Der attraktive Ausweichmarkt – Warum Südostasien für deutsche Unternehmen immer wichtiger wird

Die chinesisch-amerikanischen Handelsstreitigkeiten verunsichern besonders die exportstarke deutsche Wirtschaft. Während die US-Regierung unter Präsident Donald Trump vor Strafzöllen nicht zurückschreckt, geht der südostasiatische Staatenbund ASEAN den entgegengesetzten Weg und öffnet schrittweise seine Märkte. Wir sprachen bereits im Jahr 2019 mit Marko Walde (Geschäftsführer der Deutschen Auslandshandelskammer Vietnam) darüber, warum der südostasiatische Wirtschaftsraum als "Ausweichmarkt" für deutsche Unternehmen immer wichtiger wird – auch in Zeiten der Corona-Pandemie scheint sich seine Einschätzung weiter zu bestätigen.
Die Freihandelsabkommen der Europäischen Union mit Vietnam und Singapur sind die jüngsten Beispiele für die Bedeutung einer aufstrebenden Region, deren jährliche Wachstumsraten bisher konstant bei fünf Prozent lagen. Mit 625 Millionen Einwohnern bieten die zehn Staaten Myanmar, Thailand, Laos, Kambodscha, Vietnam, Malaysia, Singapur, Indonesien, Brunei und Philippinen zudem einen gewaltigen Absatzmarkt.
Herr Walde, welche Möglichkeiten bietet der südostasiatische Wirtschaftsraum deutschen Firmen, die direkt oder indirekt vom Handelsstreit zwischen den Vereinigten Staaten und China [und den Auswirkungen der Corona-Pandemie] betroffen sind?
Marko Walde: Derzeit sehen wir einen sehr starken Trend zur Diversifizierung, d.h. deutsche Firmen in China wollen flexibler werden, um so potenziellen Risiken entgegenzuwirken. Das gilt für politische Risiken, mögliche Naturkatastrophen oder zum Beispiel auch für die Unterbrechung weltweiter Lieferketten. Bei dem angesprochenen Handelsstreit hat sich nun erstmals ein potenzielles Risiko konkretisiert, so dass sich derzeit viele deutsche Firmen für ASEAN interessieren. Hierbei handelt es sich um mögliche zusätzliche Investitionen, denn in der Regel wird das Engagement in China weiterbetrieben, wir nennen das „China+1-Strategie“. Hier bietet sich ASEAN als interessanter Wirtschaftraum an, zum einen spielt hier die geographische Nähe zu China eine Rolle, zum anderen sind in fast allen ASEAN-Ländern circa 60 bis 80 Prozent der Privatwirtschaft in den Händen chinesischer Familien.
Und natürlich haben die zehn ASEAN-Länder in den vergangenen Jahren eine Reihe von Hausaufgaben erledigt. So gibt es seit Ende 2015 die AEC – die Asean Economic Community – mit den vier wirtschaftlichen Grundfreiheiten, die wir auch aus Europa kennen, also Warenverkehrsfreiheit, Dienstleistungsfreiheit, Kapitalverkehrsfreiheit sowie die Freizügigkeit qualifizierter Arbeitnehmer verbunden sind. Vier ASEAN-Länder sind darüber hinaus Mitglied bei dem sogenannten TPP-11-Verbund und zwei davon, Singapur und Vietnam, haben mit der EU ein Freihandelsabkommen abgeschlossen.
Sobald sich die Unternehmen dann einmal näher mit ASEAN beschäftigen, ergeben sich zahlreiche weitere Vorteile: in aller Regel sind die Lohnkosten günstiger als in China, die lokalen Zulieferer erweisen sich meist als absolut zuverlässig und die lokalen Unternehmen sowie die wachsende Mittelschicht bieten sehr gute Potenziale für den Vertrieb.
ASEAN bildet zwar einen gemeinsamen, aber sehr heterogenen Markt. Beispielsweise ist das Pro-Kopf-Einkommen Singapurs 40-mal höher als das Kambodschas. Welche Schlussfolgerungen ergeben sich aus dieser Konstellation für die Geschäftstätigkeit deutscher Firmen?
Walde: In der Tat ist die ASEAN-Region nicht nur hinsichtlich der Wirtschaftsleistung sehr heterogen. Die Länder haben unterschiedliche politische Systeme, verschiedene Kolonialgeschichten, und auch nahezu alle Weltreligionen sind hier vertreten. Es gibt kleine Länder wie das buddhistische Laos, aber zum Beispiel auch Indonesien, mit 262 Millionen Einwohnern das größte muslimische Land der Welt. Für deutsche Unternehmen stellt das eine gewisse Herausforderung dar, da „der“ eine Markteinstieg nach ASEAN in den allermeisten Fällen nicht möglich ist. Vielmehr gilt es das Land auszuwählen, dass einerseits das größte Geschäftspotenzial für das jeweilige Produkt oder die Dienstleistung bietet und andererseits die geringsten Markteinstiegsbarrieren für deutsche Unternehmen aufweist. Das wiederum erfordert ein systematisches und strukturiertes Vorgehen beim Markteinstieg. Ist dieser in einem Land dann erstmal geschafft, lassen sich weitere Länder in ASEAN wesentlich leichter erschließen.
Der Export deutscher Waren nach Südostasien legt seit Jahren kräftig zu, alleine im ersten Halbjahr 2018 um 11,3 Prozent. Wie erklären Sie sich diese Zuwachsraten, die inzwischen über denen deutscher Exporte nach China liegen?
Walde: Auch diese Entwicklung belegt eindrucksvoll wie wichtig wirtschaftliche Integration ist. Unserer Ansicht nach liegen die wesentlichen Gründe in der Asean Economic Community und den aktuellen Freihandelsabkommen in der Region. Desweiteren erkennen deutsche Unternehmen zunehmend, dass es sich bei ASEAN um einen Wirtschaftsraum mit mehr als 625 Millionen Menschen handelt und in den allermeisten Ländern der Region die jährlichen Zuwachsraten fünf Prozent und mehr betragen. Die Länder sind dabei, sich nachhaltig zu modernisieren, was gute Absatzchancen auch für deutsche Produkte bietet.
Welche Branchen bieten deutschen Firmen die größten Absatz- und Investitionspotenziale in der Region?
Walde: ASEAN bietet Geschäftspotenziale in nahezu allen Branchen. Besonders interessant sind zurzeit die Bereiche Infrastruktur, Konsumgüter, Energie und erneuerbare Energien, Umwelttechnologie, Machinenbau, die vor allem für mittelständische Unternehmen konkrete Geschäftsansätze bieten. Für deutsche Firmen ist ASEAN zudem ein spannender Endverbrauchermarkt mit Wachstumsperspektiven, insbesondere bei Luxusmarken, IT und Gesundheitspflege sowie der Autoindustrie.
Wie wichtig ist der persönliche Kontakt zum Kunden oder Geschäftspartner in der Region?
Walde: Ein nachhaltiger Absatzerfolg in ASEAN erfordert eine engagierte Präsenz. Die Bearbeitung des Marktes von Deutschland aus kann allenfalls sporadische Erfolge bringen, die oft auf zufälligen Kontakten oder losen Beziehungen beruhen. Eine langfristig gute Zusammenarbeit in ASEAN drückt sich in regelmäßigen intensiven und persönlichen Kontakten aus. Diese bedürfen auch während einer guten Geschäftsbeziehung einer permanenten Pflege.  Ein erfolgreiches Verhältnis beruht auf Vertrauen, erfordert allerdings auch Kontrolle. Grundlage des Geschäfts sollte immer ein schriftlicher Vertrag sein, der eine Leistungsbeschreibung sowie eindeutige Regelungen über Rechte und Pflichten der Vertragspartner enthält.
Welchen Wert hat die Marke "Made in Germany" in Südostasien?
Walde: Auch in ASEAN ist ein ausgeprägtes Bewusstsein für Qualität und Nachhaltigkeit angekommen. Einige Firmen mussten schmerzlich lernen, dass der Einkauf nur über den Preis letztlich zu einer teuren Angelegenheit werden kann. Im industriellen Bereich sind vor allem Produkte aus Deutschland und Japan sehr begehrt, wobei „Made in Germany“ als Garant für Qualität, Innovation und Zuverlässigkeit gilt. Im Moment verschaffen sich japanische Hersteller einen kleinen Vorteil dadurch, dass sie ihre Produkte gleich mit einer Finanzierungsalternative anbieten und vor allem den After-Sales-Service direkt im jeweiligen Land garantieren. Dessen sollten sich insbesondere deutsche Maschinenbauer bewusst sein und gegebenenfalls ihre Serviceleistungen anpassen, um in Zukunft noch erfolgreicher in ASEAN agieren zu können.
Haben Sie abschließend noch einen persönlichen Ratschlag, den sie deutschen Unternehmern, die am südostasiatischen Markt interessiert sind, auf den Weg geben möchten?
Walde: Nach meiner Überzeugung ist die gesamte ASEAN Region für die deutschen Unternehmen hochinteressant und bietet jede Menge Möglichkeiten. In vielen Ländern, wie etwa in Vietnam, gibt es eine sehr ausgeprägte Deutschfreundlichkeit. In Südostasien braucht man Geduld und die Bereitschaft, sich auch persönlich für seine Geschäftspartner zu öffnen. Gerade beim Markteinstieg ist es wichtig zu erkennen, wann man „deutsch bleiben“ muss und wann man gegebenenfalls flexibel handeln sollte. Für all diese Aspekte und weitere Fragen des konkreten Markteinstiegs ist die richtige Vorbereitung immens wichtig,  und hier bieten alle AHKs in den ASEAN-Ländern ein entsprechendes Beratungsangebot.