Energiewende auf Norwegisch

Schwimmende Windparks und Wasserstoff sind im Kommen im hohen Norden. Für die Energiezukunft des Landes wie Europas spielen sie eine Rolle. Aber auch Öl und Gas bleiben wichtig. Know-how, Rohstoffe und Verfahrenstechnik können deutsche Firmen allemal beisteuern, meint Michael Kern, Geschäftsführer und Vorstandsmitglied bei der AHK Norwegen in Oslo.
Herr Kern, der Öl- und Gassektor ist nach wie vor Norwegens wichtigster Wirtschaftszweig. Welche Geschäftschancen ergeben sich daraus für deutsche Zulieferer?
Kern: Im Zuge der Energiekrise hat sich Norwegen im vergangenen Jahr einmal mehr als ein verlässlicher Partner für Deutschland und die EU erwiesen. Aktuell ist das Land der größte Gaslieferant Deutschlands und wird es auch in Zukunft bleiben. Um den Bedarf zu decken, wird in Norwegen geprüft, wie die bestehenden Öl- und Gasfelder noch effizienter genutzt werden können. Hieraus ergeben sich – wie schon in der Vergangenheit – Chancen, besonders im Wartungs- und Sicherheitsbereich. 
Durch die Lage an der Nordsee hat Norwegen ideale Bedingungen gerade für Offshore-Windkraft. Wie will das Land diese Potenziale erschließen?
Kern: Die norwegische Regierung hat 2018 eine erste Offshore-Windstrategie vorgelegt und diese 2022 aktualisiert. Seitdem hat das Thema Fahrt aufgenommen. Ziel ist es, fast so viel Strom aus Offshore-Windenergie zu erzeugen, wie heute in Norwegen insgesamt produziert wird. Bis 2040 sollen Flächen für 30.000 Megawatt (MW) Offshore-Windenergie erschlossen und Windkraftanlagen auf dem norwegischen Kontinentalsockel installiert werden. In erster Linie werden dies schwimmende Windkraftanalgen sein. Diese Technologie ist allerdings noch nicht so weit fortgeschritten. Daher nutzt Norwegen Offshore-Windenergie noch vergleichsweise wenig.
Im Frühjahr 2023 wurden erstmals zwei große Gebiete dafür ausgewiesen. Gleichzeitig hat man damit begonnen, weitere geeignete Gebiete entlang der Küste zu kartieren. Bei der Erschließung kann sich Norwegen auf sein erhebliches Know-how aus der Öl- und Gasindustrie stützen.
Offshore-Floating-Windparks sind gerade Trend. Welche schwimmenden Windparks sind geplant oder schon realisiert?
Kern: Wie gesagt wird Norwegen bei der Windkraft sehr stark – bis zu 80 Prozent – auf schwimmende Windkraftanlagen setzen. Dies ist aufgrund der Beschaffenheit des norwegischen Kontinentalsockels, der sehr steil abfällt, notwendig.
Aktuell gibt es vor der Küste Bergens ein realisiertes Testprojekt: Hywind Tampen. Es entsteht unter der Leitung des internationalen Energiekonzerns Equinor. Hywind Tampen wird der erste und mit einer Systemleistung von circa 90 MW auch der größte schwimmende Windpark der Welt sein, der Offshore-Öl- und Gasplattformen mit Strom versorgt. Bei Fertigstellung wird der Park aus 11 Windturbinen bestehen. Im Spätsommer soll die Anlage komplett in Betrieb genommen werden.
Der Windpark Utsira Nord vor der Südwestküste Norwegens wurde im Frühjahr ausgeschrieben. Hier sind aufgrund der Gegebenheiten vor Ort nur schwimmende Anlagen möglich. Die Vergabe der Konzessionen ist für Dezember 2023 geplant. Das Interesse ist groß. Mein letzter Stand ist, dass rund 16 Konsortien Interesse bekundet haben, darunter auch Konsortien mit deutscher Beteiligung.
Wie kann die deutsche Windkraftindustrie davon profitieren? Uns im Ländle interessieren vor allem Chancen für Zulieferer der Tier-2- und Tier-3-Ebene.
Kern: Mit Blick auf die ambitionierten Ausbaupläne der Offshore-Windanlagen im gesamten Nordseebecken wird es in allen Anrainerstaaten zu Engpässen im Zuliefererbereich kommen. Das macht eine länderübergreifende Zusammenarbeit unabdingbar. Zum Beispiel bedarf es eines Netzes von Seekabeln auf dem Meeresgrund, was zu Engpässen in der Seekabelproduktion führen kann. Weiteren Bedarf sehe ich vor allem bei Zulieferschiffen und Windturbinen, aber auch bei Rohstoffen und Materialien wie Zement und Stahl, die für den Bau der schwimmenden Windkraftanlagen benötigt werden. Hier können sich deutsche Zulieferer ins Spiel bringen und sich als Partner für die norwegische Windkraftindustrie positionieren.
60 bis 80 Prozent der Zulieferer für schwimmende Windparks werden aus der Öl- und Gasindustrie kommen und ihr vorhandenes Know-how einbringen. Gefragt sind auch hier Zulieferer im Bereich Metallverarbeitung, Maschinenbau, Anlagentechnik bis hin zu den Grundstoffen. Ein wichtiger Faktor wird der Hafenausbau sein. Um ein Gefühl für die Größenordnung und die Herausforderungen zu bekommen, möchte ich ein Beispiel nennen: Es hat zwei Jahre gebraucht, um die elf Turbinen für Hywind Tampen zu errichten, die circa 90 MW produzieren. Bis 2040 sollen in Norwegen Offshore-Windparks entstehen, die 30.000 MW produzieren. Sie können sich ausrechnen, welche Skalierungen notwendig werden, um dieses Ziel zu erreichen.
Mit NorGer ist ein zweites HGÜ-Seekabel zwischen Norwegen und Deutschland geplant. Wie groß sind die Realisationschancen?
Kern: Aktuell gibt es insgesamt sieben Seekabel von Norwegen aus: Drei nach Dänemark, NorNed nach Eemshaven in die Niederlande, NordLink nach Deutschland und im Jahr 2021 wurde North Sea Link nach England in Betrieb genommen.
Aufgrund der angespannten Preislage werden im Süden Norwegens keine weiteren Planungen diskutiert. Zuletzt wurde sogar der Bau des Stromkabels NorthConnect zwischen Norwegen und Schottland gestoppt.
Norwegen gehörte zu den Ländern, das mit als erstes auf Abscheiden und Speichern von CO2 setzte. Wie weit ist Norwegen bei Carbon-Capture-and-Storage (CCS) heute?
Kern: Mit dem Longship-Projekt hat Norwegen das größte klimapolitische Industrieprojekt der Geschichte lanciert. Dabei soll sowohl in Südnorwegen (Brevik) in einem Zementwerk, das zu Heidelberg Materials gehört, als auch in Oslo in einer Müllverbrennungsanlage CO2 abgeschieden werden. Entsprechende Anlagen werden derzeit gebaut. Das flüssige CO2 soll dann wiederrum im Rahmen des Transport- und Lagerprojekts Northern Lights nach Bergen transportiert und dort, in Gesteinsschichten 2.600 Meter unter dem Meeresboden, gespeichert werden. Ende nächsten Jahres soll es soweit sein. Es ist das weltweit am weitesten entwickelte, kommerzielle Projekt im Bereich CCS. Norwegen geht mit diesem Leuchtturmprojekt voraus und betrachtet sich damit als Teil einer europäischen Wertschöpfungskette. Von dem Fachwissen, das generiert wird, werden weltweit zukünftige Projekte profitieren und Unsicherheiten am Markt reduziert. Norwegen ebnet damit den Weg für weitere kommerzielle Projekt.
CCS ist in Norwegen auch stark mit dem Ziel der großvolumigen Wasserstoffproduktion aus Gas verbunden.  Ist auch das für Zulieferer interessant?
Kern: Die CCS-Technologie wird in Norwegen in Verbindung mit der Ölförderung seit Mitte der 90er Jahre eingesetzt. Für Norwegen ist es damit eine verlässliche Technologie.
Wenn das CO2, das bei der Produktion entsteht, mittels CCS sicher unter dem Meeresboden gespeichert wird, können kurzfristig große Mengen kohlenstoffarmer Wasserstoff aus Erdgas hergestellt werden. Bei der Wasserstoffproduktion werden in erster Linie Chemieingenieure und verfahrenstechnische Dienstleistungen gefragt sein, etwa Anlagentechniken, bis hin zur Sensortechnologie für den Meeresboden. Hier haben deutsche Unternehmen traditionell ihre Stärke und können sich einbringen.
Und wie ist Norwegen beim Abscheiden und Verwenden von CO2, dem Carbon-Capture-and-Utilization-Verfahren (CCU) aufgestellt?
Kern: CCU ist natürlich eine sehr wichtige Komponente. Bei der Größenordnung, von der wir bei der nötigen Reduzierung der CO2-Emissionen sprechen, wird im ersten Schritt CCS notwendig sein. Im zweiten Schritt liegt der Fokus dann darauf, ob das gespeicherte CO2 zu einem späteren Zeitpunkt bei Bedarf dem Erdboden erneut entnommen werden kann. Hier bedarf es aber noch mehr Forschung. Stand heute soll CCU bei der Produktion von E-Fuels in Nord-Norwegen eingesetzt werden.  
Zurück zum Wasserstoff. Wie könnten deutsche Unternehmen an Planung, Bau und Betrieb einer H2-Pipeline teilhaben?
Kern: Auch hier können sich deutsche Unternehmen wieder mit Verfahrenstechnik, im Anlagenbau und bei Ingenieurs-Dienstleistungen einbringen. Um große Mengen Wasserstoff kosteneffizient transportieren zu können, müsste zwischen Deutschland und Norwegen eine Pipeline gebaut werden. Dieser Bau würde im ersten Schritt im Fokus stehen. Es wurde dazu eine Machbarkeitsstudie unter Beteiligung der Wirtschaft erstellt. Anfang 2023 haben Deutschland und Norwegen ein Joint Statement zu Wasserstoff unterzeichnet, in dem sie ihre gemeinsame Absicht bekräftigen, bis 2030 eine großflächige Versorgung mit Wasserstoff und die dafür notwendige Infrastruktur von Norwegen nach Deutschland aufzubauen. Die Ergebnisse der Studie sollen im Juni veröffentlicht werden. Danach werden sich weitere Geschäftschancen herauskristallisieren. [Anmerkung der Redaktion: Die Ergebnisse der Studie lagen zur Zeit des Interviews noch nicht vor]
Was macht die AHK Norwegen zum begehrten Türöffner und Berater auf dem norwegischen Markt?
Kern: Wir bieten individuelle Services für kleine und mittelständische Unternehmen, die sich für den norwegischen Markt interessieren oder bereits dort aktiv sind. Wir zeigen Geschäftsmöglichkeiten auf und beraten deutsche Unternehmen bei Aktivitäten. Von der Markterschließung und Geschäftsanbahnung bis hin zur Projektabwicklung begleiten wir und unterstützen, wo Bedarf ist. Durch unser Community Management und unser Netzwerk schaffen wir Sichtbarkeit und Kontakte. Außerdem bieten wir mit diversen Events bilaterale Plattformen für Diskussionen und zum direkten Austausch. Wir haben Energie-Themen wie Carbon Management, Offshore-Wind und Wasserstoff schon seit längerer Zeit auf unserer Agenda. Durch die Energiekrise und das gesteigerte Interesse an Norwegen ist die Nachfrage noch größer geworden.
Das Gespräch führte Mirza Karahodža.