Standort

Gibt es eine glückliche Zukunft für den ländlichen ÖPNV?

Prof. Udo Onnen-​Weber ist pensionierter Professor an der Hochschule Wismar und leitet seit mehr als zehn Jahren das KOMOB, Kompetenzzentrums ländliche Mobilität, in Wismar. Er ist Mitglied im Forum ländliche Entwicklung und Demografie des Ministeriums für Klimaschutz, Landwirtschaft, ländliche Räume und Umwelt und Beirat im Institut für Klimaschutz, Energie und Mobilität (IKEM) an der der Universität Greifswald. Hier schildert er ein mögliches Zukunftsszenario für den ÖPNV.
504A2837 Kopie

Bericht aus dem Jahr 2032: Der große grüne Elektrobus, der zwischen Rostock und Stralsund mit Zwischenhalt in Sanitz, Marlow und Franzburg im Stundentakt pendelt, kommt an. Einige Mitfahrer steigen an der Mobilitätsstation in Marlow aus. Einer geht sofort zu den Mietfahrrädern, die dort vorgehalten werden, hält sein Handy vor das Schloss und radelt los. Die anderen gehen zu einem der beiden kleinen Mikroshuttles, die durch die Bestellung schon wissen, wo sie hinfahren müssen. Es geht fahrerlos und vollautomatisch los bis vor die Haustür der Fahrgäste.
Früher war das anders. Ohne PKW war man aufgeschmissen, weil der Bus meistens nur für Schüler morgens und mittags fuhr und in den Ferien gar nicht. Und dann allzu oft die Nachricht: Wir haben die Lösung für die ÖPNV-​Probleme in unserem Land! Mal war der Rufbus diese Lösung im ländlichen Raum. Dann war es der PLUSBus. Zwischendurch hat es den Hype um Elektrobusse gegeben, dann war mal das 365-​Euro-​Ticket die rettende Idee. Immer wieder haben die Landkreise auf Drängen der Bevölkerung versucht, durch kleine Anpassungen die Nutzungszahlen des Busses zu vergrößern und über die beschämende Zahl von fünf Prozent Anteil am Gesamtverkehr hinauszukommen.

Veraltete Strukturen als Entwicklungsbremse
Es konnte aber nicht gelingen, weil die Strukturen, die weitgehend in den 1950er- und 1960er-​Jahren entwickelt wurden, im 21. Jahrhundert nicht mehr stimmten. Die Mobilitätswende wurde durch das Personenbeförderungsgesetz verhindert, durch die Finanzierungsgrundsätze des ÖPNV unmöglich gemacht und durch das Kommunalverfassungsrecht erschwert. Noch 2021 schrieb der ADAC in seinem Positionspapier Mobilitätssicherung im ländlichen Raum: „Dem motorisierten Individualverkehr (MIV) wird weiterhin eine führende Rolle bei der Mobilitätssicherung in ländlichen Räumen zukommen“.

Eine Hypothese
Die Versuche, den ÖPNV in den vorhandenen Strukturen passgenau zu machen, waren alle misslungen. Bis 2022 eine neue Bundesregierung den Klimawandel ernst nahm und Nachhaltigkeit als oberstes Politikziel in die Agenda schrieb.

Diverse Transportformen greifen ineinander
Im Jahr 2032 ist der ÖPNV Teil eines digital und funktional vernetzten Mobilitätssystems. Es besteht im Wesentlichen aus dem Nacheinander und Miteinander verschiedener Bediennetze. Der Busverkehr fährt nur noch auf den Hauptstraßen zwischen den zentralen Orten. Er hält nur an Punkten mit hoher Nutzungsfrequenz, nicht mehr in den Dörfern. Dafür hat er einen hohen Takt: mindestens alle Stunde, manchmal auch alle halbe Stunde, zudem 20 Stunden am Tag zwischen 5 Uhr morgens und 1 Uhr nachts. Damit kann er garantieren, dass er nicht wesentlich langsamer ist als das eigene Auto. Der Bus zwischen Rostock Hauptbahnhof und Marlow benötigt 45 Minuten statt wie früher das Auto 38. Das Fahrzeug selbst ist ein Elektrobus.
Alternative zu standardmäßigen Haltepunkten
Die Haltestellen sehen ganz anders aus als früher. Dieses zweite Modul sind Mobilitäts-​Hubs, an denen möglichst viele Mobilitätsangebote zusammenkommen: zentrale Bushaltepunkte für alle Linien, wenn möglich mit Verbindung zum Zug, Übergabestellen von den Minishuttles, Carsharing-​Station, Taxistand, Fahrradverleih, Infopoint, Ride-​Sharingstation. Da im sekundären Netz nur wenige Haltepunkte angeboten werden und diese sich in den Städten befinden, ist die Anzahl dieser Hubs nicht sehr groß und damit rentabel.
Autonome Minishuttles
Das Herzstück des Gesamtsystems ist das tertiäre Netz: der Zubringer aus den Dörfern und Siedlungen. In jeder Ansiedlung stehen ein oder mehrere kleine Fahrzeuge. Diese waren – bis die Technik und das Recht automatisiertes Fahren erlaubte – von Fahrern chauffiert worden, die vor Ort wohnten und über einen Minijob und einen kleinen Personenbeförderungsschein abgesichert waren. Inzwischen sind diese Fahrzeuge autonom geworden.
Diese Minishuttles können per Smartphone gerufen werden und bringen ihre Fahrgäste zu jeder Zeit entweder zur Bushaltestelle oder zu jedem anderen Haus im Umkreis von etwa fünf bis zehn Kilometern. Damit ist sichergestellt, dass die Anwohner jederzeit von Haustür zu Haustür in der Nähe oder auch in die Ferne fahren können.
digitalisierung


Wichtigster Faktor: Hoher Digitalisierungsgrad
Das funktioniert nur, wenn ein hoher Digitalisierungsgrad vorhanden ist. Nicht nur, dass die Bestellung einer Fahrt nur per Smartphone gemacht werden kann, es muss auch ein Zurückkanal vorhanden sein, wenn es zu Verspätungen oder sonstigen Unregelmäßigkeiten kommt.
Wenn ein Schnellbus von Rostock nach Stralsund fährt und es nur in Sanitz, Marlow und Franzburg Haltepunkte gibt, dann weiß das System durch das Ticketing, wer wohin fahren möchte und wo aussteigt. Nun muss es zwei Shuttle nach Marlow schicken, weil ein Fahrgast im Ort bleiben möchte und ein anderer nach Bad Sülze gebracht werden muss. Dabei muss das System auch berücksichtigen, dass eventuell auch Personen aus der Region zur Haltestelle gefahren werden müssen, die den Bus zur Weiterfahrt gebucht haben. Und diese Komplexität gilt für jeden Haltepunkt.

Neuartiger Bezahlvorgang
Der neue ÖPNV erliegt nicht dem Versuch, sich durch Nulltarif anzubiedern. Natürlich kostet Mobilität Geld. Im Vergleich zu den wahren Kosten eines eigenen PKW ist es aber dennoch billig. Und für Kinder, Jugendliche und andere Bedürftige gibt es Sondertarife auf Antrag.
Neu ist, dass der Bezahlvorgang ganz einfach ist: Ein Empfänger im Bus erkennt den Einstieg und alle weiteren Aus- und Einstiege des Beförderungsvorgangs. Am Ende des Monats errechnet die Software den kostengünstigsten Tarif und bucht die Summe automatisch vom Konto ab.

Der ländliche Raum gewinnt
Das alles ist im Idealfall seit 2022 entstanden. Es mussten viele Barrieren überwunden werden. Das Personenbeförderungsgesetz wurde erneuert, es herrscht jetzt Gewerbefreiheit, was vor allem Taxiunternehmen beflügelt, weil sie sich als ganzheitliche Mobilitätsdienstleister auf dem Markt betätigen können. Die Finanzierungsinstrumente des ÖPNV wurden entschlackt, inzwischen ist klar, dass Mobilitätsvorsorge Pflichtaufgabe der Kommunen ist und im Wesentlichen vom Land finanziert werden muss.
Vor allem wurde die Schülerbeförderung systematisiert: Sie ist vom ÖPNV entkoppelt, der Bildungsetat subventioniert nicht mehr den ÖPNV, Schülerbeförderung ist jetzt Aufgabe der Schulen und damit nicht mehr die des ÖPNVs.

Insgesamt hat der ländliche Raum gewonnen. Motorisierten Individualverkehr gibt es nur noch wenig. Die Menschen haben die neue Mobilität angenommen. Junge Leute lassen sich wieder auf dem Land nieder, weil sie wissen, sie isolieren sich damit nicht mehr. Unternehmen folgen ihnen. Die Dualität zwischen Metropolen und dem „Garten der Metropolen“ wird ausgeglichener.