Jung und aufstrebend: Wie attraktiv ist Indien?

Indien ist das bevölkerungsreichste Land der Erde, dazu jung, seine Wirtschaft wächst. Welche Chancen bietet das für deutsche Unternehmen?
Indien ist ein Land der Superlative. Im April dieses Jahres hat es China als bevölkerungsreichstes Land abgelöst. Mit 1,426 Milliarden Menschen stellt es jetzt 18 Prozent der Weltbevölkerung. Das Land ist die am stärksten wachsende große Volkswirtschaft. Für 2023/24 prognostiziert die Asian Development Bank ein Wachstum des Bruttoinlandsproduktes (BIP) von 6,4 Prozent, für 2024/25 sogar 6,7 Prozent. Derzeit steht der Subkontinent auf Platz 5 der größten Volkswirtschaften. Bis 2030 wird er Deutschland und Japan den Rang ablaufen. Auch seine geopolitische Bedeutung in der Welt wächst angesichts des Handelskonflikts zwischen den USA und China und des Kriegs in der Ukraine. Indien positioniert sich als alternativer Produktionsstandort zu China und will stärker in internationale Lieferketten eingebunden werden.

Kaufkräftige Mittelschicht nimmt zu

Indien punktet mit einer demografischen Dividende. Seine Gesellschaft ist mit durchschnittlich 27,9 Jahren vergleichsweise jung. In China sind es 39 Jahre, in Deutschland fast 45 Jahre. Rund zwei Drittel der indischen Bevölkerung – also rund 900 Millionen Menschen – sind im arbeitsfähigen Alter zwischen 15 und 64. Diese Gruppe wird in den kommenden Jahren weiter wachsen und zum Wirtschaftswachstum beitragen. Nach Berechnungen der Weltbank werden 2030 von dann 386 Millionen Haushalten (2018: 293 Millionen) 300 Millionen über ein mittleres Einkommen verfügen. Rund 132 Millionen (2018: 97 Millionen) davon werden ein jährlich zwischen 4.000 und 8.500 US-Dollar besitzen, 168 Millionen (2018: 61 Millionen) sogar zwischen 8.500 und 40.000 US-Dollar.
Hierfür sind Jobs notwendig. Jeden Monat strömen eine 1,5 Millionen Menschen auf den Arbeitsmarkt. Fast 90 Prozent sind im informellen Sektor tätig, gut 40 Prozent in der Landwirtschaft. Die Regierung will den Anteil der verarbeitenden Industrie am Bruttoinlandsprodukt von derzeit etwa 18 Prozent bis 2030 auf 25 Prozent steigern.

Staat investiert massiv

Bis 2025 sind 1,2 Billionen Dollar für den Ausbau der Infrastruktur vorgesehen. Jährlich kommen 10.000 Kilometer an neuen Schnellstraßen hinzu. Die Zahl der Passagierflughäfen hat sich seit 2014 auf 150 verdoppelt. 100 weitere Flughäfen sind in Arbeit. Davon profitieren auch deutsche und europäische Unternehmen. Siemens soll in den nächsten elf Jahren 1200 Lokomotiven an die staatliche Eisenbahngesellschaft liefern, die Deutsche Bahn wird eine Schnellzugverbindung von Delhi nach Meerut betreiben. Anfang 2023 hat Indien den größten Einkauf an Flugzeugen weltweit getätigt, davon profitiert auch der deutsch-französische Flugzeugbauer Airbus.
Logistikkosten sind in Indien so hoch wie nirgends in der Welt. Sie machen etwa 14 Prozent des BIP aus, in Industrieländern sind es im Schnitt nur halb so viel. Grund dafür sind lange, oft schwierige Transportwege, Defizite bei der Verkehrsinfrastruktur und hohe bürokratische Hürden. Bis 2030 will die Regierung den Logistikanteil am BIP unter 10 Prozent drücken und Indien im “Logistics Performance Index” der Weltbank unter die Top-25 führen.
Ausländische Investitionen sollen durch Subventionen in 14 Schwerpunktbranchen angelockt werden. Verglichen mit China sind in Indien Lohnkosten niedriger, Arbeitskräfte reichlich vorhanden. Ralf Rohmann, Geschäftsführer der Gustav Eirich Maschinenbau GmbH rechnet vor: “Das Kosten-Leistungsverhältnis ist in Indien komplett anders als bei uns: In Deutschland fallen 80 Prozent Lohnkosten pro Fertigungsstunde und Tonne an und 20 Prozent Material. In Indien ist es umgekehrt.”
Der iPhone-Hersteller Apple ist aktuell das prominenteste Beispiel für eine Produktionsverlagerung von China nach Indien. Noch ist der weltweite Anteil von iPhones aus Indien mit weniger als 5 Prozent eher gering. Aber schon 2025 kann er Analysten zufolge bei 15 Prozent liegen. Stefan Halusa, Hauptgeschäftsführer der AHK Indien, beobachtet seit 2022 ein wieder wachsendes Interesse deutscher Unternehmen am indischen Markt. “Wir erhalten Anfragen aus allen Branchen, darunter Automotive, Chemie, Maschinenbau und IT”, betont er.

Geschäftschancen auch im Umweltschutz

Umweltschutz stand lange nicht im Fokus der indischen Regierung und Unternehmen. Das ändert sich langsam. So wurde eine große Metropole kürzlich vom National Green Tribunal erfolgreich verklagt, die lange geplanten sieben großen Kläranlagen auf dem Stadtgebiet auszuschreiben. Mit der Auftragsvergabe ist bald zu rechnen. Die anderen großen Städte haben das Urteil sehr genau registriert; es wird weitreichende Investitionen auslösen.
“Für die deutsche Wasserwirtschaft bedeutet dies große Chancen. Durch die langjährige Arbeit von German Water Partnership (GWP) und die erfolgreiche Bearbeitung des Leuchturmprojektes ShowCaseIN, das im Rahmen der Exportinitiative durch das Bundesumweltministerium unterstützt wird, haben wir uns eine gute Ausgangsposition erarbeitet, um an diesen Projekten mitzuwirken. Wir sind sehr optimistisch, dass wir in den nächsten Jahren in Indien sehr erfolgreich Geschäfte abwickeln können”, so Dr. Michael Kuhn, Geschäftsführer der Kuhn GmbH aus Höpfingen.

Viel Bürokratie, eine andere Kultur

Allerdings hat Indien noch einige Hausaufgaben zu machen, um ausländische Investoren dauerhaft anzulocken. Die größte Demokratie der Welt gerät gerade wegen Einschränkungen der Pressefreiheit in die Schlagzeilen. In der Rangliste von “Reportern ohne Grenzen” belegt sie Platz 150 von 180. Der von Transparency International erstellte Corruption Perceptions Index 2021 führt Indien auf Platz 85 von 180 betrachteten Ländern.
“Die Bürokratie bleibt eine große Herausforderung für deutsche Unternehmen”, so AHK Indien-Chef Halusa. “Mit der Einrichtung von Single-Window-Anlaufstellen und der Digitalisierung von Prozessen hat sich in den letzten Jahren einiges verbessert, aber der Verwaltungsaufwand ist – vor allem auf der lokale Ebene – nach wie vor hoch. Wir hoffen, wie 80 Prozent unserer Mitglieder, dass das derzeit zwischen der EU und Indien verhandelte Handels- und Investitionsabkommen zur weiteren Verbesserung der Rahmenbedingungen beitragen wird.”
Dieser Einschätzung schließt sich auch Ralf Rohmann an. Er sieht neben der Bürokratie die andere Kultur als die größte Herausforderung. “Um in Indien erfolgreich zu sein, brauchen Sie Geduld und einen langen Atem. Wenn man sich aber darauf einlässt und akzeptiert, dass Indien anders ist, wird man in der Regel auch reich beschenkt.”
Lesen Sie auch das Interview “Indien wird immer wichtiger” mit Ralf Rohmann, Geschäftsführer der Gustav Eirich Maschinenfabrik GmbH & Co. KG aus Hardheim.