Besseres Recht

Die Europäische Union hat allein im Jahr 2021 insgesamt 55 neue Verordnungen und Richtlinien erlassen, 27 bestehende Rechtsakte geändert sowie rund 80 delegierte Verordnungen, zahlreiche Durchführungsverordnungen und rund 140 Änderungen an delegierten Rechtsakten verabschiedet. Diese Vielzahl an Normen müssen Unternehmen auf ihre Betroffenheit hin prüfen und ggfs. anwenden.
Zudem steigt der Detaillierungsgrad der Regelungen und die Anwendungsbereiche von Richtlinien, Verordnungen sowie nationalen Regelungen überschneiden sich häufig, ohne explizit Bezug aufeinander zu nehmen. Die europäische Regulierung verliert damit immer mehr ihren Charakter als einheitliches System. Nicht selten wird gleichen Begriffen unterschiedliche Bedeutung oder unterschiedlichen Begriffen die gleiche Bedeutung zugemessen. Für Unternehmer führt das zu einer erheblichen Rechtsunsicherheit und damit zu einem hohen Zeit- und Beratungsaufwand, der sich negativ auf den wirtschaftlichen Erfolg auswirkt.
Verrechtlichung und Verfahren sollten daher auf das zwingend Notwendige beschränkt werden. Legislative, Exekutive und Judikative sollten sich in ihrer gesamten Tätigkeit an den systematischen Grundsätzen von Klarheit, Einheitlichkeit in der Terminologie, Praxisnähe und Verhältnismäßigkeit orientieren. Irreführende politische Benennungen, etwa von Verordnungen als „Gesetz“, sollten vermieden werden. Eine Verbesserung der europäischen Rechtsetzung und Rechtsdurchsetzung kann so dazu beitragen, Unternehmern wieder mehr Sicherheit für Investitionen und Freiräume für Innovationen zu geben, statt sie zu Objekten von strategischen Klagen zu machen, wie das zum Beispiel im Klimaschutz zu beobachten ist. Gesamtwirtschaftlich würde so das Wachstum gefördert und der europäische Binnenmarkt gestärkt werden können.
Leitlinien für eine bessere Rechtsetzung und Durchsetzung des Rechts:
  • Frühzeitig Bürokratie durch nutzerfreundlichere Konsultationen, Praxis-Checks und KMU-Tests vermeiden – in Zusammenarbeit mit den Kammern
  • Subsidiaritätsprinzip konsequent auch bei Trilog-Verfahren und delegierten Rechtsakten beachten.
  • Unnötige Bürokratie abbauen mithilfe der “One-in-one-out"-Regel und einer regelmäßigen Evaluierung bestehender Rechtsakte inklusive eines Digital- und eines Krisen-Checks. Impact Assessment sollten alle mit dem Rechtsakt verbundenen Kosten kalkulieren.
  • Anstelle von Regulierung stärker auf Selbstverpflichtung der Unternehmen setzen.
  • Auf die Verhältnismäßigkeit von Sanktionen achten.
  • Die einheitliche Umsetzung in den Mitgliedstaaten besser kontrollieren.
  • Vollzugsbehörden und Gerichte in Hinblick auf den Vollzug von EU-Recht besser ausbilden und ausstatten.
  • Die EU als Justizstandort stärken – strategische und kollektive Klagen beschränken
  • Außergerichtliche Konfliktlösung entwickeln und als Bestandteil effektiver Rechtsdurchsetzung stärken

Frühzeitig Bürokratie durch nutzerfreundlichere Konsultationen, Praxis-Checks und KMU-Tests vermeiden – in Zusammenarbeit mit den Kammern

Gute Rechtssetzung beginnt schon im Konsultationsverfahren. Die Wirtschaftsakteure sollten so früh wie möglich in einen Gesetzgebungsprozess eingebunden, um ausreichend Zeit für Stellungnahmen zur Verfügung zu haben. Konsultationen der Betroffenen sollten nutzerfreundlicher gestaltet werden, u. a. durch zeitgleiche Veröffentlichung zumindest in den Arbeitssprachen der EU. Die Auswertung sollte ebenfalls transparent werden. Die konkreten Auswirkungen der geplanten Regelungen, vor allem ihre Praxistauglichkeit, sollten im Rechtsetzungsprozess berücksichtigt, zu erwartende Konflikte mit bestehenden Regelungen vermieden werden. Sowohl im Vorfeld einer jeden Gesetzesinitiative als auch im Rahmen der Evaluation eines jeden Rechtsakts sollten die Regelungen auch auf ihre Standortfreundlichkeit hin überprüft werden. Im Vorbereitungsstadium von Regulierungsentwürfen sollten insbesondere Möglichkeiten zur Entlastung von KMU gesucht werden. Deswegen sollte bei jedem Vorschlag der EU-Kommission sowie bei Änderungen durch Rat und Parlament der KMU-Test durchgeführt werden, hiervon würde alle Betriebe profitieren. Daneben sollten auch die Auswirkungen auf die Innovations- und Wettbewerbsfähigkeit und alternative Regelungsmöglichkeiten ernsthaft geprüft werden – auch hier besonders in Bezug auf KMU. Die Kammern können hier einen wesentlichen Beitrag im Konsultationsprozess leisten. Den Industrie- und Handelskammern wurde über Art. 11 Abs. 2 des Vertrags über die Europäische Union als repräsentative Verbände eine besondere Rolle in der Gesetzgebung eingeräumt, die auch praktischen Ausdruck im Dialog mit den Organen der EU finden muss.

Subsidiaritätsprinzip konsequent auch bei Trilog-Verfahren und delegierten Rechtsakten beachten

Viele von der Kommission vorgelegte Vorschläge zur besseren Rechtsetzung und zum Abbau unnötiger Bürokratie sind hilfreich, müssen aber auch effektiv umgesetzt werden. Alle Gesetzgebungsorgane sollten die Kompetenzverteilung, das Subsidiaritätsprinzip und den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz beachten. Der politische Wille des EU-Gesetzgebers, etwas zu regeln, darf sich nicht über eine fehlende oder auch nur eine zweifelhafte vertragliche Kompetenz hinwegsetzen: das schädigt die Akzeptanz der EU in der Wirtschaft. Die Generaldirektionen sollten ihre Initiativen im Vorhinein besser untereinander abstimmen, um Überschneidungen zu vermeiden. Die Kommission sollte Vorhaben nach Dringlichkeit priorisieren.
Unternehmen profitieren von einem einheitlichen “Level-playing field”. Einzelne Unternehmen nehmen hierfür auch in einzelnen Branchen in Kauf, dass rechtlich zwingende Akte (Verordnungen) statt Richtlinien, die durch die Mitgliedstaaten umgesetzt werden müssen, als Instrument gewählt werden. Mehrheitlich wird aber zum Schutz nationaler Handlungsspielräume die strenge Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips gefordert, allerdings im Verbund mit konsequenter Umsetzung der Rechtsakte und Rechtskontrolle durch die Kommission, die gleichermaßen zu einem einheitlichen Rechtsraum führt. Denn selbst im Bereich von grundlegenden Verordnungen – etwa bei der DSGVO – kommt es bei Anwendung und Auslegung zu kaum hinnehmbaren Verzerrungen zwischen den (und sogar innerhalb der) Mitgliedstaaten. Delegierte Rechtsakte müssen auf das Notwendige beschränkt und sollten nur für technische Details genutzt werden, dann aber eine schnelle Entscheidungsfindung ermöglichen. Sie dürfen nicht missbräuchlich dazu genutzt werden, einem bereits bestehenden Rechtsakt im Nachgang eine Fülle an Detailregelungen hinzuzufügen, ohne die betroffene Wirtschaft in angemessenem Umfang zu beteiligen.
Das informelle Trilog-Verfahren zwischen Parlament, Rat und Kommission sollte transparent gestaltet und auf besondere Fälle beschränkt werden. Nur so bleibt es Stakeholdern wie der Wirtschaft möglich, dem Gesetzgeber praktische Hinweise auch in laufenden Verfahren zu geben.
Unnötige Bürokratie abbauen mithilfe der “One-in-one-out"-Regel und einer regelmäßigen Evaluierung bestehender Rechtsakte inklusive eines Digital- und eines Krisen-Checks. Impact Assessment sollten alle mit dem Rechtsakt verbundenen Kosten kalkulieren.
Die EU-Kommission ist an ihrer Ankündigung zu messen, bestehende bürokratische Belastungen abzubauen und auf neue Belastungen für Unternehmen zu verzichten. Das gesamte Regelungsumfeld für Unternehmen, insbesondere für KMU, könnte so einfacher und transparenter werden. Der Mittelstandsfreundlichkeit sollte eine höhere Priorität bei der europäischen Rechtsetzung eingeräumt werden. (--> s. auch Abschnitt Mittelstandspolitik)
Dabei muss die Wahl des Instruments zur Rechtssetzung je nach Bedarf im konkreten Einzelfall erfolgen: Während Richtlinien den Mitgliedstaaten oftmals den nötigen Spielraum geben, europäisches Recht adressaten- und systemgerecht zu implementieren und dabei Besonderheiten der nationalen Rechtslage und der Wirtschaftsstruktur berücksichtigen, sind EU-Verordnungen ausschließlich bei zwingender normativer Einheitlichkeit in der EU geboten.
Der Abbau von Belastungen darf außerdem nicht durch neue Bürokratie an anderer Stelle, z. B. im Bereich Umwelt- und Verbraucherschutz oder im Bereich Gesellschafts- und Steuerrecht, konterkariert werden. Deshalb sollte auch die EU bei der Gesetzgebung eine Bürokratiebremse wie „One in, one out“ konsequent anwenden.
Der Anpassungs- und Umstellungsbedarf in Zusammenhang mit bestehenden Rechtsakten sollte seinerseits mit minimalem Aufwand für die Unternehmen und möglichst im Ergebnis mit einem Weniger an Bürokratie und Kosten für sie verbunden sein. Impact Assessments müssen vor Erlass eines Rechtsakts alle Kosten präzise kalkulieren. Um das Maß an Bürokratie stets so gering wie möglich zu halten, sollten geltende Rechtsakte regelmäßig evaluiert werden, um zu prüfen, ob das Gesetz weiterhin geeignet, erforderlich und angemessen ist. Ein besonderes Augenmerk ist aus Sicht der Betriebe dabei jeweils auf den zwischenzeitlich erfolgten digitalen Fortschritt und die damit verbundenen Möglichkeiten zum Bürokratieabbau zu richten. Zugleich sollte bei der Bewertung von Belastungen der Unternehmen durch neue oder geänderte Regelungen immer die gesamtwirtschaftliche Lage berücksichtigt werden: Je höher die für Unternehmen zu tragende aktuelle Belastung ist, desto wichtiger sind der Abbau von bestehenden und der Verzicht auf neue belastende Regelungen. Die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die Unternehmen sind hier ein gutes Beispiel. Erfahrungen aus dieser Zeit sollten im Sinne eines „Lessons learned“ genutzt werden. So sollte beispielsweise das Vorhaben einer EU-Lieferkettenrichtlinie mit seinen weitreichenden Erfordernissen umfangreicher unternehmensinterner Maßnahmen bei hoher Rechtsunsicherheit im Lichte der durch die Pandemie hervorgerufenen Lieferkettenkrise bewertet werden. Die Auswirkungen des Ukrainekriegs erhöhen derzeit die Rechtsunsicherheit für die Unternehmen. Das Vorhaben einer EU-Lieferkettenrichtlinie sollte deshalb zumindest so lange ausgesetzt werden, bis sich die Lage für die Unternehmen wieder normalisiert hat.

Anstelle von Regulierung stärker auf Selbstverpflichtung der Unternehmen setzen

Das Instrument der Selbstverpflichtung von Unternehmen z. B. durch Corporate Governance Kodizes, das sog. Comply-or-Explain-Prinzip oder das Instrument des Wettbewerbs sollte auch auf europäischer Ebene anerkannt und berücksichtigt werden. Es ermöglicht individuelle Lösungen für die betroffenen Unternehmen und reduziert Belastungen.
Dringender Vereinfachungsbedarf besteht z. B. im E-Commerce. Aufgrund einer fast nicht mehr zu überschauenden Vielzahl von Informationspflichten, die fast durchgehend auf europäische Vorgaben zurückgehen, sind Geschäftsabschlüsse im Internet für kleine und mittlere Unternehmen ohne aufwändige Rechtsberatung kaum noch rechtssicher abzuschließen. Obwohl der Handlungsbedarf seit Jahren auf allen Ebenen dem Grunde nach anerkannt wird, steigt die rechtliche Komplexität für den Online-Handel gleichwohl unablässig. Diese hat sich durch die Warenkaufrichtlinie und die Richtlinie zur Bereitstellung digitaler Inhalte nochmals erhöht.

Auf die Verhältnismäßigkeit von Sanktionierung achten

Die von europäischen Rechtsakten vorgesehenen Sanktionsmöglichkeiten werden immer detaillierter. Statt dem Mitgliedstaat den Erlass von angemessenen und wirksamen Sanktionen zu übertragen, werden in vielen Rechtsgebieten tendenziell immer höhere Sanktionen und Bußgelder vorgesehen, etwa im Wettbewerbsrecht, im Datenschutzrecht oder dem Recht der digitalen Wirtschaft (DMA/DSA). Der in der EU angewandte einheitliche Unternehmensbegriff wirkt dabei für Konzerne ohne Grund verschärfend, die regelmäßige Anknüpfung an den Umsatz, teilweise ohne Kappungsgrenze, gar willkürlich und nicht sachgerecht. Die Verhältnismäßigkeit sollte in jedem Fall geprüft und berücksichtigt werden. Auch naming and shaming als Sanktionsinstrument ist aus Sicht der Breite der Wirtschaft nicht erforderlich zur Rechtsdurchsetzung. Gerade in umstrittenen Fällen, in denen Sanktionen zunächst rechtlich überprüft werden, führt diese Art der Sanktion zu oftmals nicht revidierbaren Schäden. Administrativverfahren dürfen nicht als eigenständige Sanktion instrumentalisiert werden.
Die einheitliche Umsetzung in den Mitgliedstaaten besser kontrollieren
Die Mitgliedstaaten sind zu einer effektiven und transparenten Umsetzung des EU-Rechts verpflichtet. Die Umsetzung sollte von der Kommission als Hüterin der Verträge kontrolliert werden, notfalls im Wege des Vertragsverletzungsverfahrens. Die Kommission sollte diese Verfahren im Sinne eines fairen Wettbewerbs allein rechtlich bewerten und ggfs. einleiten und Vertragsverletzungsverfahren nicht zum politischen Instrument der Einflussnahme benutzen. Eine konsequente und einheitliche Durchsetzung des EU-Rechts in den Mitgliedstaaten stärkt den Binnenmarkt, indem sie für fairere Wettbewerbsbedingungen und mehr Rechtssicherheit für die Unternehmen sorgt.

Vollzugsbehörden und Gerichte in Hinblick auf den Vollzug von EU-Recht besser ausbilden und ausstatten

Um den Binnenmarkt in der Breite zu stärken und bessere Wettbewerbsbedingungen für die Betriebe zu schaffen, sollten nationale Durchsetzungsbehörden und Gerichte im Hinblick auf die europäische Rechtsanwendung besser ausgebildet und ausgestattet werden. Es solle geprüft werden, inwieweit hier das Netzwerk aus deutschen und anderen mitgliedstaatlichen Industrie- und Handelskammern einen Beitrag leisten kann. Insbesondere die öffentlich-rechtlich verfassten Kammern können hier eine eigenständige Rolle spielen.

Die EU als Justizstandort stärken – Strategische und kollektive Klagen beschränken

Ein moderner Justizstandort ist für die gewerbliche Wirtschaft in Deutschland und in Europa ein wichtiges Anliegen. Gerichtsverfahren sollten in allen Mitgliedstaaten schneller und effizienter werden und nie Anlass für rechtsstaatliche Zweifel geben. Gerade die Digitalisierung in der Justiz kann hierbei ein wichtiger Eckpfeiler sein: Verhandlungen und Beweisaufnahmeverfahren sollten online durchführbar sein. Auch die Einführung von englischsprachigen Spezialkammern für internationale Handels- und Wirtschaftsstreitigkeiten kann bei grenzüberschreitenden Verfahren einen Mehrwert bieten. Recht ist weder Investitionsobjekt noch sollten Gerichte Politik ersetzen. Gerade Kollektivklagen gegenüber Unternehmen führen im Systemwettbewerb zu Märkten für Rechtsdienstleister und „forum shopping“ – aber selten zu gerechten Ergebnissen. Sie sollten nicht auf das Umwelt-, Klima- und Datenschutzrecht erstreckt werden. Auch einzelne strategische Klagen gefährden die Integrität des Rechtssystems: Die Ausgestaltung des Klimaschutzes in der Wirtschaft ist z.B. primär eine politische Aufgabe und sollte nicht auf Gerichte übertragen werden.

Außergerichtliche Streitbeilegung entwickeln und als Bestandteil effektiver Rechtsdurchsetzung stärken

Neben der staatlichen Gerichtsbarkeit sollten alle Formen der alternativen Streitbeilegung, insbesondere der Schlichtung, Mediation und Schiedsgerichtsbarkeit, gestärkt werden. Sie sind wichtige Elemente kaufmännischen Handelns und der Vertragspraxis von Unternehmen aller Größenordnung, denn sie ermöglichen kostengünstige, vertrauliche, effektive und wie in der Mediation häufig einvernehmliche Lösungen. Vergleichbare Effektivität können staatliche administrative und gerichtliche Verfahren aus vielen Gründen nicht leisten, sie verlieren sogar teilweise an Akzeptanz.
Diesen Wandel der Konfliktkultur gilt es zu begleiten, indem im kaufmännischen Bereich die Industrie- und Handelskammern die Unternehmen bei der außergerichtlichen Streitbeilegung unterstützen. Die systematische Einheitlichkeit des Europarechts erfordert zudem auch neue Formen der Kooperation zwischen den Einrichtungen der außergerichtlichen Streitbeilegung, darunter der Schiedsgerichtsbarkeit, und den Institutionen der EU, etwa die Ermöglichung von Vorlageverfahren an Europäische Gerichte.
Freiwilligkeit wahren: Die Parteien sollte immer entsprechend ihren Bedürfnissen autonom zwischen der gerichtlichen Streitbeilegung und alternativer Konfliktlösung entscheiden können. Das gilt auch für Verbraucherschlichtung, die für Unternehmen nicht verpflichtend werden darf. Ihre Akzeptanz hängt von einer fairen Ausgestaltung ab.