen. Norbert Lins (CDU) warb für „wieder mehr Marktwirtschaft“ in der EU. Darüber hinaus forderte er eine klare Mittelstandspolitik, was Anja Widenmann (FDP) bestätigte: „Wir brauchen ein Mittelstandskonzept“. Dafür sollte es ihrer Meinung nach einen eigenen EU-Kommissar geben. Sie mahnte zudem eine Änderung beim Investitionsprogramm für kleine und mittlere Unternehmen an, da viele Firmen bislang rausfielen. In Sachen Klima brauche es keine kleinteiligen Regelungen, sondern ein einheitliches CO2-Konzept, so Widenmann weiter. Das EU-Parlament sollte mehr Befugnisse erhalten, forderte Alexander Kauz (Linke). Jeremy Tietz (SPD) meinte, Bürokratie könne auch Strukturen schaffen, und sprach sich für einheitliche Anträge und gleiche Projektabläufe EU-weit aus. Prozesse wie zum Beispiel bei den Lieferketten sollten immer nach Rücksprache mit den Betroffenen erfolgen. Klare Absichten verkündete Lars Haise (AfD). „Wir wollen das Volk über einen Verbleib in der EU entscheiden lassen.“  
Zum Abschluss der Veranstaltung mahnten alle Kandidaten die Wahlberechtigten zur Abgabe ihrer Stimme am 9. Juni. Die IHK drehte den Spieß um und richtete einen dringenden Appell an die Politik: „Wir bitten Sie eindringlich: Hören Sie auf die Stimmen der Unternehmen. Wir sind auf einen wettbewerbsfähigen, attraktiven Standort angewiesen. Und das geht nur gemeinsam.“
Medieninformation Nr. 32/2024