Mehr als 9000 Kilometer entfernt

Lüderitz trifft Lüderitz

»Kennen Sie Lüderitz?« Natürlich haben die meisten Sachsen-Anhalter schon von dem kleinen altmärkischen Dorf gehört, viele sind auf der B189 daran vorbeigefahren. Aber was soll Besonderes an der 1000-Seelen-Ortschaft bei Tangerhütte sein? Es gibt noch ein zweites Lüderitz auf der Welt. Auf der anderen Seite des Erdballs. Mehr als 9000 Kilometer entfernt. Das dortige Lüderitz ist eine bedeutende Hafenstadt.

Ausgangspunkt deutscher Kolonialisierung

Für die Geschichte des heutigen Namibias spielte der Ort, der an einer geschützten Bucht am Atlantik entstand, eine wichtige Rolle. Gegründet 1884 und benannt nach dem Bremer Kaufmann Adolf Lüderitz, war er Ausgangspunkt der deutschen Kolonialisierung Südwestafrikas. Obwohl die deutsche Kolonialzeit nicht gerade ruhmreich war und bereits 1915 endete, sind ihre Spuren dort noch immer zu finden.
Lüderitz gilt mit seinen deutschgeprägten Jugendstilbauten als architektonische Perle. Die am Rande der Namib-Wüste gelegene Hafenstadt zählt rund 12.000 Einwohner. Neben der Fischerei ist der Tourismus heute eine wichtige Einnahmequelle. Das erste Haus am Platze, das Nesthotel, zieht Besucher aus aller Welt an. Es wird vom deutschstämmigen Namibier Ulf Grünewald geleitet. Gebäude aus der Kolonialzeit wie die evangelisch-lutherische Felsenkirche, das Goerke-Haus oder Kapps-Ballsaal prägen das Ortsbild. Interessant ist ein Ausflug in die Geisterstadt Kolmannskope, einst Zentrum der Diamanten-Industrie.
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© Günther Eberhardt - Youtube
Jahrzehntelang lebten die Menschen in beiden Lüderitz unter schwierigen politischen Bedingungen ohne (Näheres) voneinander zu wissen. In der DDR waren Verbindungen ins nichtsozialistische Ausland unerwünscht. In Namibia, damals von Südafrika besetzt, tobte der Unabhängigkeitskampf. Im Jahr 1990 änderte sich vieles, hier wie dort. Von einem persönlichen Kontakt hatte bis dahin niemand zu träumen gewagt.

Altmark sucht Namibia

Nun erfasste einen Altmärker der Reiz der bis dahin ungeahnten Möglichkeiten. Er hatte auf dem Globus das andere Lüderitz entdeckt und wollte mehr darüber wissen. Mutig schrieb er im Frühjahr 1990 einen Brief in radebrechendem Englisch, an die »Stadtverwaltung« adressiert, mit der Bitte, ihm Informationen zu senden. Er legte ein paar Fotos aus dem altmärkischen Lüderitz bei, klebte eine 20-Pfennig-Briefmarke (DDR-Inlandsporto) drauf und vergaß das Schreiben bald, nachdem er es in den Kasten geworfen hatte.
Monate später, Deutschland war inzwischen seine wiedervereinigt, dann die große Überraschung. Ein großer Umschlag mit exotischen Briefmarken steckte im Kasten. »Es ist sehr interessant, kennenzulernen, dass es noch ein weiteres Lüderitz auf der Welt gibt«, schrieb Marion Swoboda aus Lüderitz in Namibia. Beigelegt ein Tourismusprospekt, ein paar Polaroidfotos und ein Geschichtsüberblick. Damals keimte in dem damals jungen Mann aus Tangerhütte der Wunsch, diesen Ort persönlich kennenzulernen. Doch es sollten noch fast 27 Jahre vergehen, bis dieser Traum in Erfüllung ging.
Die weitere Korrespondenz verlief ebenso im Sande wie der Versuch, einen offiziellen Kontakt zwischen den Gemeinden herzustellen. Jede hatte ihre eigenen Probleme, die sich auf erstaunliche Weise gleichen. Nach der Unabhängigkeit bzw. der politischen Wende brach in Namibia ebenso wie in Ostdeutschland die Wirtschaft ein. Die Arbeitslosenzahlen schossen in die Höhe. Viele Menschen verließen das Land. Vom einstigen Glanz war nicht viel geblieben.

Tradition und Fortschritt

Ein Großprojekt versprach in den 1990er Jahren Hoffnung. In der Lüderitzbucht sollte der größte Hafen Namibias entstehen. Im deutschen Lüderitz träumte man damals von einem Großflughafen vor der eigenen Tür. Aus beiden Plänen wurde nichts. Die Lüderitzer mussten sich notgedrungen auf ihre eigenen Stärken verlassen. Die herrliche Landschaft und die Geschichte zählen dazu.
Neben der Langustenfischerei zählt der Tourismus heute zu den wichtigen Wirtschaftszweigen von Lüderitz (Namibia). Dabei besinnt man sich zunehmend auf die deutsche Tradition. Als vor Jahren die Regierung den Ortsnamen ändern wollte, gingen die Einwohner auf die Straße, schwarze und weiße gemeinsam. Mit Erfolg. Nur das umgebende Gebiet wurde umbenannt und heißt heute !Nami?Nûs. (Nama-Sprache: Land an der Namibwüste). Der Ort selbst behielt seinen Namen.
»Die Tradition ist für uns etwas ganz Besonderes. Der Name und die Architektur sind in Namibia einmalig. Sie machen die Identität unserer Stadt aus«, sagt Bürgermeisterin Hilaria Mukapuli. Sie möchte »ihr« Lüderitz in eine moderne Zukunft führen. Die Chancen, dass die Stadt eine zweite Blüte erlebt, stehen nicht schlecht. Diamanten und Fischfang spielen dabei weiterhin eine wichtige Rolle. Viel großzügiger ist die Natur aber mit ganz anderem »Rohstoff«, von dem es dort wirklich mehr als genug gibt. Moderne Windkraftanlagen sollen künftig Energie produzieren und bis ins Nachbarland Südafrika liefern.
Außerdem will die Regierung Lüderitz zum bedeutenden Wissenschaftszentrum in Südnamibia entwickeln. Ein früheres Lagerhaus wird dafür zum modernen Hochschulgebäude umgebaut. Im Hafen legen in der Saison Kreuzfahrtschiffe an. Sie bringen nicht nur Leben in das ansonsten recht verträumte Städtchen, sondern sorgen auch für Umsatz in den (wenigen) Geschäften und Restaurants. Gern würde das Stadtoberhaupt einen Kontakt nach Deutschland knüpfen. Erste Botschaften mit ihrer Amtskollegin in der Altmark, Ortbürgermeisterin Edith Braun, sind bereits ausgetauscht.
Dass es noch einen zweiten Ort mit Namen Lüderitz auf der Welt gibt, erfuhr Bürgermeisterin Mukapuli übrigens erst durch den Mann aus Tangerhütte, der es Anfang 2017 endlich schaffte, sich den lang gehegten Traum zu erfüllen. Seinen 50. Geburtstag beging er in Lüderitz, auf der anderen Seite der Welt. Dort fragte er auf gut Glück auch nach Marion Swoboda, der Briefschreiberin von 1990, und erlebte erneut eine große Überraschung. »Meine Tochter hat Ihnen geschrieben, weil mein Deutsch nicht perfekt ist«, berichtete Elisabeth Swoboda, die damals in der Stadtverwaltung beschäftigt war und heute im Tourismusbüro arbeitet. Dann zieht sie eine Schublade auf und legt ein paar Schwarzweiß-Fotos auf den Tisch. Es waren die Bilder, die der Altmärker vor 27 Jahren seinem Brief beigelegt hatte. »Die hingen bis vor kurzem hier an der Wand. Immerhin war der Brief aus Deutschland auch für uns etwas ganz Besonderes«, berichtet sie dem gerührten Besucher. Der Mann ist übrigens Journalist und Autor dieser Zeilen.
Autor: Christian Wohlt aus "Der Markt in Mitteldeutschland", 09/2017