Rede von Manfred Schnabel beim IHK-Jahresschlussempfang 2025

Begrüßung

Sehr verehrte Gäste,
2025 war für uns als IHK ein besonderes Jahr, da die IHK-Vollversammlung neu gewählt wurde. An dieser Stelle nochmals ein herzliches Willkommen an die erstmals in die Vollversammlung gewählten Unternehmerinnen und Unternehmer!
Es gibt aber auch viel Kontinuität, sodass die Vollversammlung als Ganzes eine sehr gute Mischung zeigt aus erfahrenen und neuen Persönlichkeiten, Jung und Alt, Mann und Frau, Vertretern aller Unternehmensgrößen und -branchen. Ich bin in jedem Fall sehr stolz auf diese starke „Parlament der Wirtschaft“.
Eine der ersten Aufgaben der neuen Vollversammlung war es, aus ihren Reihen die Präsidiumsmitglieder zu bestimmen. Wie Sie wissen, und sonst stände ich auch nicht hier, hat mich die Vollversammlung in meinem Ehrenamt bestätigt.
Für dieses Vertrauen ein herzliches Dankeschön! Dieses Vertrauen, dass mir meine Kolleginnen und Kollegen aus der Vollversammlung geschenkt haben, ist für mich Verpflichtung, Ansporn und Antrieb, mich weiter mit aller Kraft für die Interessen der Unternehmen der Region einzusetzen.
Unsere gemeinsame Mission für die kommenden fünf Jahre ist klar: Wir werden uns auf allen politischen Ebenen dafür einsetzen, dass wir verlorengegangene Wettbewerbsfähigkeit wiedergewinnen.
Wie groß der Handlungsbedarf weiterhin ist, werde ich Ihnen in meiner Ansprache vermitteln.
Starten möchte ich meine Rede mit unserer Rolle als IHK. Wir als IHK sind Interessenvertreter. Wir vertreten das “Gesamtinteresse der gewerblichen Wirtschaft im IHK-Bezirk”, wie es in schönstem Juristendeutsch im IHK-Gesetz heißt.
Wie tun wir das? Abwägend und ausgleichend, an der Sache und vor allem auch an Zahlen, Daten, Fakten orientiert. Natürlich haben wir „eine Meinung“. Unser Anspruch ist aber, dass diese Meinung sich an Empirie und Theorie beweisen muss.
Ein Beispiel dafür sind unsere Studien, mit denen wir unsere politische Positionierung vorbereiten. Denken Sie etwas an unsere Stromstudie aus dem Jahr 2022 oder aus diesem Jahr unsere Resilienz-Studie. Hier beauftragen wir renommierte Institute wie Fraunhofer oder das Institut der Deutschen Wirtschaft.
Uns auf der Grundlage von Zahlen, Daten, Fakten eine Meinung zu bilden: Das ist unser Anspruch. Dieser Anspruch soll mich auch bei meinen folgenden Ausführungen leiten. Ich möchte folgende Fragen beantworten:

1. Wo stehen wir aktuell?

Um es vorwegzunehmen. Die vielbeschworene Wirtschaftswende ist nicht geschafft. Lassen Sie mich diesen Befund anhand von sechs Messzahlen begründen:
  1. Das deutsche Bruttoinlandsprodukt pro Kopf sinkt. 2021 bis 2025 lag der Rückgang bei 1,2 Prozent. Andere große Volkswirtschaften indes wachsen:
    • USA: +7,2 Prozent
    • Italien: +7,3 Prozent
    • Sogar das krisengeplagte Frankreich wächst im gleichen Zeitraum um 4,1 Prozent.
  2. Unsere vielgepriesene Exportwirtschaft ist nicht mehr der Motor unseres Wachstums. Schaut man sich die sogenannte Exportelastizität an, partizipiert Deutschland nur noch unterdurchschnittlich am Wachstum der Welt. Negativer Ausreißer nach unten: Die Exporte nach China. Wenn das BIP in China um ein Prozent wächst, steigern sich unsere Exporte dorthin nur noch um 0,06 Prozent. Das ist nur knapp über dem Nachweisgrenze!
  3. Schauen wir auf das Inland und den wichtigen Indikator der Auslastung. Egal ob Dienstleistungen, verarbeitendes Gewerbe oder der Bau: Die Auslastung der Betriebe liegt bis zu zehn Prozent unter dem langjährigen Durchschnitt.
  4. Weit überdurchschnittlich konsumiert auf der anderen Seite der Staat. Der Staatskonsum steigt seit 2015 um 26 Prozent und entkoppelt sich immer stärker vom Wachstum des Bruttoinlandsprodukts. Ganz anders hingegen die Entwicklung der Investitionen in der Privatwirtschaft: Diese haben sich in den vergangenen zehn Jahren kaum verändert. Ein ähnliches Bild ergibt sich beim Blick auf die geleisteten Arbeitsstunden in den jeweiligen Sektoren.
  5. Die Wirtschaftsweisen veröffentlichen kürzlich in ihrem Jahresgutachten Daten zum Potenzialwachstum Deutschlands. In der Prognose bis zum Jahr 2030 dümpeln wir mit einem Wachstum von circa 0,3 Prozent pro Jahr vor uns hin. Umso dramatischer, wenn man bedenkt, dass diese Statistik die langfristige Entwicklung des BIP bei optimaler Auslastung der vorhandenen Kapazitäten (Kapital, Arbeit und Produktivität) ausweist – sprich den „Best case“ abbildet. Das kann nicht unser Anspruch sein!
  6. Und zuletzt: Der Vergleich von Europa mit China und den USA. Vor 15 Jahren waren die USA und Europa in Bezug auf das nominale BIP in etwa gleichauf. China verfügte nicht einmal über die Hälfte des europäischen BIPs. Was ist in der Zwischenzeit passiert?
    • Die USA haben sich in der Zeit verdoppelt.
    • Die Chinesen verdreifacht und sind nun fast gleichauf mit Europa.
    • Europa konnte nur um knapp die Hälfte zulegen.
Angesichts dieser Zahlen verwundert es nicht, wenn laut einer aktuellen Umfrage des BDI zwei von drei Industriebetrieben hierzulande sagen, dass sie ihre Produktion ganz oder teilweise ins Ausland verlagern möchten.

2. Wie sind wir dahin gekommen?

Diese Lagebeschreibung ist nicht gerade stimmungsaufhellend. Wir dürfen aber nicht vergessen: Noch haben wir eine starke Wirtschaft. Deutschland ist die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt.
Die Resilienz-Studie für die Metropolregion Rhein-Neckar hat uns gerade bescheinigt, dass wir stolz sein können auf unsere gute Mischung aus international erfolgreichen Großunternehmen, einem unglaublich starken Mittelstand mit Hidden Champions und vielen kleinen leistungsfähigen Unternehmen.
  • Wir haben eine exzellente Forschungslandschaft und auch die Unternehmen sind forschungsstark. Das zeigt jährlich die Statistik der weltweiten Patentanmeldungen.
  • Wir haben im familiengeführten Mittelstand viele Unternehmen, die auch im weltweiten Maßstab Hidden Champions sind.
  • Auch unsere duale Ausbildung ist – trotz aller Schwächen – immer noch ein Aktivposten, den andere Länder nicht mal eben kopieren können.
  • Und wir haben momentan noch die Situation, dass wir als Land sehr kreditwürdig und damit handlungsfähig sind; im Gegensatz zu anderen Ländern.
Wenn ich im Folgenden kritische Entwicklungen aus der Zeit der Kabinette Merkel, Scholz und Merz betrachte, heißt das nicht, dass diese Regierungen nicht auch viel Gutes umgesetzt haben.
  • So fällt beispielsweise die Heraufsetzung des Renteneintrittsalters in das erste Kabinett Merkel. Verantwortlich war als Arbeitsminister Franz Müntefering; ein Sozialdemokrat, wie Sie wissen.
  • Merkel hat zudem Erfolge darin gehabt, die EU in schwierigsten Phasen zusammenzuhalten, denken wir nur an die Weltfinanz- und die Schuldenkrise.
  • Die Ampel hat mit der eingeläuteten Zeitenwende und dem Managen der Energiekrise ebenfalls sehr wichtige Beiträge für unser Land erbracht.
Doch ungeachtet dieser Punkte auf der Habenseite, gibt es die vielen falsch angepackten oder auch gar nicht angepackten Dinge auf der Sollseite.
Denn es läuft nicht erst seit dieser oder der Ampel-Regierung etwas schief, sondern mindestens seit 2014:
Die Regierungen ab 2005, also ab dem ersten Kabinett Merkel, haben sich alle in der in der Sonne des von Rot-Grün angestoßenen Aufschwungs gewärmt. Und obwohl die “Agenda 2010” Grundlage für diesen Aufschwung war, hat man sie mit Eifer rückabgewickelt. Und damit weiterem Wachstum die Grundlage entzogen. Gleichzeitig aber nicht nur die Früchte des Aufschwungs geerntet, sondern auch weitere vermeintliche Wohltaten draufgesattelt. Das konnte auf Dauer nicht gutgehen.
Ab 2013 haben die “Schwarz-Roten Kabinette Merkel 3 und 4” beispielsweise:
  • Rentenansprüche stark ausgeweitet
  • Den Mindestlohn eingeführt
  • Den Nachhaltigkeitsfaktor in der Rentenformel ausgesetzt
In der Ampelregierung waren es
  • Die Einführung des Bürgergeldes
  • Der industriepolitische Interventionismus sowie Subventionen für Großprojekte (zum Beispiel Northvolt)
  • Der starke Anstieg der Lohnnebenkosten aufgrund ausbleibender Reformen
Hinzu kommt das Versäumnis, alarmierende Entwicklungen im internationalen Kontext nicht wahrgenommen zu haben.
Gehen wir nun auf die amtierende Regierung und fünf Themenfelder ein, die unseren Standort belasten.

1. Finanzen

Ein Thema, mit dem wir als IHK Rhein Neckar sehr intensiv beschäftigen. Denn in Bezug auf die aufgestellten Haushalte wird Politik maximal transparent, konkret und messbar.
Beim Jahresschlussempfang 2024 haben wir die Schuldenbremse sehr ausführlich diskutiert. Und ich muss sagen, meine damaligen Befürchtungen haben sich leider bewahrheitet.
Zugegeben: Die alte Schuldenbremse war reformbedürftig. Doch das Ausmaß und die Schamlosigkeit, mit der nun Schulden aufgenommen werden, irritiert doch sehr.
Hierzu einige Zahlen:
  • Rechnet man die Sonderschulden mit ein, ist jeder Dritte Euro in den nächsten fünf Bundeshaushalten schuldenfinanziert.
  • Der Verschiebebahnhof ist im vollen Gange. Selbst die wohlwollendsten Ökonomen gehen davon aus, dass jeder zweite Euro der Sonderschulden für konsumtive Zwecke statt für zusätzliche Investitionen genutzt wird. Die Bundesbank ist noch kritischer und rechnet aus, dass nur knapp zehn Prozent zusätzlich investiert wird. Das Beispiel Investitionen in die Deutsche Bahn verdeutlicht dies: Im Kernhaushalt der Ampel waren 18,1 Milliarden Euro für die Schiene eingeplant. Nun sind nur noch 12,4 Milliarden Euro! Der Rest wird über Schulden finanziert. Insgesamt hat man sich alleine an dieser Stelle sechs Milliarden Euro Luft verschafft.
  • Wir verspielen unsere vorher genannte Kreditwürdigkeit. Mit einer prognostizierten Staatsschuldenquote von laut Sachverständigenrat rund 90 Prozent müssen wir uns dauerhaft auf ein weitaus höheres Zinsniveau einstellen.
  • Durch unsere finanzielle Stabilität waren wir in Europa bisher der Garant für niedrige Zinsen – auch für unser höher verschuldeten Partner vor allem in Südeuropa. Das gefährden wir mit dem eingeschlagenen Schuldenpfad.
  • Prekär ist die Lage ebenfalls in den Haushalten der Städte und Kommunen. 2025 droht ein Rekorddefizit. Auch in unserer Region haben einige Städte große Probleme, insbesondere durch Rückgänge bei der Gewerbesteuer, durch hohe Ausgaben für den Betrieb und durch Kostensteigerungen für Großprojekte.
  • Die höheren Finanzierungskosten, die ebenfalls wachsenden Verteidigungsausgaben sowie die durch Demografie und Klientelpolitik steigenden Ausgaben im Sozialbereich werden zu einem sogenannten versteinerten Haushalt führen. Einige Studien gehen davon, dass wir Mitte des nächsten Jahrzehnts weniger als fünf Prozent frei verfügbare finanzielle Mittel zur Gestaltung und Krisenbekämpfung haben werden. Wollen wir das wirklich unseren Kindern antun?
  • Dass der Staat kein Einnahme-, sondern ein Ausgabenproblem hat, zeigen aktuelle Daten der Steuerschätzer. Nächstes Jahr werden wir in Deutschland zum ersten Mal die Marke von einer Billion Euro Steuereinnahmen durchbrechen.
Lassen Sie mich die Konsequenzen dieser Finanzpolitik nochmals deutlich herausarbeiten:
  • Mit Schulden erkauft man sich vor allem Zeit. Zeit, um Reformen aufzusetzen und sie wirken zu lassen, bis man von den Erfolgen der Reformen profitiert und damit die Schulden – samt Zinsen - zurückzahlt. Kommen diese Reformen nicht, oder sind sie nicht wirksam, dann bleiben lediglich Schulden!
  • Bekanntermaßen sind die Schulden von heute immer die Steuern von morgen. Deshalb ist die Diskussion über Reformen auch eine verkappte Diskussion über die nächsten Steuererhöhungen mit den bekannten Auswirkungen auf den Standort und die Leistungsbereitschaft.
  • Wenn die Schuldentragfähigkeit erreicht ist – und das kann bei einem Zinsanstieg schneller kommen als erwartet – wird sich wieder eine unheilige Allianz der Steuererhöher finden. Erste Begehrlichkeiten gibt es schon in Richtung Erbschaftssteuer und Vermögenssteuern. Dabei wird öffentlich immer wieder mit Milliardären argumentiert. Getroffen wird dadurch aber - wie so oft - der Mittelstand, der aktuell ohnehin in der Nachfolgeproblematik steckt, weil es den Alteigentümern immer schwerer fällt, potenzielle Nachfolger von der Attraktivität des Unternehmertums zu überzeugen.
  • Ich kann davor nur eindringlich warnen. Der damit einhergehende Verlust an familiengeführten Unternehmen, um den uns alle Länder beneiden, wäre ein weiterer Sargnagel in den Wirtschaftsstandort Deutschland.
Deshalb, meine Damen und Herren, bestehen wir so vehement auf Reformen.

2. Arbeitskosten

In Bezug auf die Lohnhöhe liegen wir schon seit vielen Jahren im Spitzenfeld. In früheren Jahren konnten wir uns das leisten, weil wir technologisch führend waren. Dieser Vorsprung ist aber gewaltig geschmolzen, folglich können wir uns auch nur noch einen kleineren Lohnvorsprung leisten.
Der Kern des Problems liegt aber nicht so sehr beim Lohn selbst, sondern bei den Lohnnebenkosten, genauer gesagt bei den Mechanismen, die sich auf die Lohnnebenkosten auswirken. Um unpopuläre Reformen an unseren Sozialsystemen zu vermeiden, erhalten die Sozialsysteme Zuschüsse aus dem Bundeshaushalt. Und wenn das nicht mehr reicht, dann werden halt die Steuern erhöht. Das wiederum reduziert die Leistungsanreize für Unternehmen und Mitarbeiter weiter. Ein Teufelskreis, aus dem wir nur herauskommen, wenn es uns gelingt, die Probleme an der Wurzel zu lösen, satt sie mit immer mehr Geld zuzuschütten.
Nehmen wir aus aktuellem Anlass die Rentenpolitik: Am vergangenen Freitag, dem 5. Dezember, hat der Bundestag die viel diskutierte Rentenreform beschlossen. Ist das der Beginn der Aufholjagd, die wir vor uns haben? Alles andere als das!
Mit der bis 2031 verlängerten Haltelinie, der Mütterrente und der Aktivrente wird der Sozialstaat weiter ausgebaut, und das in einer beispiellosen wirtschaftlichen Schwächephase. Dementsprechend hat eine sehr große Zahl führender Wissenschaftler und Ökonomen der Bundesregierung abgeraten, das Rentenpaket zu beschließen.
Wir laufen also los, aber erstmal in die falsche Richtung.
Erst wider besseren Wissens das Falsche zu beschließen und dann darauf zu hoffen, dass die eigene Rentenkommission die Bundesregierung im nächsten Jahr hoffentlich vor den finanziellen Folgen ihrer eigenen Beschlüsse rettet. Das ist Regierungskunst, die außerhalb der Berliner Blase kaum jemand versteht.

3. Fast schon ein Klassiker: Die Regulatorik.

Die Gängelung der Unternehmen ist nicht mehr nur ein wirtschaftliches Problem, sondern auch ein rechtliches.
Der ehemalige Richter am Bundesverfassungsgericht, Udo di Fabio, den ich jüngst in Berlin bei der DIHK getroffen habe, hat in einem Gutachten die Frage aufgeworfen, ob die starken Eingriffe in die unternehmerische Freiheit gegen die Berufsfreiheit verstoßen.
Diese ist verfassungsrechtlich geschützt. In Artikel 12 unseres Grundgesetzes heißt es: “Alle Deutschen haben das Recht, Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte frei zu wählen.”
Dieser Artikel 12 garantiert damit auch die unternehmerische Freiheit.
Di Fabio bezeichnet Regulatoriken wie das Lieferkettengesetz als “implementative Steuerung”
  • Erstes Problem dabei, so der Verfassungsrechtler: Der Gesetzgeber kehre die Beweislast um. Also nicht der Staat muss den Unternehmen ein konkretes Fehlverhalten nachweisen, sondern die Unternehmen durch exzessive Dokumentationspflichten ihr rechtskonformes Verhalten; also ihre Unschuld.
  • Jetzt gibt es aber noch Problem Nummer zwei: Der Gesetzgeber nutzt dabei völlig unbestimmte Rechtsbegriffe. Es ist also gar nicht klar, was im Einzelfall rechtswidrig und was rechtskonform ist!
Di Fabio hat dieses Vorgehen auf die Straßenverkehrsordnung übertragen. Also stellen Sie sich vor: Sie wissen als Autofahrer zwar, dass ein Tempolimit gilt. Sie wissen aber nicht, ob jetzt 30 Stundenkilometer, 50, 70 oder was auch immer die Höchstgeschwindigkeit ist. Der Staat zwingt Sie nun, Ihre Geschwindigkeit minutiös zu dokumentieren. Und irgendwann kommt der Staat und kontrolliert, schaut sich Ihre Dokumentation genau an und stellt fest: Puh, da und da haben Sie die Geschwindigkeit überschritten und deshalb gibt es jetzt ein Bußgeld.
Di Fabio hält dieses Vorgehen, die “implementative Steuerung” – toller Begriff für eine sehr fragwürdige Sache – für verfassungswidrig.
Neben den genannten Problemen drücke sich in solch einer Politik ein grundlegendes Misstrauen gegenüber Unternehmen aus. Seine Forderung: Zu einer Kultur des Vertrauens zurückzukehren. Denn ohne solch eine Kultur gibt es keine unternehmerische Freiheit und damit auch keine Marktwirtschaft mit all ihren Segnungen.

4. Die Energiekosten

Bei der Klimawende wollten wir Vorbild für die Welt sein – in der Hoffnung, dass möglichst viele andere Länder folgen. Wir haben uns besonders ehrgeizige Klimaziele gesetzt. Hat sich diese Hoffnung erfüllt? Nein, bis heute ist uns kein Land gefolgt.
Unsere Klimapolitik ist eine unverdauliche Kombination aus marktwirtschaftlichen Elementen (ETS) und diskretionären Eingriffen (Sektorenziele, Technologieverbote) mit Regulierung im Detail. Im Ergebnis haben wir weltweit gesehen extrem hohe Grenzkosten zur Vermeidung von CO2.
Für den Standort Deutschland ist das fatal: Wir müssen Kosten tragen, die wir vermeiden könnten und verlieren dadurch an internationaler Wettbewerbsfähigkeit, weil die Unternehmen in anderen Ländern dieses Kosten nicht haben.
Damit sind wir sogar zum Negativbeispiel geworden, wie man es eben nicht machen sollte. In allerbester Absicht haben wir mit viel Aufwand das Gegenteil von dem erreicht, was wir erreichen wollten und was nötig gewesen wäre. Hier gilt einmal mehr: Gut gemeint ist eben nicht gut gemacht.
Verstehen Sie mich nicht falsch, wir wollen die ökologische Transformation. Wir müssen sie sogar wollen, weil die Folgekosten des Klimawandels für alle unbeherrschbar sind. Aber wir wollen sie nicht wie bisher. Wir wollen eine auch im ökonomischen Sinne nachhaltige Klimapolitik. Und das erfordert eine Rückbesinnung auf die Kräfte der Marktwirtschaft, die im ETS 1 bereits zu beeindruckenden Ergebnissen geführt haben: Im Zeitraum 2005 bis 2024 wurden in den Branchen, die dem ETS 1 unterliegen, in Deutschland 47 Prozent der CO2-Emissionen eingespart.
Unsere IHK-Organisation hat ein Gutachten erstellt zu den Auswirkungen der Energiewende, wie sie aktuell betrieben wird: Plan A. Und gleichzeitig einen Vorschlag für ein alternatives, marktwirtschaftliches Konstrukt, Plan B, vorgestellt. Deshalb heißt sie auch Plan-B-Studie.
Das zentrale Ergebnis: Durch den Wechsel zu einer marktwirtschaftlichen Klimapolitik können bis zum Jahr 2050 weit mehr als eine Billion Euro eingespart werden. Und das nicht durch weniger Klimaschutz, sondern bei den gleichen Gesamtemissionen bis 2050.
Wie gelingt das:
  • Erstens öffnet das Konzept den Lösungsraum für alle zur Verfügung stehenden emissionsarmen Technologieoptionen. Ausbaupfade für einzelne Technologien gibt es im Plan-B-Konzept nicht. Alle Technologien müssen sich dem Markt stellen.
  • Zweitens erlaubt die Abkehr von starren jahresscharfen Zwischenzielen (zum Beispiel EU-weit 90 Prozent Emissionsreduktion bis 2040) hin zu einem sektorübergreifenden Emissionsbudget eine bessere zeitliche Abstimmung der Investitionen. Dadurch können Reinvestitionen entlang der natürlichen Reinvestitionszyklen vorgenommen werden.
  • Drittens: Zusätzliche Kosten-Einsparpotenziale entstehen durch eine stärkere globale Verzahnung der Klimaschutzbemühungen, durch die Anrechnung kostengünstigerer Klimaschutzmaßnahmen im Ausland bei gleichbleibenden Klimazielen und eine flexible Anpassung des Transformationstempos an die Entwicklung internationaler Vergleichsgruppen.

5. Internationale strategische Wettbewerbsposition

Lassen wir die nationale Sichtweise hinter uns. Und befassen wir uns mit unser internationalen strategischen Wettbewerbsposition, die mindestens genauso unter Druck steht.
“Von Freunden umzingelt”: So hat 1992 der damalige Verteidigungsminister Rühe unsere sehr komfortable Lage beschrieben. Der Ost-West-Konflikt war beendet, Deutschland wiedervereinigt in einem immer stärker zusammenwachsenden Europa.
Und wir waren nicht nur von Freunden umzingelt. Diese Freunde waren außerordentlich gute Kunden und Zulieferer unserer Exportindustrie! Von der Transformation Mittel- und Osteuropas hat Deutschland massiv profitiert. Die gesamte Globalisierung hat in dieser Phase wahnsinnig an Schwung gewonnen.
2001 dann der Eintritt Chinas in die WTO. Damit konnte China viel leichter in die Welt exportieren – und wir auch dort Geschäfte machen! Das exportgestützte Wachstumsmodell Chinas war unserer Volkswirtschaft extrem dienlich: Der deutsche Anlagen- und Maschinenbau ist der Fabrikausrüster der Welt. Und auch an dem rasanten Zubau an Infrastruktur in China haben wir enorm profitiert. Goldene Zeiten!
Doch für Unternehmen wie für Volkswirtschaften gilt: Die Fehler werden im Boom gemacht.
Viele Veränderungen haben wir schlichtweg ignoriert. Hier will ich ausdrücklich nicht nur auf die Politik verweisen, diese Kritik trifft auch Gesellschaft und Wirtschaft.
Einige Beispiele:
  • Der Aufstieg Chinas ging einher mit der Strategie, andere Länder abhängig zu machen und die internationale Ordnung zu dominieren. Diesem Ziel ist China ziemlich nahegekommen! Denken wir nur an unsere Abhängigkeit von Seltenen Erden.
  • Bereits in der Präsidentschaft Obamas kam die Aufforderung, dass sich Europa stärker selbst um seine Verteidigung kümmern müsse. Denn die USA haben das Risiko, das von China ausgeht, frühzeitig erkannt und den Fokus auf den asiatischen Raum gelegt.
  • Wir – ganz Europa – haben diese Forderungen ignoriert. 2014 gab es dann sogar einen formalen Beschluss der NATO-Mitglieder, zwei Prozent des BIP für Verteidigung auszugegeben – übrigens im Jahr der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim durch Russland! Auch das haben wir ausgesessen.
  • Und dann sind wir am 24. Februar 2022, dem Tag des russischen Überfalls auf die Ukraine, verstört aufgewacht. Denn die Jahre zuvor haben wir uns freiwillig in eine Energieabhängigkeit von Russland begeben.
  • Letzter Punkt: die Änderungen im Welthandel. Die Globalisierung hat den Rückwärtsgang eingelegt. Und der Hüter der alten liberalen Weltordnung, die USA, ist dafür zu großen Teilen verantwortlich.
Auf keine dieser Veränderungen haben wir uns langfristig, planvoll, strategisch vorbereitet. Europa und Deutschland ist heute vor allem Spielball der Weltläufe geworden. Das ist selbst verschuldet. Und das heißt aber auch: Wir können das wieder ändern, indem wir die Änderungen der internationalen Ordnung realisieren und darauf gemeinsam mit unseren europäischen Partnern reagieren. In der Sicherheit tut sich gerade viel. Genauso wichtig ist ein Netz von Bündnissen und Freihandelsverträgen mit möglichst vielen Ländern und Weltregionen.

3. Wie überwinden wir unsere Reformschwäche?

Meine bisherigen Ausführungen zeigen, dass wir nicht irgendwelche Reformen (Aktionismus, Reform um der Reform willen) brauchen, sondern Reformen, die den strukturellen Schwächen unserer Wirtschaft gezielt entgegenwirken.
In den vergangenen Jahren sind uns viele Länder enteilt. Wenn wir unseren Wohlstand halten wollen, braucht es eine Aufholjagd. Die Tatsache, dass andere EU-Länder eine höhere Wachstumsrate haben als wir, zeigt, dass diese Aufholjagd dringend nötig und möglich ist. Doch wir stecken noch im Startblock fest, weil wir den Schuss nicht gehört haben.
Unser Standort leidet an politscher Prokrastination, umgangssprachlich Aufschieberitis; neben vielen weiteren Problemen. Auch Defizite, die offensichtlich sind oder sich langfristig ankündigen und frühzeitig gesellschaftlich thematisiert werden, werden nicht angegangen, sondern wider besseren Wissens liegengelassen, weil man sich der irrigen Hoffnung hingibt, dass es schon irgendwie gut geht. Oder weil sich die nächste Regierung damit befassen soll…
Das beste Beispiel dafür ist die Demografie. Denn nichts lässt sich so gut prognostizieren, wie die Demografe, denn schon die Eltern der Kinder, die uns heute fehlen, wurden in den 70er und 80er Jahren nicht geboren.
Die politische Aufschieberitis hat dazu geführt, dass wir heute vor einem historischen Reformstau stehen und sich die einzelnen Defizite zu einem “perfekten Sturm für den Standort Deutschland” verdichtet haben. Je länger man wartet, desto heftiger muss die Reaktion ausfallen. Wir sehen heute, wie sehr das Politik und Gesellschaft herausfordert.
Um große Dinge zu vollbringen, braucht es eine Vision, die die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Kräfte mobilisiert und synchronisiert. So war es bei der Man-to-the-Moon-Mission, die US-Präsident Kennedy 1961 verkündete. Auslöser die schockierende Erkenntnis, dass die Sowjetunion den USA in der Raumfahrt überlegen war. Das Piepen eines sowjetischen Satelliten aus dem All war der Weckruf, war das Aufbruchsignal für eine gigantische Aufholjagd. Sie wissen, wer den Wettbewerb gewonnen hat.
Ich bin der festen Überzeugung, dass wir eine solche kraftvolle Vision ebenfalls brauchen.
Wir brauchen die Kraft der Vision, um über das Tal der Tränen hinwegzukommen. Erst die Vision zeigt, was es zu gewinnen gibt, wenn wir uns auf den – zugegebenermaßen beschwerlichen - Weg begeben. Sie ist es, die die Motivation erzeugt, um die Komfortzone zu verlassen und sich aufzumachen in eine neue Welt. Es ist die Vision, die diese Kräfte bündelt.
Bei allem Enthusiasmus: Eine solche Vision erfüllt ihren Zweck nur dann, wenn sie in der Realität verankert bleibt. Wir haben immer wieder erlebt, wie politisch gesetzte Zielzahlen mehr Wunschdenken als belastbare Grundlage waren. Ich erinnere hier beispielsweise an vollmundige Versprechungen wie der Bau von 400.000 Wohnungen pro Jahr oder das eine oder andere Klimaziel. Ambition ist gut, aber Ambition ohne Machbarkeit führt zu Enttäuschungen und zu Vertrauensverlust.
Können wir für unser Land eine solche Vision und Agenda 2035 entwickeln? Ich gebe zu: Keine einfache Aufgabe, aber ich versuche es trotzdem:
  • Vorhin hatten wir die Finanzen angesprochen: Hier sehne ich mich nach einem Land, indem Nachhaltigkeit im eigentlichen Sinne verstanden und gelebt wird: als Balance zwischen ökologischen, ökonomischen und sozialen Aspekten und das über Generationen hinweg. Ich sehne mich nach einem Schulterschluss aller Eltern in diesem Land – egal welchen Alters. Die alles leitende Frage muss lauten: Was wollen wir in allen drei Nachhaltigkeitsdimensionen unseren Kindern und Kindeskindern hinterlassen?
  • Dann hatten wir es vom Thema Arbeit: Ich möchte in einem Land leben, in dem Arbeit wieder positiv verstanden und gelebt wird. Arbeit ist nicht nur Pflicht, nicht nur Last, kein Gegenteil von Leben wie im Konzept der Work-Life Balance. Arbeit ernährt nicht nur, sie gibt Erfüllung, Bestätigung, soziale Kontakte, Freundschaften, sie ist einmalige Möglichkeit, sich selbst und das Aufstiegsversprechen zu verwirklichen, kreativ zu sein und seinen Kindern oder Mitmenschen im obigen Sinne etwas zu hinterlassen.
  • Das Thema Regulatorik: Hier wünsche ich mir, dass Europa im Sinne von Udo di Fabio nicht mehr mit Bürokratie und Gängelung gleichgesetzt wird, sondern mit wirtschaftlichen Chancen, Einigkeit und Zusammenhalt.
  • Zum Thema Energiekosten: Ich stelle mir ein Land vor, in dem Energiepolitik und Klimaschutz nicht länger als Synonym für hohe Kosten, Verzicht und Einschränkung gelten. Sondern als historische Chance: Zugang zu günstigerer, sauberer Energie, unabhängig von autoritären Petrostaaten und geopolitischen Risiken.
  • Zum Thema internationale Position: Ich möchte in einem Land leben, das wieder in der Spitzengruppe der Welt angekommen ist. Das starker Teil eines starken Europas ist, mit starken Bündnissen für Sicherheit; verteidigungsfähig, resilient und dank vieler Freihandelsabkommen mit der ganzen Welt im Handel und Austausch.
Nun werden Sie sich an einen Satz von Helmut Schmidt erinnern: “Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen”.
Schauen wir uns eine Vision an, die ziemlich erfolgreich war: die Agenda 2010.
Die Agenda 2010 wurde 2003 von Kanzler Schröder vorgestellt. Die Umsetzung des Konzepts in Gesetze brauchte noch mehrere Jahre, in denen es zunächst weiter bergab ging. Es war ein Tal der Tränen, aber ein Ruck ging durch Politik, Wirtschaft und Gesellschaft.
Als die Gesetze dann in Kraft traten und nach und nach griffen, ging es schrittweise wieder bergauf. Bereits vier Jahre später, also ab dem Jahr 2007, hatten wir den „Break Even“ erreicht und ernteten die ersten Früchte. In den darauffolgenden Jahren profitierte Deutschland von einem rund achtjährigen Aufschwung, der so lange trug, bis man übermütig wurde und die Wirtschaft mit zusätzlichen Belastungen überhäufte.
Die Agenda 2010 zeigt: Wir haben uns mit eigenen Kräften aus der damaligen Malaise herausgearbeitet. Wir waren damals bereit, schmerzliche Schritte zu gehen. Am Ende haben wir nicht nur wirtschaftlich profitiert, wir konnten auch stolz sein auf das Erreichte.

4. Was ist zu tun, also welche Reformen brauchen wir?

Nun werden Sie sich fragen, mit welcher Agenda 2035 wir diese formulierte Vision umsetzen können.
Zunächst einmal müssen wir aufpassen, dass wir bei den Standortfaktoren, bei denen wir noch gut sind, auch gut bleiben. Wir sollten also im Sinne einer Unternehmensstrategie unsere Stärken weiter stärken.
Hierzu liefert das IMD Ranking aus Lausanne eine sehr detaillierte Datengrundlage. Drei Beispiele:
  1. Beim Kreditrating sind wir weltweit Spitzenreiter. Das heißt: Die Finanzmärkte haben ein sehr großes Vertrauen in unsere finanzielle Stabilität und belohnen uns mit geringeren Zinskosten. Dieses Asset dürfen wir nicht für konsumtive Zwecke finanziert durch Sonderschulden aufs Spiel setzen!
  2. Die duale Ausbildung ist weiterhin einer unserer ganz großen Wettbewerbsvorteile: Hier liegen wir laut IMD auf einem tollen 3. Platz.
  3. Auch unsere kleinen und mittleren Unternehmen sind ein großes Asset. Wir sollten alles daransetzen, diese Vielfalt und Transformationsfähigkeit dieser Unternehmen durch gute Rahmenbedingungen zu stützen.
Auf der anderen Seite müssen wir bei den Standortfaktoren, bei denen wir schlecht abschneiden, gegensteuern. Hier hilft uns der Benchmarking-Ansatz. Er zeigt, von wem wir lernen können.
  1. Beispiel dänischer Arbeitsmarkt: Dieser wird von IMD auf Platz 3 bewertet – wir liegen auf Platz 34. In Dänemark ist die Arbeitsplatzmobilität höher – mit entsprechenden gesamtwirtschaftliche Vorteile durch die Verteilung von Wissen und Können in den Unternehmen. Dies wird ermöglicht durch eine unkompliziertere Einstellung und Entlassung von Mitarbeitern. Ohne dabei das Hire und Fire aus den USA zu kopieren.
  2. Ein Blick nach Schweden zeigt, wie ein modernes Rentensystem funktionieren kann: Dort gehen seit mehr als 20 Jahren neben der klassischen Umlage von 16 Prozent auch 2,5 Prozent des Gehalts in einen staatlich regulierten, kapitalgedeckten Fond. Und das zu geringen Kosten und bei hohen Renditen.
  3. Estland ist globaler Vorreiter im Bereich E-Government. 99 Prozent aller Behördengänge lassen sich online erledigen, ob Firmengründung, Steuererklärung oder Rezept. Ich weiß, kein Land lässt sich 100prozentig mit dem anderen vergleichen. Dennoch ließe sich auch für Deutschland einiges lernen.
  4. Zum Schluss das Thema Innovation: Ein wesentlicher Grund für den Erfolg der USA ist deren Gespür, aus Neuerungen innovative Produkte und Geschäftsmodelle zu entwickeln, diese zu skalieren und zu vermarkten. Dazu gehört eine Vielzahl an Maßnahmen, Wagniskapital, Anwendungsorientierung, die Wahrung unternehmerischer Freiheit mit einer möglichst schlanken Bürokratie und Regulatorik. Davon müssen wir lernen! Wir können uns nicht mehr darauf ausruhen, dass Silicon Valley des 19. Jahrhunderts gewesen zu sein. Wir müssen ein “German Valley” des 21. Jahrhunderts werden.
Neben den nationalen Themen werden wir nicht umhinkommen, eine neue Strategie für unsere internationale Wettbewerbsposition Deutschlands zu entwickeln. Und das auch, damit wir uns die vorhin zitierte Aufschieberitis nicht mit dem jeweils anderen Problemfeld entschuldigen können. Wir brauchen beides: nationale Reformen und eine internationale Strategie!
Insgesamt können wir als Deutschland unsere Rolle in der Welt nur stärken, wenn wir europäisch denken. Nur gemeinsam mit unseren europäischen Partnern innerhalb und außerhalb der Europäischen Union bringen wir solch eine Gewicht auf die Waagschale, dass Mächte wie die USA oder China uns ansatzweise ernst nehmen.
Die Betonung “außerhalb der EU” adressiert natürlich in erster Linie Großbritannien. Das Land hat einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat und spielt auch als Atommacht vorne mit im Konzert der Mächte. Auf diesen Partner kann Europa nicht verzichten.
Die EU muss sich also auf zwei Kernaufgaben fokussieren:
  1. Die Vollendung des EU-Binnenmarktes. Wann, wenn nicht jetzt? Das ist die zentrale Stellschraube auf europäischer Ebene, damit wir Wettbewerbsfähigkeit zurückgewinnen. Zur Erinnerung: Der EU-Binnenmarkt ist größer als der US-amerikanische! Der IWF hat sich die Mühe gemacht und die Kosten der vielen bürokratischen und regulatorischen Handelsbarrieren innerhalb des Binnenmarkts errechnet. Für Waren beträgt dieser „Zoll“ 44 Prozent und für Dienstleistungen wahnsinnige 110 Prozent! Auch EZB-Chefin Lagarde betonte kürzlich: Würden wir ein Viertel der Binnenmarkt-Reformen umsetzen, könnten wir die Auswirkungen der US-Zölle vollständig ausgleichen. Sie merken, hier ist noch viel zu holen.
  2. Handelsabkommen abschließen: Wenn Märkte wie die USA oder China schwieriger werden, brauchen wir alternative Allianzen mit sehr guten Marktzugängen. Dafür sind Handelsabkommen unverzichtbar, gerne schlank, also mit Fokus auf Handelsfragen und nicht überfrachtet mit Inhalten aus anderen Politikfeldern.
Diese zwei Punkte könnte man als Diversifizierung beschreiben. Wir brauchen zudem mehr Pragmatismus: Dass hiermit weniger, widerspruchsfreiere und wirtschaftsfreundlichere Regulatorik gemeint ist, muss ich Ihnen nicht erläutern. Auch hier ist die EU ein zentraler Player.
Dass die EU-Kommission selbstkritisch die eigene Rolle reflektiert, zeigt ihr Umgang mit dem Lieferkettengesetz. Diese Woche haben sich Unterhändler von Parlament und der Mitgliedsstaaten auf Änderungen geeinigt und damit Forderungen aus der Wirtschaft erfüllt:
  1. Das Gesetz, das ab 2028 gilt, zielt nur noch auf Großunternehmen mit mehr als 5.000 Mitarbeiter und einem Jahresumsatz von mindestens 1,5 Milliarden Euro. Ursprünglich waren als Grenze 1.000 Mitarbeiter und eine Umsatzschwelle von 450 Millionen Euro vorgesehen.
  2. Die zivilrechtliche Haftung entfällt.
  3. Die “Weitergabe” der Berichtspflichten in der Lieferkette ist auf den ersten Lieferanten beschränkt. Hier bleibt allerdings das Problem, dass jedes Unternehmen mit einem anderen Formular und Anforderungen auf die Zulieferer zukommen kann.
Dieser Mut zur kritischen Reflexion ist ermutigend. Ich kann in Richtung EU nur appellieren: Weiter so!
Aber Pragmatismus ist mehr als Abbau überbordender Regulatorik. Wir müssen die EU fit machen für die neue Weltordnung. So ist das Einstimmigkeitsprinzip zu hinterfragen. Es gibt Einzelinteressen viel zu viel Macht und verzögert entschlossenes Handeln.
Dann brauchen wir Bündnisse von Staaten innerhalb der EU, die gemeinsam Probleme anpacken. Die Zusammenarbeit großer EU-Staaten mit Blick auf Russland ist ein Beispiel dafür.
Bleiben wir bei der Sicherheit: Sicherheit muss viel stärker europäisch organisiert werden. Die neue nationale Sicherheitsstrategie der USA hat gerade erneut gezeigt, dass auf die USA als Werte- und Bündnispartner derzeit kein Verlass mehr ist.
Und diese so gewonnene Handlungsfähigkeit muss Europa nutzen, um selbst eine interessengeleitete Außenpolitik zu realisieren. Mit einem „Weiter so“ jedenfalls werden wir angesichts der geopolitischen Realitäten des 21. Jahrhunderts keinen Erfolg haben.

5. Schlussappell

Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich hoffe, Ihnen drei Dinge vermittelt zu haben:
  1. Unsere derzeitige Lage ist sehr ernst.
  2. Dass und wie wir dorthin gekommen sind, haben wir in großen Teilen uns selbst zuzuschreiben.
  3. Das heißt aber auch: Wir können uns aus dieser Situation wieder herausarbeiten, wenn wir wollen!
Und das Schöne ist – es gibt konkrete Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit, die zeigen, wo uns genau das gelungen ist:
  1. Die schon genannte Agenda 2010, die unser Land wieder wettbewerbsfähig gemacht hat.
  2. Die Einführung des Nachhaltigkeitsfaktors bei der Rente im Jahr 2004
  3. Die Schuldenbremse aus dem Jahr 2011, die unsere Staatsfinanzen konsolidiert hat.
Diese alle drei sehr sinnvollen Maßnahmen wurden im Laufe der Zeit zurückgebaut.
Nun gilt es, diesen Mut zu richtigen Reformen wieder zu entdecken.
Die Grundlage dafür ist da, denn unser „Betriebssystem“ ist gut – die soziale Marktwirtschaft. Sie hat unser Land wieder stark gemacht. Aber jedes noch so gute Betriebssystem braucht irgendwann ein großes Update, bei dem alte Softwareteile radikal entschlackt werden und neue zukunftweisende Funktionen implementiert werden, sodass moderne Hardware lauffähig wird.
Und genau an diesem Punkt stehen wir heute. Dieses Update wird Kraft kosten. Viele der notwendigen Reformen sind mühsam und verlangen Geduld. Aber es sind wirkliche Investitionen in die Zukunft – und lohnenswerte Investitionen!
Meine Meinung ist klar: Wer sich nur auf Risiken, mögliche Verluste oder Bedenken konzentriert, der verpasst die Chancen.
In diesem Sinne wünsche ich uns allen für das kommende Jahr:
  • Packen wir dieses Update gemeinsam an!
  • Gestalten wir die Reformen, die unser Land braucht!
  • Und ziehen wir Andere mit – durch Zuversicht, Tatkraft und Mut zur Veränderung.
Vielen Dank!

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