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Oft kommt es plötzlich, manchmal war es vorhersehbar - in der Familie tritt ein Pflegefall auf.
Die Betreuung und die Versorgung von Pflegefällen ist stets auch eine große Managementaufgabe. Selbst pflegen oder doch externe Hilfe holen? Eine Inanspruchnahme von Pflegediensten oder Pflegeeinrichtungen kann eine schnelle Lösung bieten. Wegen vermehrtem Bedarf sind diese jedoch oft ausgebucht oder vielleicht auf Dauer nicht mit dem eigenen Budget vereinbar. Möglicherweise lehnt auch die zu pflegende Person fremde Hilfe bewusst ab. Dann besteht oft der Wunsch nach eigener oder familiärer Betreuung. Damit stellt sich zwingend die Frage, wie man Beruf und Pflege unter einen Hut bringen kann.
Solche Situationen sind oft Beweggründe für Arbeitnehmer, die für die Pflege verantwortlich sind, ihre aktuelle Berufsposition und das mögliche zeitliche Investment zu überdenken. Dass Unternehmen und Stellen bei diesen Personen punkten können, wenn sie durch Modelle die gleichzeitige Pflege und Beruf ermöglichen, liegt auf der Hand. Der Faktor Vereinbarkeit Pflege mit Beruf tendiert in seiner Bedeutung wegen des demografischen Wandels und steigender Pflegekosten zu wachsen und kann der entscheidende Faktor im Rennen um Talente sein.
Rechtlicher Rahmen: Pflegezeitgesetz und Familienpflegezeitgesetz
Als Alleinstellungsmerkmal lässt sich das eigene Unternehmensmodell jedoch nur vermarkten, wenn man die gesetzlichen Ansprüche kennt und hierzu einen Mehrwert bietet. Sowohl Pflegezeitgesetz (PflegeZG) und Familienpflegezeitgesetz (FamPfZG) bieten Möglichkeiten der Freistellung.
Was nach PflegeZG beachtet werden muss
Das PflegeZG basiert auf zwei Säulen: die kurzzeitige Arbeitsverhinderung („Kurzpflegezeit“) und die Langpflegezeit.
Bei der Kurzpflegezeit gewährt das Gesetz das Recht, bei unerwartetem Eintritt einer Pflegeisituation eines nahen Angehörigen, bis zu zehn Arbeitstage von der Arbeit fernzubleiben, damit in dieser Zeit bedarfsgerechte Maßnahmen organisiert werden können (§ 2 PflegeZG). Als Arbeitgeber können Sie eine ärztliche Bescheinigung über die Pflegebedürftigkeit des Angehörigen und die Erforderlichkeit der Freistellung einfordern.
Dabei bietet das PflegeZG selbst keinen Anspruch auf Vergütung für diese Zeit. Dieser kann sich allerdings aus § 616 BGB (kurzzeitige Arbeitsverhinderung) ergeben, dessen Anwendung viele Unternehmen in ihren Arbeitsverträgen aber ausschließen. Sollte die Anwendung nicht ausgeschlossen worden sein, besteht eine Vergütungspflicht gem. § 616 BGB nur für eine „verhältnismäßig nicht erhebliche Zeit“. Je nach Einzelfall dürfte bei der Pflege von Familienangehörigen diese bei etwa fünf Tagen liegen. Soweit keine Vergütungspflicht besteht, kann der Beschäftigte aber Pflegeunterstützungsgeld (ca. 90% des Nettoentgelts) beantragen.
In der Langpflegezeit können zur häuslichen Pflege eines nahen Angehörigen bis zu sechs Monate Pflegezeit beansprucht werden. Dabei kann zwischen der vollständigen oder einer teilweisen Freistellung von der Arbeit gewählt werden (§§ 3, 4 PflegeZG). Der Anspruch gilt nur in Unternehmen mit mehr als 15 Beschäftigten. Die Pflegebedürftigkeit ist durch eine Bescheinigung der Pflegekasse nachzuweisen.
Besonderer Kündigungsschutz
Wird die Pflegezeit beansprucht oder gar nur angekündigt, wird ein besonderer Kündigungsschutz bis zum Ende der Freistellung ausgelöst. Der Kündigungsschutz gilt allerdings höchstens 12 Wochen im Voraus. Bei rechtsmissbräuchlichen Ankündigungen, wenn etwa eine zeitnahe Kündigung erwartet wird, kann der Kündigungsschutz entfallen.
Teilfreistellung nach Familienpflegezeit
Das FamPfZG ergänzt das PflegeZG, indem es langfristige Pflegesituationen in den Blick nimmt. Da das PflegeZG maximal sechs Monate abdeckt, kann die Familienpflegezeit für bis zu 24 Monate in Anspruch genommen werden. Der Anspruch richtet sich auf Teilzeitbeschäftigung mit mindestens 15 Wochenstunden. Arbeitnehmer und Arbeitgeber müssen eine schriftliche Vereinbarung über die Ausgestaltung treffen. Der Beginn muss mindestens acht Wochen vorher angekündigt werden. Der Anspruch auf Familienpflegezeit gilt erst ab 25 Beschäftigten im Unternehmen. Während der Familienpflegezeit erhält der Beschäftigte ein zinsloses Darlehen vom Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben.
Rechtliche Stolperfallen vermeiden
Praktisch passieren selten Fehler in böser Absicht, sondern wegen Unkenntnis oder falscher Einschätzung rechtlicher Rahmenbedingungen. Zu beachten ist beim Umgang mit Pflegeangelegenheiten insbesondere Folgendes. Die Pflegezeit und die kurzzeitige Verhinderung sind gesetzlich garantiert. Als Ansprüche unterliegen sie keinem Zustimmungsvorbehalt und können nicht abgelehnt werden. Familienpflegezeit kann ebenfalls nicht verweigert werden, sofern die bereits genannten Voraussetzungen erfüllt sind. Die Vereinbarungen über die Ausgestaltung der Freistellungen sollten in Text dokumentiert sein, um etwaige Meinungsverschiedenheiten zu vermeiden. Als Konsequenzen bei Gesetzesverstößen sind etwaige Schadensersatzklagen oder einstweilige Verfügungen möglich.
Unternehmerische Ergänzungsmöglichkeiten
Die verschiedenen Pflegezeitmodelle gehen zwar zunächst mit einer betrieblichen Belastung aufgrund des Ausfalls oder erforderlichen Organisation einher. Dennoch sollte die (Familien-)Pflegezeit auch als Bindungsinstrument begriffen werden, da eine unkomplizierte Inanspruchnahme und eine Unterstützung einen beruflichen Wechsel vorbeugen können.
Wer über die gesetzlichen Ansprüche hinausdenkt, wird der Vereinbarkeit mit der Pflegepraxis noch weiter gerecht. Mit freiwilligen Flexibilisierungsangeboten kann mit geringem Mehraufwand eine große Wirkung erzielt werden.
Beispielsweise können Spielräume in der Tagesarbeitszeit oder Wochenarbeitszeit und den Dienstplänen genutzt werden, um auf den individuellen Beschäftigten bestmöglich einzugehen. Wenn beispielsweise morgens um 7:00 Uhr die Hilfe beim Ankleiden notwendig ist, wäre eine Gleitzeitregelung, die einen späteren Arbeitsbeginn ermöglicht, eine große Hilfe. Bestehende Gleitzeitregelungen oder mobiles Arbeiten können auch individuell bedarfsgerecht angepasst werden. Möglich wäre auch, ein Weihnachtsgeld in bedarfsgerechte Freizeit umzuwandeln. Da solche Spielräume selbstredend nicht in jedem Betrieb bestehen, ist es jedenfalls sinnvoll, bestehende Möglichkeiten und Grenzen transparent zu kommunizieren.
Pflegelotsen als strategische Maßnahmen
Besonders wirksam können sog. Pflegelotsen sein. Hierzu können Ansprechpartner im Betrieb als Anlaufstelle für die Vereinbarkeit des Berufs und der Pflege ernannt werden. In Baden-Württemberg werden hierzu mehrere Schulungen angeboten. Mit dem Know-how solcher Pflegelotsen könnte dem Beschäftigten viel Zeit für Organisation und Einarbeitung in Möglichkeiten erspart werden und somit eventuell die Kurzpflegezeit verkürzt werden. Außerdem werden Anlaufstellen wie Pflegestützpunkte der Landratsämter, Pflegeberatungen der Pflegekasse oder klinische Ansprechpartner koordiniert einbezogen, sodass die Pflege effektiv und berufsgerecht organisiert werden kann.
Daneben können auch zweckgebundene finanzielle Benefits, wie beispielsweise einen Zuschuss für Essen auf Rädern oder Pflegedienste in Betracht kommen.
Hilfreiche Ratgeber und Checklisten für mögliche Gestaltungsmöglichkeiten für Familienfreundlichkeit bietet das speziell für Unternehmer entwickelte Programm „Erfolgsfaktor Familie“ der Spitzenverbände der deutschen Wirtschaft (DIHK, BDA, ZDH) und dem Bundesfamilienministerium.
Reformtrends
Immer wieder werden Aspekte für die Reformierung von Pflegezeit vorgeschlagen. Diese können auch als Ansätze für freiwillige Arbeitgeberleistungen herangezogen werden.
Im Koalitionsvertrag der CDU/CSU und der SPD steht das Ziel, Pflegezeit und Familienpflegezeit einheitlich zu regeln und dabei mehr Flexibilität zu schaffen, sodass bspw. die Pflegezeit nicht nur zusammenhängend, sondern in kurzen Zeitblöcken genommen werden kann. Auch die Begriffe der „nahen Angehörigen“ und der Pflege in der „häuslichen Umgebung“ stehen zur Diskussion, um den Anwendungsbereich zu erweitern. Zur Unterstützung von Pflegenden ist weiter ein Familienbudget angedacht.
Fazit
Die Vereinbarkeit Beruf und Pflege ist ein Thema, dass immer relevanter wird. Steigende Kosten für Pflegemaßnahmen machen den Zuverdienst im Beruf oft notwendig. Arbeitgeber, die sich auf diese Situationen gezielt einstellen, können im Jobmarkt punkten. Rechtlich lässt sich das vor allem durch ein Zusammenspiel aus Flexibilisierungen bei Arbeitszeitmodellen und organisatorischer Unterstützung erreichen. So können Ausfallrisiken minimiert werden und die Mitarbeiterbindung gestärkt werden. Pflegefreundlichkeit nutzt der Personalstrategie.