Coronavirus

"Der Handel erlebt quasi eine passive Schließung"

Im Interview erklärt IHK-Hauptgeschäftsführer Claudius Marx, was der Teil-Lockdown für den Einzelhandel bedeutet und warum es notwendig ist, dass sich Bund und Länder bald auf Hilfen für Unternehmen einigen, die passiv durch den Teil-Lockdown in eine wirtschaftliche Notlage geraten.
Wie wirkt sich die Verlängerung des Teil-Lockdowns auf den grenznahen Einzelhandel aus?
Der erste Lockdown im Frühjahr und die erste Grenzschließung haben beim stationären Einzelhandel bereits einen enormen, nachwirkenden Schaden hinterlassen. Nicht mit dem Ende des Lockdowns, sondern erst mit der Wiederöffnung der Grenzen hat sich die Branche erholt, die Umsätze waren zunächst erfreulich. Die Schweizer waren zurück und die Händler vermeldeten vielfach Umsätze wie vor Beginn der Pandemie. Optimistisch blickten deshalb viele auch Richtung Weihnachtsgeschäft.
Nun erwarten sie mit einer Verlängerung des Teil-Lockdowns ein zweites Mal massive Umsatzeinbrüche, nachdem schon aktuell über die inländischen Restriktionen hinaus auch die Schweizer Kundschaft zunehmend ausbleibt. Wir erhalten die Rückmeldung von vielen Einzelhändlern, dass es "eng werden" würde, sollte sich die aktuelle und ungewisse Lage über Weihnachten hinaus oder sogar über Monate ziehen. Das Weihnachtsgeschäft macht etwa 20% des Jahresumsatzes aus, in einzelnen Branchen wie Spielsachen, Bücher, Uhren oder Schmuck liegt der Wert noch deutlich höher. Ein Ausfall des Weihnachtsgeschäftes wäre deshalb "doppelt" misslich.
Im Teil-Lockdown musste die Gastronomie schließen. Hat das Auswirkungen für den Einzelhandel?
Die Innenstädte sind vielfach wie leergefegt. Die Menschen bleiben zu Hause und verhalten sich damit genau so, wie es Bundes- und Landesregierung verlangen, um die steigenden Infektionszahlen zu bremsen: Sie bleiben zu Hause. Mit den angeordneten Schließungen wird dem Bürger gewissermaßen „die Lust am Ausgehen“ genommen: kein Kino, kein Restaurant, kein Theater, kein Fitnessstudio, keine Reisen und damit kein Grund, das Haus zu verlassen. Der Handel, der noch geöffnet sein darf, braucht aber genau diese Frequenzbringer. Mit der Schließung der anderen erlebt der Handel quasi eine passive Schließung. 
Hinzu kommt der Rückgang des Einkaufstourismus aus der Schweiz. Viele Schweizer sind sich unsicher, welche Regelungen nun gelten und bleiben lieber im Inland. Der grenznahe deutsche Einzelhandel spürt dies natürlich sofort. Für ein Unternehmen an der Außengrenze des Landes liegt der Kundenkreis nun einmal zu 180° im Inland und zu 180° im Ausland. Bleiben die Kunden aus der Schweiz aus, fehlt also die Hälfte des Kundenkreises.
Die Schweizer Kundschaft hat 2019 im Wert von 1,5 Mrd. Euro auf deutscher Seite eingekauft. An der Nachfrage aus der Schweiz hängen viele Existenzen, Arbeits- und Ausbildungsplätze. Die heimische Bevölkerung kann eine fehlende Kaufkraft aus der Schweiz kaum ausgleichen. Verkaufsflächen, Markenvielfalt und Sortimentstiefe sind seit vielen Jahren auf die Nachfrage aus der Schweiz ausgerichtet. Die Region ist zum Nahversorger der Nordschweiz geworden, viele Verkaufsflächen auf deutscher Seite sind genau deswegen überhaupt erst entstanden. Manche Händler erzielen 50 bis 80 Prozent ihrer Umsätze aus dem Einkaufstourismus. Das verdeutlicht, wie dramatisch die aktuelle Lage ist. 
Was wird der Einzelhandel tun, um vor Weihnachten mehr Menschen in die Innenstädte zu locken?
Rabatte sind eines von vielen Werkzeugen, das Einkaufsverhalten zu stimulieren. Sie können aber nicht ungeschehen machen, dass die aktuellen Corona-Maßnahmen genau darauf zielen, dass die Menschen möglichst wenig vor die Türe gehen. Das macht es für die Unternehmen besonders schwer, die Attraktivität der Innenstadt hoch zu halten. Eben deshalb haben viele Händler schon vorher oder während des ersten Lockdowns auf digitale Lösungen und Plattformen gesetzt. Das könnte sich jetzt bezahlt machen. 
Für Händler ohne eine solche digitale Perspektive kann es sich ab einem bestimmten Punkt nicht mehr lohnen, ihre Geschäfte geöffnet zu halten. Sie senden ihre Mitarbeiter nach Hause oder beantragen für sie erneut Kurzarbeit. 
Benötigt der Handel weitere staatliche Hilfen?
Die aktuellen Maßnahmen von Bund und Ländern zielen auf das Verhalten der Bürger. Mit den angeordneten Schließungen sollen dem Bürger keine Anreize zum Ausgehen gegeben werden. Die geschlossenen Unternehmen wurden also nicht geschlossen, weil sie besonders zur Verbreitung der Pandemie beigetragen hätten. (Ebenso wenig wurden die Schulen offengehalten, weil sie ein sicherer Ort wären.) Damit erbringen sie ein Sonderopfer zugunsten der Allgemeinheit, was schon aus Rechtsgründen nach einer komplementären Entschädigung verlangt. 
Für den Handel ist die Situation dagegen besonders misslich: Seine Geschäfte sind nicht behördlich geschlossen, von der eingeschränkten Mobilität der Menschen aber genauso betroffen. Deshalb ist es unabdingbar, dass diesen Unternehmen, die direkt oder indirekt von den Maßnahmen betroffen sind, ebenfalls Hilfen gewährt werden und die Unternehmen rechtzeitig erreichen, bevor sie in existenzielle wirtschaftliche Not geraten.