Berufliche Bildung 2030 – Resolution der IHK Rhein-Neckar

Die Vollversammlung hat am 14. Dezember 2022 die Resolution “Berufliche Bildung 2030” beschlossen. Diese dient dem Ehren- und Hauptamt der IHK Rhein-Neckar als Legitimationsgrundlage für Gespräche mit Politik und Behörden, Diskussionen und sonstige Stellungnahmen zur Zukunft der beruflichen Bildung.

Einleitung

Entstanden ist die Resolution auf Anregung aus dem gemeinsamen Gespräch von Präsidium und Geschäftsführung im Februar 2022. Praktiker aus Ausbildungsbetrieben, von KMU´s bis hin zu Konzernen, befassten sich in einer Umfrageaktion und in zwei Workshops damit, wie die berufliche Bildung attraktiver werden, stärkere Wertschätzung erfahren kann und was dafür nötig ist.
Der demographisch bedingte Fachkräftemangel, insbesondere bei beruflich Aus- und Weitergebildeten, ist seit einigen Jahren eines der TOP-Standortrisiken für die Mitgliedsbetriebe der IHK Rhein-Neckar. Verstärkt wird er durch die beständig ansteigende Zahl von Absolventinnen und Absolventen allgemeinbildender Schulen mit Hochschulzugangsberechtigung und dem dadurch veränderten Berufswahlverhalten junger Menschen.
Gleichzeitig steht die Berufliche Bildung inhaltlich vor der Herausforderung, den Qualifikations- und Kompetenzbedarf der Unternehmen abzudecken, welcher sich aus dem immer schnelleren und tiefgreifenden Wandel der wirtschaftlichen, ökologischen und sozialen Rahmenbedingungen für wirtschaftliches Handeln ergibt.
Die Inhalte des Positionspapiers basieren auf einer schriftlichen Umfrage bei allen Ausbildungsbetrieben der IHK Rhein-Neckar sowie auf zwei Workshops mit ausbildenden Mitgliedsunternehmen im September 2022 und geben die Forderungen und Erwartungen der regionalen Wirtschaft wieder, so wie sie von Präsidium und Vollversammlung der IHK Rhein Neckar beschlossen wurden.

1. Berufsorientierung und Matching

Was muss geschehen, damit Schülerinnen und Schüler optimal auf ihre Berufswahlentscheidung vorbereitet sind?

Allgemeinbildende Schulen

Die Unternehmen setzen voraus, dass:
  • die Absolventen allgemeinbildender Schulen ein fachliches und persönliches Qualifikations- und Kompetenzniveau erreicht haben, welches sie zu einer beruflichen Aus- und Weiterbildung oder einem Studium befähigt.
  • Berufsorientierung an allen Formen allgemeinbildender Schulen integraler Bestandteil des ganzheitlichen Lehrauftrags ist und verpflichtend als Querschnittsthema in Kooperation unterrichtet wird.
Die Unternehmen erwarten von den Lehrinhalten, dass:
  • Schülerinnen und Schülern Wirtschaftskenntnisse in Kooperation mit Berufsschulen und Praktikern aus Unternehmen vermittelt werden.
  • an weiterführenden Schulen eine jährliche ganzheitliche Einschätzung der Fähigkeiten, Neigungen und Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler durch externe Experten erfolgt und das Ergebnis sowie die persönliche Entwicklung mit Eltern und Schülern besprochen wird.
  • die Unterrichtsgestaltung die Schülerinnen und Schüler auf die späteren beruflichen Anforderungen im Hinblick auf neue Arbeitsformen und -methoden bzw. die künftig benötigten Zukunftskompetenzen vorbereitet.
  • Lehrpläne in einem regelmäßigen Rhythmus unter Einbeziehung von Vertretern der beruflichen Praxis evaluiert und aktualisiert werden unter Berücksichtigung von gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und technischen Veränderungen.

Berufsorientierung

Die Unternehmen fordern für die Berufsorientierung an allgemeinbildenden Schulen, dass:
  • Schule sich verantwortlich fühlt, Schülerinnen und Schülern realistische Vorstellungen im Hinblick auf ihre Berufswahl zu vermitteln.
  • IT- und MINT-Berufe auch für Frauen attraktiv dargestellt werden. Ohne einen höheren Frauenanteil wird der Mangel an Fachkräften in den IT/MINT- Berufen nicht abgestellt werden können.
  • Schülerinnen und Schülern die Gleichwertigkeit der Laufbahnen von beruflicher und akademischer Bildung neutral vermittelt wird, deren jeweilige Perspektiven aufgezeigt werden und die Möglichkeiten der Durchlässigkeit dargestellt werden.
  • Lehrkräfte in ihrer Aus- und Weiterbildung verpflichtend wirtschaftsrelevante Kenntnisse (insbesondere über Berufsbilder, deren Kompetenzanforderungen und Soft Skills) erhalten und diese Kenntnisse durch eine regelmäßige spezifische Fortbildungspflicht aktuell gehalten werden.
  • Lehrkräfte regelmäßige, verpflichtende Praxisstationen in der Wirtschaft in unterrichtsfreien Zeiten absolvieren.
  • administrative Aufgaben nicht von pädagogischem Fachpersonal erledigt werden müssen, damit ausreichend zeitliche Ressourcen für die Berufsorientierung der Schülerinnen und Schüler zur Verfügung steht.

Praktika

Die Unternehmen schlagen für die Durchführung von Praktika vor, dass:
  • Schülerinnen und Schüler Praktikumsphasen entsprechend ihren Eignungen und Neigungen auswählen.
  • Schulen und Unternehmen Praktika inhaltlich und zeitlich flexibel abstimmen und gestalten können.

Marketing für die Berufliche Bildung

Die Unternehmen erhoffen sich, dass die berufliche Bildung eine höhere gesellschaftliche Wertschätzung erfährt und fordern dafür, dass:
  • verpflichtende Aktionstage zu Ausbildungs- und Studiengängen mit Ausbildungs- und Studienbotschaftern an allen Formen allgemeinbildender Schulen regelmäßig stattfinden.
  • Perspektiven in der beruflichen Bildung aufgezeigt werden, indem Eltern/Freunde/Bekannte oder sonstige von den Schülern akzeptierte Personen ihren beruflichen Karriereweg vorstellen.
  • Unternehmensbesichtigungen, interne Ausbildungsplatzbörsen mit Informationen über den Karriereweg “Berufliche Bildung”, insbesondere an Gymnasien, zum regulären Bestandteil eines Schuljahres werden.
  • eine Imagekampagne für die berufliche Bildung von allen gesellschaftlich relevanten Einrichtungen, Organisationen, Körperschaften usw. getragen wird und nicht nur von den zuständigen Stellen und den Berufsverbänden (Stichwort: “Solidarpakt Berufliche Bildung”).
  • eine bundesweit zentrale digitale Lehrstellenbörse mit berufskundlichen, jugendgerecht dargestellten Informationen und Entscheidungshilfen (z. B. Neigungs- und Eignungstests) eingerichtet wird, in der sich sowohl Unternehmen bei Ausbildungsinteressierten als auch umgekehrt bewerben können. Diese zentrale Börse muss permanent von den Schulen, den zuständigen Stellen, den öffentlichen Verwaltungen und anderen Stellen beworben werden. Sie muss zur “ersten Adresse” für Lehrstellenangebote und Lehrstellensuchende werden.
  • die Zuwanderung in Ausbildung – insbesondere aus Drittstaaten - vereinfacht und beschleunigt wird.

2. Inhalte und Rahmenbedingungen der Beruflichen Bildung

Was würden Sie ändern, wenn Sie die Möglichkeit hätten, die Inhalte und Rahmenbedingungen der Berufsausbildung zu ändern?
Die Unternehmen erwarten bezüglich der Inhalte und Rahmenbedingungen der Berufsausbildung, dass:
  • die betrieblichen und schulischen Ausbildungsinhalte regelmäßig (spätestens alle fünf Jahre) evaluiert und an aktuelle Veränderungen in der beruflichen Praxis angepasst werden.
  • die digitale Vermittlung von betrieblichen Ausbildungsinhalten rechtlich zulässig, aber nicht verpflichtend ist.
  • bundesweit möglichst einheitliche und schlanke Verwaltungsverfahren existieren, z. B. bei Formularen aller Art im Zusammenhang mit der Berufsbildung.
  • für Menschen mit nicht ausreichenden Deutschkenntnissen grundlegende, ausbildungsspezifische Hilfestellungen während der Ausbildung angeboten werden, um diese Hürde für den erfolgreichen Berufsschulbesuch und für die Zwischen- und Abschlussprüfungen zu beseitigen.

Berufsschule

Die Unternehmen schlagen bezüglich der Berufsschulen vor, dass:
  • die Attraktivität des Berufes einer Lehrkraft an einer berufsbildenden Schule gesteigert wird, um die Gewinnung des Lehrernachwuchses sicherzustellen.
  • Unterricht vollumfänglich ohne Ausfälle stattfindet, ggf. unter Einsatz digitaler Ersatzangebote.
  • der Besuch von Berufsschulen auch über Schulbezirks- und Landesgrenzen hinweg ermöglicht wird.
  • Berufsschulen flexible Beschulungsangebote (in Präsenz und auch digital) bereitstellen.
  • die berufsfeldbreite Grundbildung im 1. Ausbildungsjahr auf weitere Berufe ausgedehnt wird und im zweiten und dritten Ausbildungsjahr modulare Spezialisierungen mit Pflicht- und Wahlbausteinen dem nach DIHK-Konzept “Dual mit Wahl” im Betrieb und an der Berufsschule vermittelt werden können.
  • den Auszubildenden jenseits fachlicher Inhalte soziale Kompetenzen und Allgemeinbildung vermittelt werden.
  • eine gelebte Lernortkooperation zwischen den dualen Partnern Betrieb und Berufsschule stattfindet.
  • dass die Methodik der Vermittlung des Berufsschulunterrichts mit der Entwicklung der technischen und digitalen Standards in den Betrieben Schritt hält.
  • der bauliche und technische Standard der Berufsschulen auf gleichem Niveau wie bei Hochschulen ist.

3. Fachkräftesicherung am Übergang Ausbildung/Beruf sowie Bedeutung der Weiterbildung für den Unternehmenserfolg und das Employer-Branding

Wie kann es gelingen, ausgebildete Fachkräfte nach bestandener Abschlussprüfung im Unternehmen zu halten?
Welche Weiterbildungsformate und -inhalte werden benötigt, um im wirtschaftlichen Wettbewerb und als attraktiver Arbeitgeber bestehen zu können?
Die Unternehmen fordern bezüglich der Fachkräftesicherung am Übergang Ausbildung/Beruf, dass:
  • die höherqualifizierende Berufsbildung in ihrer gesellschaftlichen Wertigkeit akademischen Abschlüssen gleichgestellt ist (z. B. durch eine staatliche Imagekampagne).
  • die Gleichwertigkeit durch die rasche Umstellung aller Abschlüsse der höherqualifizierenden Berufsbildung auf “Bachelor Professional” und “Master-Professional” im beruflichen Alltag sichtbar wird.
  • staatliche Förderungsmöglichkeiten für die höherqualifizierende Berufsbildung transparenter dargestellt und bürokratisch vereinfacht werden.
  • ausreichend bezahlbare Betreuungsangebote die Vereinbarkeit von Familie und Beruf möglich machen.
  • die Qualifizierung in “future skills” nicht nur einseitig in der Ausbildung verortet wird, sondern alters- und qualifikationsgerecht auch für Mitarbeitende im Bestand angeboten wird. 
  • bei einer Modernisierung oder bei neuen Fortbildungsordnungen die Inhalte auch modular abgelegt und zertifiziert werden können. Nicht immer wird das vollständige Profil vom Betrieb benötigt. Teil-Inhalte der Gesamtqualifikation wären aber interessant.