Serie Migrantenschicksale
„Nichts und Niemanden ausschließen“
Migration und Fachkräftesicherung: Die Firma Richter lighting technologies in Heubach beschäftigt 115 Mitarbeitende aus 30 Ländern.
© Viktor Turad/Richter lighting technologies GmbH
Bernd Richter hat keinen Grund, über einen Mangel an Fachkräften zu klagen. Ganz im Gegenteil: Sein seit 30 Jahren bestehendes Unternehmen Richter lighting technologies, ein Hersteller hochwertiger Architektur- und Beleuchtungssysteme, erhält Bewerbungen aus der ganzen Welt und beschäftigt bereits Mitarbeitende aus aller Herren Länder. Denn die Richtschnur für den 52-jährigen Heubacher Firmenchef ist die Devise: „Nichts und Niemanden ausschließen.“ So kommt es, dass für ihn auch Hanibal, wie er nur gerufen wird, der nach einer gefährlichen Flucht auf der Ostalb gelandet ist, eine Fachkraft ist. Denn er hat in seiner Heimat von Hand Lederschuhe genäht und leitet jetzt die Näherei bei Richter, die es ohne den jungen Mann gar nicht geben würde.
Englisch ist bei Richter die Firmensprache, denn das Unternehmen ist rund um den Globus tätig. Dort sind seine Kunden und so findet man seine Produkte beispielsweise in Apple-Stores von Kalifornien über Dubai und London, aber auch im Sindelfinger Breuningerland. Und seine 115 Mitarbeitenden kommen aus Ländern von A wie Argentinien bis U wie Ukraine.
In diesem Land haben Bernd Richter und seine Frau Marion nicht nur gezielt um Fachkräfte geworben, sie haben auch ganz bewusst Flüchtlinge aus dem von Russland angegriffenen Land aufgenommen. „Das war eine wunderschöne Erfahrung“, erzählt Richter. Er erinnert sich aber auch etwas wehmütig an das junge ukrainische Paar, das er gerne behalten hätte, das sich aber anders entschieden hat: Die beiden wollten unbedingt in ihrem geschundenen Land mithelfen und so sind sie zurückgekehrt nach Bachmut. Dorthin also, wo der Krieg besonders grausam tobt.
Hanibal wiederum, der sympathische Eritreer, ist vor Krieg und Diktatur in seiner Heimat geflohen. Vor sechs Jahren war das, als er alles hinter sich ließ und sich durch den Sudan und die Wüste Sahara nach Libyen durchschlug. Dort bestieg er eines dieser Flüchtlingsboote, das die Menschen über das Mittelmeer nach Italien bringt. Unterwegs ging der Motor des kleinen Schiffs kaputt und Hanibal musste zusehen, wie um ihn herum Menschen ertranken. Er überlebte glücklicherweise, erreichte Italien und schlug sich über Turin und Mailand nach Deutschland durch.
Hanibal hatte noch einmal Glück, als man bei ihm Leukämie feststellte: Inzwischen ist er vollständig geheilt. Er hat keine Schmerzen mehr und muss auch keine Medikamente mehr nehmen. Mehr noch: In seiner Freizeit „reißt“ der begeisterte Fahrradfahrer Kilometer um Kilometer herunter. Nach Stuttgart und zurück ist für ihn überhaupt kein Problem und er ist auch schon quer durch Deutschland nach Belgien geradelt.
Als Näher hat er's drauf
Hanibal hatte ein weiteres Mal Glück: In Schwäbisch Gmünd, wo er einen Integrationskurs besuchte, kam er an einer Bushaltestelle mit einem Mann in Anzug und Krawatte ins Gespräch, der ihn fragte, ob er Hilfe brauche. Dieser Mann war Oberbürgermeister Richard Arnold und er bot Hanibal Unterstützung bei der Suche nach einer Wohnung in Schwäbisch Gmünd an. Hanibals Ärztin Dr. Dorothea Duncker-Hoffmann vermittelte ihn an die Firma Richter. Bernd Richter ist voll des Lobes über seinen Mitarbeiter: „Hanibal ist ein guter Kerl!“ Als Näher leistet er einiges: Ganz allein hat er eine neue Decke für den Sitzungssaal im Aalener Rathaus genäht, ebenso eine neue für das FEM, das Forschungsinstitut für Edelmetalle und Metallchemie in Schwäbisch Gmünd. Bernd Richter: „Er hat das Know-how, also ist er für mich eine Fachkraft.“
„Wir schließen nichts und Niemanden aus.“ Das war auch in Hanibals Fall wie in ungezählten anderen eine gute Leitlinie. Denn Richters Zielgruppe sind Menschen, die zu den Werten des Unternehmens passen. Von Anfang an, also seit der Gründung vor 30 Jahren, war ihm wichtig, immer das Ideale anzustreben und so spät wie möglich Kompromisse einzugehen. Ziel war immer die Technologieführerschaft bei einem unverrückbaren Wertegerüst. Und das besagt, dass man zwar hart arbeitet, aber nur Dinge tut, die Spaß machen und einen Mehrwert bieten. Im Umgang miteinander und mit Kunden gelten Wertschätzung, Verlässlichkeit und Ehrlichkeit. Dies sei der Nährboden für Ideen und Strategien, hier können sich die Mitarbeiter selbst verwirklichen und genau hier entstehe Innovation, sagt Richter. Dafür aber sind motivierte Menschen in einem offenen Umfeld die Voraussetzung.
Großes Engagement für Mitarbeitende
Und für ihre Mitarbeitenden tun Marion und Bernd Richter fast alles. Mit großem persönlichem Engagement versuchen sie, eine vielfältige Belegschaft zu rekrutieren. „Wir bemühen uns darum, dass unsere Beschäftigten Wohnungen finden und krankenversichert werden. Und wir gehen mit ihnen aufs Amt“, berichtet Richter. Auch zu sich nach Hause laden sie neue Mitarbeiter ein. Als Arbeitgeber fragt Richter sich, was den Einzelnen antreibt, was sie oder er erreichen möchte und welche Einflüsse beispielsweise von Kultur, Religion oder Nationalität zu beachten sind. Das Unternehmen hat etwa Mitarbeiter aus Russland und aus der Ukraine, also aus dem Land des Angreifers und aus dem Land der Angegriffenen. Der Krieg ist im Unternehmen kein Thema, er sorgt aber auch nicht für Stress: In Heubach gibt es deswegen keine Probleme.
Auch wegen der Hautfarbe nicht. Evawero Ukpevo kommt aus der nigerianischen 16-Millionen-Stadt Abuja. Er hat in Frankreich und an der Hochschule in Aalen studiert. So kam er in Kontakt mit der Firma Richter, wie überhaupt die Hochschule in der Kreisstadt viele internationale Studenten anzieht. Einige sind schon in Heubach untergekommen. Bei Richter ist Evawero Ukpevo für Digitalmarketing, Datenanalyse und Kommunikation zuständig. „Ich mag Deutschland“, sagt er. „Man trifft hier sehr viele unterschiedliche und nette Menschen.“ Wegen seiner Hautfarbe habe er noch nie Probleme gehabt, erzählt er. Englisch, die Amtssprache in Nigeria, hat er wie seine Eltern von Kindesbeinen an gesprochen, er beherrscht aber keinen der rund 300 Dialekte und übrigen Sprachen in seiner Heimat. Deutsch büffelt er umso mehr: Drei Stunden an Tag, vier Mal in der Woche. In der Firma ist dies für ihn kein Muss, denn mit Englisch kommt er dort problemlos zurecht.
Die Sprache ist keine Barriere
Die Sprache ist also keine Barriere. Bei Richter legt man auch Wert auf offene Strukturen. Sie sollen sich selbst entwickeln und entfalten können und dabei von der Organisation unterstützt werden. Daher muss sich auch die Firma weiterentwickeln. Bernd Richter ist überzeugt, dass seine Mitarbeitenden in der Region ideale Bedingungen vorfinden. Eine schöne Landschaft beispielsweise, gute, saubere Luft, ein sicheres Umfeld, ein gutes Gesundheits- und Bildungssystem, ein dichtes soziales Netz. „Für wen ist das kein Traum?“, fragt er sich. Er jedenfalls ist überzeugt, dass dies alles eine riesige Motivation ist und dass es ihm so immer wieder gelingen kann, viele Leute anzusprechen. Letztlich geht es ihm darum herauszufinden, „wer hier wirklich Erfüllung findet“.
Entspannung in der Almhütte
Entspannung bietet auch die firmeneigene Almhütte mitten auf dem Betriebsgelände am nördlichen Stadtrand von Heubach. Sie ist Kantine und sozialer Treffpunkt der Belegschaft. Der Chef bereitet dem Besucher auch mal selbst einen Espresso zu, schließlich darf hier die Kaffeemaschine nicht fehlen. Und in der Mitte der Woche gibt es immer etwas Besonderes, vom Chef selbst fast mundgerecht zubereitet: Jeden Mittwoch bekommt jeder Mitarbeiter einen Pizzateig, auf einem Blech ausgerollt, den sich jeder mit eigenen Zutaten belegen kann. So kann nach einigen Runden im holzbeheizten Steinbackofen jeder seine frischgebackene persönliche Lieblingspizza genießen.
Gegründet 1993 hat das Heubacher Unternehmen aktuell 115 Mitarbeiter aus 30 Ländern. Die Arbeitssprache ist Englisch. Die Firma Richter hat weltweit viele anspruchsvolle Projekte in der Innenarchitektur umgesetzt. Alle Komponenten werden grundsätzlich als industriell gefertigter Bausatz geliefert, so dass die Montagezeiten vor Ort drastisch reduziert werden und eine Qualität in Millimetertoleranzen umsetzbar ist - und das bei klaren Kosten. Somit haben die Heubacher Teile des Innenausbaus neu erfunden. Bei dem Prozess wurden über die Jahre viele neue Materialien entwickelt - immer unter dem Gesichtspunkt der Nachhaltigkeit. Aktuell entstehen beispielsweise Bauteile, bei denen 85 Prozent weniger Beton zum Einsatz kommt als bei herkömmlicher Fertigung. Die Auftragslage ist nach Corona wieder sehr gut und Richter sucht weitere leistungsorientierte und motivierte Mitarbeiter, die gemeinsam die Zukunft gestalten wollen.