Die Modellregion für eine erfolgreiche Transformation

Pünktlich und zeitig startete für die Reisegruppe aus Ostwürttemberg der zweite Tag ihrer Berlin-Mission.
Während sich der weitaus größere Teil direkt zum Haus der Deutschen Wirtschaft in der Breite Straße aufmachte, wo die Deutsche Industrie- und Handelskammer (DIHK) ihren Sitz hat, führte der Weg für die beiden Landräte, die mitgereisten Oberbürgermeister, den IHK-Hauptgeschäftsführer und das Presseteam der IHK zunächst zum Domizil der Bundespressekonferenz am Berliner Schiffbauerdamm. Rechtzeitig zum Eintreffen von Wirtschaftsstaatssekretärin Dr. Franziska Brantner waren dann wieder alle im großen Franz-von-Mendelssohn-Saal bei der DIHK vereint.
Zwar blieb der aus dem Fernsehen weithin bekannte große Konferenzsaal der Bundespressekonferenz an diesem Vormittag der Präsentation der neuen Shell-Studie vorbehalten, die Botschaften eine Etage drunter, in einem der Konferenzräume im Erdgeschoss, waren zumindest für die Region Ostwürttemberg indes nicht weniger gewichtig.

Weltmarktführer und Patente

Ostwürttemberg als ältester Industriestandort in der drittgrößten Industrienation der Welt verstehe sich als Modellregion für eine erfolgreiche Transformation, sagte der Hauptgeschäftsführer der IHK, Thilo Rentschler, der durch die Pressekonferenz führte. Er verwies vor den Medienvertretern nicht nur auf 16 Weltmarktführer, die in der Region ihren Sitz haben, Ostwürttemberg könne mit weiteren Besonderheiten wie einer hohen Patentdichte glänzen. Die Schlüssel für künftigen wirtschaftlichen Erfolg sind laut Rentschler eine starke Forschung und Entwicklung, eine durchgängige und qualitative Bildung und Qualifizierung, eine funktionierende Infrastruktur und eine Energieversorgung, die sicher, stabil und bezahlbar sei, sagte Rentschler.
Der Heidenheimer Landrat Peter Polta stellte dar, warum Energiekosten, zuverlässige Energieversorgung und Planungssicherheit in Energiefragen entscheidende Wettbewerbsfaktoren für die industriell geprägte Region Ostwürttemberg sind.
„Wir haben bereits viele Vorleistungen gemacht, jetzt müssen andere liefern“,
sagte Polta und nannte etwa die von der Bundesregierung beschlossene Einstellung der Förderprogramme für elektrisch betriebene Nutzfahrzeuge und für alternative Antriebe von Bussen im Personenverkehr das falsche Signal. Und beim Thema Wasserstoff seien viele Unternehmen in Ostwürttemberg in Wartestellung. Komme der Bau der Süddeutschen Erdgasleitung (SEL) als Wasserstoff-Pipeline nicht rechtzeitig, kämen auch die Investitionen der Unternehmen nicht, ließ Polta keinen Zweifel.

Lust auf Transformation

„Wir haben richtig Lust auf Transformation und darauf, uns dem Wandel zu stellen“,
sagte der Gmünder Oberbürgermeister Richard Arnold. Ostwürttemberg habe viele „Trümpfe und Sterne“ in der Hand und wolle weiterhin Industriestandort bleiben. Deshalb habe die Region ein starkes Interesse daran, dass die neuen und alternativen Energien schnell hier ankommen und funktionieren.
Welche hohe Bedeutung die richtige Vernetzung von Bildung, Forschung und Unternehmen – und das auf möglichst kurzen Wegen – hat, machte Ostalb-Landrat Dr. Joachim Bläse deutlich. Er verwies unter anderem auf eine Bündelung höchster Kompetenz in der Region bei der Schlüsseltechnologie Photonik, wofür die Firmen Zeiss und Hensoldt und der neu entstehende Standort Oberkochen des Fraunhofer-Instituts für Optronik, Systemtechnik und Bildauswertung IOSB stünden. Gleichzeitig warnte Bläse: Steige etwa Deutschland, wie beschlossen, aus der Batterieforschung aus, werde diese sich in andere Kontinente verlagern. Und für den Mittelstand sei es nach wie vor sehr schwer, an Forschungsmittel zu kommen.
„Wer viel leistet, gehört beim Wandel genauso unterstützt wie andere“,
lautete Bläses Forderung hierzu.

Förderprogramme in verschiedenen Bereichen

Beim Thema Fachkräftegewinnung nannte der Ellwanger Oberbürgermeister Michael Dambacher bereits laufende regionale Anstrengungen wie die Fachkräfteallianz oder die Europäische Ausbildungs- und Transferakademie für junge Erwachsene (EATA) in Ellwangen. Ohne entsprechende Zuwanderung aus dem Ausland werde es in Ostwürttemberg nicht genügend Fachkräfte geben, sagte Dambacher. Zugleich sei es nötig, mit geförderten Programmen auch die vorhandenen Fachkräfte für neue Anforderungen weiterzubilden und zu qualifizieren.
Zum Erhalt der Wirtschaftskraft in Ostwürttemberg gehörten auch die richtigen Weichenstellungen beim Wohnungsbau, sagte Heidenheims Oberbürgermeister Michael Salomo. Er verwies auf die bereits angestoßenen gemeinsamen Anstrengungen in der Region. Um Erfolge zu erzielen, bedürfe es aber politischer Entscheidungen. Neben der schon beschlossenen Erhöhung der Fördermittel des Bundes auf 3,5 Milliarden Euro seien in Baden-Württemberg ebenfalls zusätzliche Mittel für den Wohnungsbau notwendig, forderte der Heidenheimer OB. Ebenso steuerliche Anreize für Unternehmen, die sich beim Bau von Mitarbeiterwohnungen engagieren.

Der Faktor Zeit

Die Frage aus den Reihen der Medienvertreter, wie viel Zeit denn für die Erfüllung all der Wünsche und Forderungen an die Politik bleibe, beantwortete Thilo Rentschler unmissverständlich:
„Zeit haben wir keine zu verlieren.“
Die Wasserstoff-Pipeline in die Region etwa müsse bis 2027 – so lange ist die Planfeststellung gültig – stehen, und ohne neue Umspannwerke und Trafostationen werde der grüne Strom nicht ins Netz kommen. Richard Arnold machte deutlich, wie wichtig es auch für die Region sei, den Rhythmus der politischen Entscheidungen aufzunehmen.
„Wir müssen zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort sein“,
sagte Arnold, etwa wenn es um die Fortschreibung von Förderkulissen auf europäischer Ebene gehe.
Parallel zum Auftritt der Region im Haus der Bundespressekonferenz erhielten die Gäste aus Ostwürttemberg im Haus der DIHK sozusagen Informationen aus erster Hand zur aktuellen Wirtschaftspolitik von hochkarätigen Experten. Dr. Rainer Kambeck ist Bereichsleiter Wirtschafts- und Finanzpolitik, Mittelstand bei der DIHK, Freya Lemcke die Leiterin der DIHK-Vertretung bei der EU in Brüssel. Der dritte Referent und Gesprächspartner war Dr. Sebastian Bolay, Bereichsleiter Energie, Umwelt und Industrie der DIHK. Moderiert wurde der Vormittag von Dr. Ilja Nothnagel, Mitglied der Hauptgeschäftsführung der DIHK.

Wettbewerb um rasche Entscheidungen

Pünktlich stieß dann die Parlamentarische Staatssekretärin im Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz, Dr. Franziska Brantner (Grüne), zu den Besuchern von der Ostalb. Die aus Baden-Württemberg stammende Politikerin, die auch als mögliche neue Bundeschefin ihrer Partei gilt, kam schnell und mutig zur Sache:
„Wir brauchen eine Föderalismus-Reform“,
forderte sie. Sieben Ebenen, vom Gemeinderat bis zur EU, seien im internationalen Wettbewerb für rasche Entscheidungen nicht mehr machbar, meinte sie.
Und Brantner warf in dem sich rasch anschließenden Austausch weitere kritische Blicke auf die aktuellen Gegebenheiten.
„Kein anderes EU-Land hat die Datenschutzgrundverordnung so umgesetzt wie Deutschland – das kann man auch wieder rückgängig machen“,
sagte sie. Um an anderer Stelle festzustellen:
„Wenn wir keine Produktivitätssteigerung hinkriegen, müssten pro Jahr 400.000 Fachkräfte nach Deutschland einwandern.“
Auch hier sprach Thilo Rentschler die große Notwendigkeit der rechtzeitigen Versorgung Ostwürttembergs mit Wasserstoff an. Brantner sah die Situation für Baden-Württemberg allerdings eher gelassen: Im besten Falle, so meinte sie, stünden für den Südwesten einmal Wasserstoffzuflüsse aus drei Hauptrichtungen zur Verfügung: aus dem Norden Deutschlands, aus Frankreich und aus Italien.

Dramatische Situation

Ohne Umschweife, mit klaren und deutlichen Worten, so erlebten die Besucher aus Ostwürttemberg den Auftritt von DIHK-Hauptgeschäftsführer Dr. Martin Wansleben, der spontan in die große Runde mit Brantner gestoßen war.
„Die Unterschiede zwischen der Bundes- und der Europapolitik und der Wirklichkeit in unseren Betrieben werden immer größer“,
sagte Wansleben. Und:
„Die Situation ist dramatisch.“ Dramatischer, als sie öffentlich wahrgenommen werde. Die deutsche Industrie, so Wansleben weiter, baue derzeit fundamental ab, derweil lebe die Politik lediglich von einer „Scheinblüte des Arbeitsmarkts“.
Als ein Beispiel für die aus seiner Sicht alles andere als guten Zustände im Land nannte Wansleben die Infrastruktur. Viele Brücken seien bereits vor 30 Jahren abgeschrieben gewesen.
„Und jetzt wundert sich die ganze Republik, wenn eine Brücke zusammenkracht. Man könnte die Wände hochlaufen!“
Und viele Gesetze aus Berlin und Brüssel seien viel zu ideologisch und viel zu wenig pragmatisch in der Anwendung.
„Was nicht klappt, ist die Transformation von der Politik in die Werkshalle in Heidenheim“,
sagte Wansleben.

Bessere Verzahnung

Eher spontanen Charakter hatte schließlich auch der Besuch des Parlamentarischen Staatssekretärs beim Bundesminister für Digitales und Verkehr, Dr. Gero Hocker (FDP). Erst seit drei Wochen im Amt, nannte er als eines seiner Hauptanliegen, die verschiedenen Verkehrsträger noch viel besser miteinander zu verzahnen. Und auch er warf einen kritischen Blick auf die Verkehrsinfrastruktur in Deutschland.
„Wir sind Mobilitäts- und Logistikdrehscheibe in Europa“,
dem sei ein derartiger Investitionsstau alles andere als zuträglich. Immerhin setze die momentan laufende Korridorsanierung der Riedbahn zwischen Mannheim und Frankfurt das Signal, dass man sich aufmache, diesen Investitionsstau abzuarbeiten.
Nach dem Besuch bei der DIHK machten sich die rund 80 Besucherinnen und Besucher aus Ostwürttemberg mit einer Flut an Inhalten und Informationen im Hinterkopf nach zwei spannenden Tagen in der Bundeshauptstadt wieder auf den Heimweg. Wohlwissend, dass nach Berlin auch vor vielen weiteren Aktionen und Missionen sein wird, um eine starke Region auch weiterhin stark zu erhalten.
Eckard Scheiderer
Industrie- und Handelskammer Ostwürttemberg
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