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Fachkräfte und Wohlstand
Seit zwei Jahren steckt die deutsche Wirtschaft in einer Stagnationsphase fest – denn nicht die sinkenden Zinsen und steigenden Reallöhne beeinflussen primär die aktuelle konjunkturelle Lage, sondern vielmehr die unsicheren wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen. Nachfrageseitig führt dies weiterhin zu einer schwachen Investitionstätigkeit, Konsumzurückhaltung und einem verhaltenden Außenhandel. Gleichzeitig befindet sich die Wirtschaft in fundamentalen Umbrüchen, die die Teilnehmer und Teilnehmerinnen der parallel ablaufenden Expertendialoge am 14.10.2024 in Berlin ausführlich diskutiert haben: von grüner Transformation und Energiewende bis hin zu Cybersicherheit, von Dekarbonisierung zu neuen Schlüsseltechnologien wie Künstliche Intelligenz oder neuen Antriebskonzepten.
Diese konjunkturellen und strukturellen Entwicklungen beeinflussen letztlich auch die Lage der Arbeitsmärkte in den beiden Landkreisen Ostwürttembergs, die im Mittelpunkt des Expertendialogs „Fachkräfte & Wohlstand“ standen. Die vier Impulsgeber/-innen arbeiteten dabei nicht nur die Herausforderungen heraus, sondern stellten unter den Schlagwörtern „Das machen wir bereits“ und „Das bringt uns weiter“ sowohl eigene Lösungsansätze als auch weitere Bedarfe dar, die sie an Verantwortliche in der Politik adressierten.
Agentur für Arbeit Aalen: Hohe Bedeutung von Qualifizierung aufgrund von Transformation und Demografie
Claudia Prusik, Vorsitzende der Geschäftsführung, Agentur für Arbeit Aalen, stellte in ihrem Impulsreferat vier zentrale Herausforderungen des Arbeitsmarkts Ostwürttemberg dar:
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Die hohe Betroffenheit beim Thema Transformation: In den neun größten Branchen sind im Jahr 2024 ca. 75 % aller Beschäftigten tätig. Viele dieser Branchen unterlagen und unterliegen in den nächsten Jahren einem stetigen Transformationsprozess, was die Unternehmen selbst und die die bei ihnen beschäftigten Menschen vor große Herausforderungen stellt.
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Hohes Substituierbarkeitspotenzial in den beiden Landkreisen: Das Substituierbarkeitspotenzial beschreibt eine Folge der fortschreitenden Transformation: die Ersetzbarkeit von einzelnen Tätigkeiten im Rahmen eines Berufs, der potenziell durch den Einsatz der jeweils verfügbaren Computer oder computergesteuerten Maschinen vollautomatisch erledigt werden könnte. Insbesondere in ländlichen Regionen sind diese Auswirkungen auf die Zusammensetzung und Ausgestaltungen vieler Berufe relativ groß: Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung errechnete 2022, dass 45 % der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten im Ostalbkreis und 47,4 % im Landkreis Heidenheim in Berufen mit einem hohen Substituierbarkeitspotenzial tätig sind. Damit gehören diese beiden Werte zu den höchsten in Deutschland (38 %).
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Der Demografiefaktor ist im ländlichen Raum noch herausfordernder: In Ostwürttemberg arbeiten, Stand Dezember 2023, 189.631 sozialversicherungspflichtige Beschäftigte, davon sind 43.119 55 Jahre und älter. Dies entspricht einem Anteil von 22,7 %.
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Hohe Bedeutung von Qualifizierung aufgrund von Mismatch: Die regionale Arbeitslosenstruktur entspricht nicht den Bedarfen der Unternehmen: 60 % der Unternehmen suchen Fachkräfte und lediglich 18 % Arbeitskräfte für Helfertätigkeiten. Diesem Bedarf stehen die bei der Agentur gemeldeten Arbeitslosen gegenüber, davon sind 32 % Fachkräfte und 43 % können lediglich in Helferberufen eingesetzt werden.
Claudia Prusik zeigte im nächsten Schritt auf, wie die Akteure in der Region auf diese Herausforderungen reagieren: Im Rahmen des ZO-Querschnittsziels „Beschäftigung und Qualifizierung“ bildet die Fachkräfteallianz das Fundament für die Zusammenarbeit von über 20 Partnern aus Wirtschaft, Wissenschaft und Politik. Gemeinsam arbeiten sie an unterschiedlichen Maßnahmen und Projekten in den Feldern:
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Fachkräftegewinnung – Schule, Ausbildung, Studium, Zuwanderung
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Fachkräfte halten und weiterentwickeln
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Steigerung der Erwerbsfähigkeit und „Stille Reserve“
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Standortentwicklung, Fachkräftemarketing und Wohnungsbau
PersonalerTREFF zum Thema Weiterbildung
Claudia Prusik sprach vom Substituierbarkeitspotenzial, der Unerlässlichkeit bedarfsgerechter Weiterbildung sowie von Förder- und Qualifizierungsprogrammen. Darüber wollen wir in unserem nächsten digitalen PersonalerTREFF am 04.12.2024, 15:00 – 16:30 Uhr mit Ihnen ausführlicher sprechen. Weitere Informationen und Anmeldung unter: https://event-ihk.de/personalertreff_weiterbildung
Klinikum Heidenheim: Pflege hat Zukunft und die Zukunft braucht die Pflege
Das Klinikum Heidenheim gehört zu den großen Krankenhäusern in Baden-Württemberg. Fast 60.000 Patienten werden vollstationär, teilstationär und ambulant jährlich versorgt. Rund 1.500 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter stellen rund um die Uhr und an 365 Tagen im Jahr das hohe Niveau der medizinischen und pflegerischen Versorgung sicher. Als Krankenhaus der Schwerpunktversorgung und akademisches Lehrkrankenhaus der Universität Ulm bildet das Klinikum mit den 15 Fachkliniken und zwei Instituten das Gesundheitszentrum im Osten von Baden-Württemberg. In seinem Impulsreferat stellte Geschäftsführer Dr. Dennis Göbel die aktuellen und zukünftigen Herausforderungen dar: 15 % der Beschäftigten und 20 % der Führungskräfte im Pflegedienst sind älter als 60 Jahre. Gleichzeitig gehen die Ausbildungsquoten zurück und die Abbruchquoten steigen. Zwar bietet die Generalistische Pflegeausbildung einen breit gefächerten Ausbildungsansatz – jedoch mangelt es an Ausbildungstiefe in den Fachgebieten sowie fehlenden Schlüsselqualifikationen bei Pflegeexperten.
Auf diese Herausforderungen bei der Personalgewinnung und -bindung hat das Klinikum mit unterschiedlichen Ansätzen bereits reagiert:
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Innovative Personalakquise: Durch Social Media Auftritte, eine Erhöhung der Präsenz in Schulen und Ausbildungsmessen bis hin zu Speed Datings will das Klinikum Schüler/-innen und Absolvent/-innen erreichen.
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Integration internationaler Fachkräfte: Maßnahmen der fachlichen, sozialen, sprachlichen und betrieblichen Integration sollen das Ankommen der internationalen Pflegekräfte erleichtern und unterstützen.
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Führungskräfteentwicklungsprogramm: Um die Führungskräfte von Morgen rechtzeitig auszubilden, bietet das Klinikum ein Trainee-Programm für die Qualifizierung für Führungsaufgaben im Pflegedienst an. Die Schwerpunkte liegen dabei auf dem Theorie-Praxistransfer sowie der Vorbereitung auf die Verantwortungsübernahme.
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Heidenheimer Advanced Nurse Practice Model: Basis dieses Ansatzes ist die Ansicht, dass sich alle Pflegefachpersonen mit unterschiedlichen Qualifikationen und Funktionen gemeinsam um die Patient/-innen kümmern – auch akademische Pflegekräfte. Dadurch werden aktuelle pflegewissenschaftliche Erkenntnisse und spezialisiertes Wissen schnell, strukturiert und nachhaltig in die Pflegepraxis etabliert und spezialisierte Versorgungsstrukturen aufgebaut.
Dr. Göbel fasste die Herausforderungen in der Pflege mit einem Zitat von Schwester Liliane Juchli zusammen: „Pflege hat Zukunft und die Zukunft braucht die Pflege, sowohl die Menschen der Zukunft, die trotz aller Errungenschaften in ökonomischen und technischen Belangen weiterhin mit Krankheit und Tod zu leben haben, wie auch unser Beruf selbst, der im Spannungsfeld von Menschlichkeit und Wirtschaftlichkeit sich durchzusetzen hat.“
Zentrum für Digitale Entwicklung: Enge Verzahnung von Menschlichkeit und Innovation, um eine nachhaltige und lebenswerte digitale Zukunft zu schaffen
Das Zentrum für Digitale Entwicklung (ZDE) begleitet Kommunen, Regionen, Institutionen sowie Unternehmen bei Lösungen und Innovationen auf dem Weg in die digitale Zukunft. Im Fokus stehen dabei Strategien für Digitalisierung und Smart City sowie Quartierskonzepte und Komplettdienstleistungen im Bereich Sensoriklösungen und 5G-Campusnetze. Die Bemühungen im Bereich Personalgewinnung und -entwicklung wurden bereits mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Corporate Health Award, dem RAW Award und dem Laubmacher Award. Die Bausteine stellte Geschäftsführer Wolfgang Weiß im Impulsreferat vor:
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WIR für DICH-Programm ist ein preisgekröntes betriebliches Gesundheitsmanagement mit 35 verschiedenen Angeboten, von modernen Wellnessgeräten über Rabatte bis hin zu Team-Aktivitäten.
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Spannende, inhaltlich relevante, innovative Themen durch Weiterbildungen, Workshops und innovative Projekte, die unsere Mitarbeiter beruflich weiterentwickeln und an der digitalen Transformation beteiligen.
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Schneller und transparenter Recruitingprozess, sodass Bewerber schnell und klar über den Status ihrer Bewerbung informiert werden.
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Social Recruiting durch gezielte Kampagnen auf sozialen Netzwerken
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Mitarbeiter werben Mitarbeiter mit attraktiven Prämien für Mitarbeiter, die erfolgreich neue Kollegen empfehlen.
Internationale Fachkräfte in Ostwürttemberg: Gewinnung und Bindung
Im letzten Impuls erläuterte der Moderator des Expertendialogs Michael Dambacher, Oberbürgermeister der Stadt Ellwangen, drei Praxisbeispiele aus der Region. Das Welcome Center unterstützt Unternehmen, Fachkräfte, speziell auch internationale Studierende als Anlauf-, Erstberatungs- und Informationsstelle. Der International Club Ostwürttemberg mit aktuell über 200 Mitgliedern hilft internationalen Fachkräften und deren Familien bei der Integration in der Region. Die Europäische Ausbildungs- und Transferakademie für junge Erwachsene (EATA) in Ellwangen bietet Jugendlichen aus dem Ausland einen Rundumservice von Sprachkursen, Wohnen bis hin zur betrieblichen Ausbildung. Ziel der Transferakademie ist die Integration und sprachliche Qualifizierung von Erwachsenen aus dem europäischen Ausland mit einer beruflichen Erstqualifizierung und nach Möglichkeit mit Berufserfahrung in den Bereichen MINT, Gesundheits- und Altenpflege, Grundversorgungsdienstleistungen oder Handwerk. OB Dambacher stellte dabei auch das zugrunde liegende Projekt der Ausbildungsakademie „Chance Ausbildung in Deutschland“ vor, das von der Agentur für Arbeit Aalen und dem Jobcenter Ostalbkreis unterstützt wird – jedoch weiterhin eine Finanzierungslücke aufweist und damit weiterer Förderung durch öffentliche Transferzahlungen bzw. Förderprogramme bedarf.
Das bringt uns weiter …
Die Impulsbeiträge zeigten anhand von Praxisbeispielen, dass die wirtschaftliche Zukunft nicht im Bewahren liegt, sondern in der Transformation und den Chancen auf die Entwicklung neuartiger Wertschöpfung. Werden diese Chancen jedoch nicht hinreichend ergriffen, schließt das Risiken mit ein, an Wettbewerbsfähigkeit zu verlieren. Die wirtschaftlichen Veränderungen betreffen die Beschäftigung; umgekehrt sind Kompetenzen zentral für wirtschaftliche Innovationsprozesse. Für den Erfolg der Transformation kommt es daher insbesondere auf die Arbeitsmarktpolitik an. Wichtig ist deshalb, die Beschäftigten gezielt in verwandten aufstrebenden Bereichen weiterzubilden, in denen ihre Fähigkeiten und ihre Arbeitserfahrung weiter genutzt werden können. Strategisch von enormer Bedeutung für die Sicherung des Wohlstandes ist und bleibt die Verfügbarkeit von Fachkräften.
Zudem wird der Bedarf an Arbeitskräften in einigen Bereichen weiter wachsen, wie z. B. in der Pflege aufgrund der Alterung, in der Erziehung mit dem Kita-Ausbau, im Handwerk unter anderem wegen der Energiewende und in der IT im Zuge der Digitalisierung. Dabei hängen die Dinge zusammen: ein Mangel an Pflegekräften und Erzieher/-innen hemmt häufig einen Wiedereinstieg von Frauen im größeren zeitlichen Umfang in den Arbeitsmarkt. Weiterhin wird sich die Arbeitskräfteknappheit noch verschärfen, wenn die Babyboomer in Rente gehen. Daher halten Betriebe – trotz der konjunkturellen Schwächephase – ihre Beschäftigten, da sie schwer wiederzubekommen sind.
Wie können wir nun dem Fachkräftemangel entgegenwirken? Die Teilnehmenden waren sich einig, dass es ein Mix aus verschiedenen Maßnahmen sein muss. Auf das weiter sinkende Erwerbspersonenpotenzial muss weiterhin mit Zuwanderung und dem Ausschöpfen des inländischen Potenzials reagiert werden wie z. B. der Förderung des Wiedereinstiegs von Frauen in das Erwerbsleben und der Senkung der Teilzeitbeschäftigung. Dabei muss sich die Geschwindigkeit bei der Einstellung internationaler Fach- und Führungskräfte erhöhen und die Verfahren zur Fachkräftezuwanderung weiter vereinfacht werden. Ein besonderes Augenmerk sollte auf die Auszubildenden und jungen Menschen gelegt werden. Hier – so der Vorschlag der teilnehmenden Expert/-innen – sollten erste Ausbildungsschritte bereits im Heimatland durchgeführt werden. Weiterhin bestehende unterschiedliche gesetzliche Regelungen bei der Förderung von EU- und Nicht-EU-Bürgern sollten aufgehoben werden.
Zentral für eine erfolgreiche Bewältigung des Strukturwandels sind verlässliche Förder- und Qualifizierungsprogramme, insbes. auch für An- und Ungelernte, denn – so Claudia Prusik – der „präventive Ansatz ist besser als Geld für Arbeitslosigkeit auszugeben!“ Bei der bedarfsgerechten Weiterbildung helfen Weiterbildungsmentoren und Weiterbildungsmentorinnen. Dies alles kann jedoch nur gelingen, wenn bestimmte „Lücken“ geschlossen werden, wie z. B. durch Förderprogramme zur Unterstützung von integrativen Versorgungsstrukturen in der Pflege sowie Integrations- und Wohnungsprojekten. In der Pflege helfen Bürokratieabbau, die Reduktion der Dokumentationsaufwandes, eine Evaluation der generalistischen Ausbildung wie auch die Anpassung des Tarifgefüges.
Zentral – und da waren sich die Teilnehmenden einig – braucht es Menschen, die sich für die Transformation begeistern. Zur Bewältigung braucht es neue Abschlüsse und ein Bildungs- und Innovationssystem, das integrative Systeme fördert. Das Potenzial an Arbeitskräften für den Arbeitsmarkt wird zwar zukünftig kleiner, der Bedarf an Fachkräften ist trotz Rückgang an gemeldeten Arbeitsstellen aber weiterhin hoch. Ausbildung, Gewinnung von Arbeitskräften durch Zuwanderung und die „Stille Reserve“ sowie die Weiterentwicklung der Menschen sind die zentralen Stellhebel.
Sonderauswertung Fachkräfte
In der aktuellen Konjunkturumfrage wurden die Unternehmen in Ostwürttemberg zu ihrer Beschäftigungssituation gefragt. Die Auswertung finden Sie auf unserer Homepage:
https://www.ihk.de/ostwuerttemberg, Seitennummer: 3291754
Kontakt
Industrie- und Handelskammer Ostwürttemberg
Ludwig-Erhard-Straße 1
89520 Heidenheim
Tel. 07321 324-0
Fax 07321 324-169
zentrale@ostwuerttemberg.ihk.de
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