Revolution oder Evolution?

Industrie 4.0 ist ein Thema das eine stark wachsende Aufmerksamkeit erfährt, nicht zuletzt, weil Industrie 4.0 für die Stärken des Standortes Deutschland steht. Für Unternehmen ergibt sich die Herausforderung, die Vielfalt der unter dem Begriff 4.0 zusammengefassten Entwicklungen und Konzepte zu bewerten und eigene Unternehmensstrategien zu entwickeln. Hierzu ist es wichtig, Klarheit über die Inhalte von Industrie 4.0 zu gewinnen um dann sachgerechte Entscheidungen treffen zu können.
Industrie 4.0 beschreibt vordergründig nicht einen Zustand sondern vielmehr einen Übergang zu neuen Formen der Produktion, bei der es zur Ausbildung von sogenannten Cyber Physical Systems [1]kommt. Mit diesem, zugegebenermaßen etwas sperrigem Begriff, wird die Verschmelzung von digitalen mit physischen Prozessen beschrieben. In der Produktion bedeutet dies, dass die physischen Produktionsschritte durch computerbasierte Prozesse begleitet werden. Cyber-Physical Systems umfassen Rechen- und Speicherkapazität, Mechanik und Elektronik und basieren auf dem Internet als Kommunikationsmedium. Durch Industrie 4.0 können Produkte Daten selbst sammeln und auswerten, sowie Dienste im Internet nutzen und mit diesen Daten austauschen. Ziel ist eine weitgehende Digitalisierung der Wertschöpfungskette und deren übergreifende Optimierung und Flexibilisierung.
Die folgende Grafik zeigt die mit Industrie 4.0 verbundenen Konzepte. Produkte besitzen eine hohe Eigenintelligenz, das heißt Verarbeitungs- und Speicherkapazitäten. Derartige „intelligente“ Produkte können zudem ihre Umwelt über Sensoren wahrnehmen und durch Aktoren sich selbst anpassen bzw. auf ihre Umwelt einwirken. In Industrie 4.0 sind Produkte identifizierbar und tragen Informationen zu ihrem Lebenszyklus mit sich. Die Ebene der Geschäftsprozesse ist digital integriert mit den Produktionsprozessen. Die an der Wertschöpfung beteiligten Schritte sind ebenfalls digital voll integriert. Durch Social Software werden Kunden und Lieferanten in die Weiterentwicklung des Produktes einbezogen. In der Nutzungsphase des Produktes ist dieses vernetzt und kann mit Cloud-Services Kontakt aufnehmen. Hierdurch kann der Herstelle über den gesamten Lebenszyklus mit dem Produkt in Verbindung bleiben und beispielsweise Nutzungsdaten erfassen. Durch Big Data wird eine Rückkopplung in die Produktionsphase geschaffen.


Industrie 4.0 wird gerne als 4. Industrielle Revolution [2] bezeichnet. Ob man Revolutionen wirklich im Vorhinein erkennen kann, sollte diskutiert werden. Es lohnt sich aber auf jeden Fall die vorangegangen „Revolutionen“ näher zu betrachten. Auffallend dabei ist, dass nicht eine spezifische Technologie, sondern erst die Kombination mit intelligenten Steuerungsmechanismen zu dem führten, was im Nachhinein als Revolution bezeichnet wurde.
1. In der ersten industriellen Revolution sorgte die Dampfkraft dafür, dass mechanische Energie ortsunabhängig und vor allem kontinuierlich verfügbar war. Entscheidend für ihren Erfolg in der Textilindustrie war aber der Einsatz des Fliehkraftreglers, der konstante Drehzahlen ermöglicht.
2. Die zweite große Umwälzung trat mit der Verfügbarkeit von Elektrizität ein. Dabei war es nicht so sehr der Ersatz der Dampfmaschinen durch Elektromotoren, der die Vorteile brachte, sondern, dass man eine große Dampfmaschine durch viele, kleine, auf das Unternehmen verteilte Elektromotoren verteilen konnte. Hierdurch konnte die mechanische Energie viel zielgerichteter zum Einsatz kommen als zur Zeit der zentralen Dampfmaschine.
3. Als dritte Revolution im Produktionsbereich ist der Einsatz von Elektronik zur Automatisierung der Produktion angesehen. Durch Roboter etc. konnten viele Aufgaben vom Menschen auf Maschinen verlagert werden. Auch hier war es eine intelligente Steuerung und besonders die Integration über lokale Netzwerke, die den Durchbruch brachte
Der Blick auf die vorangegangenen Revolutionen hat gezeigt, dass sie nur schwer mit einem einzigen Konzept erklärt werden können. Daher soll nun der Begriff Industrie 4.0 nicht nur unter technologischen sondern auch organisatorischen und unternehmerischen Gesichtspunkten betrachtet werden.

Technologische Aspekte
Industrie 4.0 und Cyber-Physical-Systems stehen nicht für eine spezifische neue Technologie. Vielmehr stehen sie für eine Überlagerung mehrerer technologischer Entwicklungen. Es handelt sich um die Sensorik, die „Eigenintelligenz“ von Produkten durch gesteigerte Verarbeitungs- und Speicherkapazitäten, Vernetzung, Cloud-Computing und Big Data.
Durch Fortschritte in der Sensorik und der in Produkten befindlichen Computer-Kapazitäten ist die Art und die Menge der erfassten Daten deutlich gewachsen. Wurden früher punktuell Werte gemessen, so werden heute kontinuierlich Daten erfasst. Aus Messpunkten wird ein kontinuierlicher Strom von Messdaten. Auch die Art der Daten hat sich von einfachen Werten, wie bspw. einer Temperaturmessung hin zu umfangreicheren Datenformen wie Bildern oder gar Echtzeitvideos entwickelt. Ausgedehnt wird auch die Art und Struktur der erfassten Daten.
Als „intelligent“ werden Produkte bezeichnet, die auf Grund deutlich gestiegener Rechen- und Speicherleistung, größere Datenbestände erfassen und auswerten können und sich selbst gegenüber übergeordneten Systemen identifizieren können. Durch die deutlich gestiegenen Verarbeitungskapazitäten innerhalb von Produkten können heute auch komplexe Daten wie Bilder, Töne und Videos ausgewertet werden und beispielsweise vorhaltende Wartungsvorgänge ausgelöst werden. Industrie 4.0 bedeutet aber nicht nur, dass Produkte ihre Vergangenheit detailliert festhalten, sondern auch ihre Zukunft in sich tragen. Dies beginnt beim unfertigen Produkt, dass die noch durchzuführenden Arbeitsschritte, sowie anstehende Wartungsoperationen, selbst speichern kann. Die Speicherung von durchzuführenden Arbeitsschritten im Werkzeug kann für eine Individualfertigung („Losgröße = 1“) genutzt werden.
Eine weitere wichtige technologische Entwicklung die zu Industrie 4.0 beiträgt, ist die Möglichkeit einer nahezu vollständigen Vernetzung mit Hilfe mobiler Technologien, die zu einem Internet der Dinge [3]führt. Früher verblieben gesammelte Daten in den Produkten oder wurden nach einiger Zeit mangels Speicherkapazitäten gelöscht. Heute können durch die durchgängige Vernetzung und Einbindung der Produkte in das Internet Daten entweder komplett oder verdichtet weitergeben werden. Durch die Einbindung in das Internet muss die Weitergabe der Daten nicht mehr an eine bestimmte Adresse erfolgen, sondern die gesammelten Daten können mehrfach weitergegeben werden.
Die Bedeutung des Cloud-Computings für Industrie 4.0 liegt nicht so sehr in Bereitstellung skalierbarer Rechenkapazität, sondern vielmehr in der Bereitstellung von Diensten, die global über das Internet erreichbar sind. Man spricht in diesem Zusammenhang auch vom Internet der Dienste [4]. So können unterstützende Dienste leicht eingebunden und genutzt werden. Die leichte Integration von Diensten fördert zudem die Zusammenarbeit der Partner entlang der gesamten Wertschöpfungskette. Dies hat zur Folge dass Beziehungen und nicht Transaktionen immer stärker im Vordergrund stehen. Cloud-Computing ist zudem Grundlage für die Schaffung neuer Geschäftsprozesse und –modelle. Durch Cloud-Computing integrierte Produkte im Feld können Daten liefern, die eine vorausschauende Wartung ermöglichen und Aufschlüsse über Optimierungsmöglichkeiten in der Produktion geben.
Die bisher aufgeführten Technologien führen dazu, dass deutlich mehr Daten erfasst werden und für eine Auswertung zur Verfügung stehen wie bisher. Wurden früher in größeren Zeitabständen einfache Daten erfasst, werden heute komplexe Daten in kurzen Intervallen oder gar kontinuierlich aufgezeichnet. Nochmals gesteigert wird die zur Verfügung stehende Datenmenge wenn die Beiträge von Kunden in sozialen Medien wie Blogs, Foren usw. mit einbezogen werden. Glücklicherweise stehen durch eine Reihe von technologischen Entwicklungen deutlich verbesserte Mechanismen für die Verarbeitung und Auswertung von Daten zu Verfügung, die unter dem Stichwort Big Data [5]zusammengefasst werden. Insbesondere ist es mit Ihnen möglich, Daten zu verarbeiten, die bisher nur wenig zugänglich waren, wie beispielweise Texteinträge in Foren oder Protokolldateien aus der Produktion.

Organisatorische Aspekte
Industrie 4.0 bringt auch organisatorische Veränderungen für die Unternehmen mit sich[6]. Besonders durch das Cloud-Computing ist eine durchgängige Vernetzung aller Partner im Wertschöpfungsprozess möglich. Insbesondere ist es deutlich leichter geworden Kunden einzubeziehen. Arbeitsergebnisse können direkt ausgetauscht werden und sind für alle Beteiligten sofort sichtbar. Dies ermöglicht es, wenn auch behutsam, neue Entwicklungsansätze wie die der sozialen Produktion [7] anzuwenden, die bisher vor allem im Open-Source Bereich erfolgreich waren. Kernidee ist es, Innovationsprozesse nicht mehr detailliert vorzudefinieren, sondern eine weitgehende Offenheit für Beiträge aller Beteiligten zu schaffen. Beiträge des Einzelnen werden sofort für alle sichtbar. Hierdurch wird einerseits deutlich wer Beiträge erbringt, gleichzeitig wird durch die weitreichende Sichtbarkeit auch eine Qualitätssicherung erreicht. Niemand möchte mit qualitativ schlechten Beiträgen auffallen und wird daher von sich aus das Möglichste zur Qualitätssicherung beitragen. Die Qualitätssicherung geht sogar über diejenige hinaus, die durch konventionelle Qualitätssicherungsmaßnahmen erreicht wird. Der Einzelne wird nicht nur die einem Plan festgelegten Kriterien verwenden, sondern darüber hinaus auch solche, die nicht erfasst wurden aber dem einzelnen sinnvoll erscheinen. Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch die Identifikation von Experten über Abteilungsgrenzen hinweg.

Unternehmerische Aspekte
Industrie 4.0 schafft eine Reihe neuer Möglichkeiten für Unternehmen Geschäftsprozesse zu optimieren, neue Geschäftsprozesse zu schaffen und schließlich neue Geschäftsmodelle zu ermöglichen. Bei der Verbesserung von Geschäftsprozessen werden insbesondere durch die deutlich verbesserte Datensammlung und –verarbeitung Optimierungspotentiale aufgedeckt und Innovationen entwickelt. Daher bietet Industrie 4.0 ein hohes Potential für die Geschäftsprozessoptimierung. Auch gänzlich neue Geschäftsprozesse und Geschäftsmodelle können durch Industrie 4.0 entstehen. Beispielsweise kann die Individualfertigung auch für Produkte angewandt werden, für die sie bisher zu aufwändig war.

Chancen und Risiken
Der steigende Software-Anteil verändert den Charakter von Produkten und birgt neue Chancen und Risiken. So können bei Software im Gegensatz zu physischen Produkten Änderungen nachträglich, also im Feld eingebracht werden. Dies kann für Fehlerbereinigungen, aber auch für Funktionsverbesserungen und -erweiterungen verwendet werden. Insbesondere ist es so möglich, Produkthöherstufungen beim Kunden durchzuführen. Der Kunde kann eine Freischaltung für zusätzliche Produktfähigkeiten erwerben. Andererseits vergrößert ein großer Software-Anteil die Gefahr von Plagiaten. So kann die Software ausgelesen und kopiert werden oder es können durch Analyse der Software Rückschlüsse auf die Funktionsweise des Produktes gezogen werden.
Eine weitere Herausforderung ist der Datenschutz. So interessant der direkte Zugriff auf die Produktionsprotokolle der Kunden auch ist, die dabei entstehenden Gefahren durch Ausspähung der Daten dürfen nicht übersehen werden. Besondere Risiken entstehen dann, wenn nicht nur ein lesender sondern auch ein schreibender Zugriff möglich ist. In diesem Fall könnte der Zugang für Sabotageaktionen genutzt werden.

Fazit
Industrie 4.0 beschreibt das Zusammenspiel einer Reihe von Informationstechnologien mit Fertigungsprozessen. Industrie 4.0 ist die Einbeziehung intelligenter, sensorbestückter und vernetzter Produkte durch die Cloud und die Auswertung der durch sie erzeugten Daten mit Hilfe von Big Data. Cyber Physical Systems werden geschaffen. Dabei spielen technologische, organisatorische und unternehmerische Aspekte eine Rolle. Die wichtigsten Technologien im Rahmen von Industrie 4.0 sind Sensorik, „Intelligente“ Produkte, (mobiles) Internet, Cloud-Computing und Big-Data. Organisatorisch wird sowohl eine horizontale als auch vertikale Integration der digitalisierten Dienstleistungskette angestrebt. Industrie 4.0 ermöglicht es so, Geschäftsprozesse zu optimieren sowie neuartige (und teils innovative) Geschäftsprozesse und –modelle zu etablieren. Durch Industrie 4.0 sind neue Geschäftsmodelle möglich, die auf der gemeinsamen Nutzung der von intelligenten Produkten erzeugten Daten beruhen. Produkte können durch Zugriff auf die Nutzungsdaten optimiert und weiterentwickelt werden.
Darüber hinaus ergibt sich durch Industrie 4.0 noch eine Reihe von Auswirkungen. So bewirkt Industrie 4.0 ein stärkeres Zusammenwachsen der Disziplinen im Produktelebenszyklus. Das Management von großen Datenmengen gewinnt an Bedeutung und insbesondere die Fähigkeit, die richtigen Fragen bei der Datenauswertung zu stellen. Insgesamt stärkt Industrie 4.0 die strategische Bedeutung der IT. Nur sie kann das für Industrie 4.0 erforderliche Zusammenwachsen von betriebswirtschaftlicher IT und Produktions-IT sicherstellen.

Literatur
[1] R. Rajkumar und I. Lee, NSF workshop on cyber-physical systems. 2006.
[2] „Startseite | Plattform Industrie 4.0“. [Online]. Verfügbar unter: http://plattform-i40.de/. [Zugegriffen: 13-Mai-2013].
[3] L. Atzori, A. Iera, und G. Morabito, „The internet of things: A survey“, Comput. Networks, Bd. 54, Nr. 15, S. 2787–2805, 2010.
[4] L. Heuser und W. Wahlster, Internet der Dienste. Springer, 2011.
[5] R. Schmidt, „Big Data - eine Standortbestimmung“, gehalten auf der IT-Expertenforum, Aalen, 27-Juni-2012.
[6] H. Kagermann, W. Wahlster, und J. Helbig, „Umsetzungsempfehlungen für das Zukunftsprojekt Industrie 4.0 - Abschlussbericht des Arbeitskreises Industrie 4.0“, Apr. 2013.
[7] Y. Benkler, The Wealth of Networks?: How Social Production Transforms Markets and Freedom. Yale University Press, 2006.