Interview

Die Zukunft der Innenstadt

Claudius Marx, Hauptgeschäftsführer der IHK Hochrhein-Bodensee, und Insa Pijanka, Intendantin der südwestdeutschen Philharmonie haben sich zu einem Gespräch über die Zukunft der Konstanzer Innenstadt getroffen. 
Das gegenwärtig alles dominierende Thema Corona war auch in diesem Gespräch präsent. Schnell zeigte sich, dass gerade die Zeit des Shutdowns, der Kontakt- und Ausgangssperren, in der die sonst so belebten Innenstädte zu menschenleeren Geisterorten wurden, viel über die Relevanz, ja, über die Unersetzlichkeit von Innenstädten verrät. Von Innenstädten, die durch ein vielfältiges Handelssortiment, eine lebhafte Gastronomie und eine umfangreiche Kulturlandschaft zu Orten der persönlichen Zusammenkunft, zum Inbegriff des sozialen Miteinanders werden. Orte, die den Menschen während den Ausgangsbeschränkungen schmerzlich fehlen und die durch digitale Formate nur funktional, nicht emotional ersetzt werden können. Ein Plädoyer für die Zukunft der Innenstädte.
 
Welche Auswirkungen hat ein kompletter Shutdown auf den Kulturbetrieb und die Stadt Konstanz?
Pijanka: Die Coronakrise hat den gesamten Kulturbetrieb stillgelegt. Spielverbote, enorme Einnahmeausfälle… es ist eine Katastrophe für kulturelle Einrichtungen und die gesamte freiberufliche Szene.  
Marx: Und darin mit der Wirtschaft vergleichbar. Ich fürchte, es gibt für die Konstanzer Innenstadt eine Zeit vor und nach Corona. Die Einbußen durch den kompletten Shutdown sind für Dienstleister nicht nachholbar - seien das Gastronomen, Hoteliers, Einzelhändler oder natürlich auch Kulturschaffende. In der industriellen Produktion kann einiges durch eine erhöhte Nachfrage nachgeholt werden. Dahingegen kommt der Gast, der heute ausbleibt, nach Corona nicht zweimal. Und die Betten, die jetzt leer stehen, werden hinterher nicht doppelt belegt.
Es gibt aber auch einen nicht-wirtschaftlichen Befund, den ich für nicht minder wichtig halte. Und das ist der, dass jeder in dem Moment, in dem Kultur nicht stattfindet, intuitiv spürt - und dies mehr als je zuvor, wie wichtig sie ist. Und zwar Kultur im weitesten Sinne. Kultur fängt ja nicht erst an, wenn man im Konzertsaal sitzt. Kultur ist auch der Wochenmarkt! Regionale Erzeuger treffen ihre Kunden, man steht beieinander und tauscht Neuigkeiten aus, eine Jahrhunderte alte Tradition wird gelebt. Auch das ist Kultur. Die Ausgangsbeschränkungen haben uns gezeigt, wie unglaublich viele Bedürfnisse Menschen haben, die über das reine Arbeiten, Essen und Schlafen hinausgehen und was für eine Leere entsteht, wenn direkte soziale Kontakte unterbunden werden.

Pijanka: Das ist bemerkenswert. Es kursierten in den sozialen Medien unglaublich viele Videos aus Italien, wo sich Sänger, Musiker und ganz normale Leute auf ihre Balkone stellten und zusammen Musik machten. Offensichtlich gibt es ein Bedürfnis der Teilhabe an Kultur. Es ist ein ganz natürliches Bedürfnis der Menschen, sich auszudrücken und Gemeinschaft zu kreieren, wo sie eigentlich unterbunden wird. Ich finde das unglaublich bewegend und auch berührend. Kultur ist also doch etwas Natürliches und nicht einfach nur Institutionalisiertes.
 
Wenn Kultur also ein Grundbedürfnis ist, dann heißt das ja, dass sie auch für das Überleben einer Innenstadt ganz wichtig ist. Sobald man sie nicht mehr hat, verändert sich eine Stadt.
Marx: Nein, schlimmer, dann ist es gar keine Stadt. Dann ist es nur eine Ansammlung von Straßen und Behausungen.
Pijanka: Es gibt Studien dazu, wie die Kultur eine Stadtentwicklung beeinflusst. Dass es zum Beispiel zur Entscheidung beiträgt, in einer Stadt eine Stelle anzunehmen, weil man diese Art von Lebenskultur und -qualität haben möchte. Kultur und Handel sind dabei wie Rädchen, die ineinandergreifen. Menschen, die zum Beispiel ins Konzert unserer Philharmonie gehen, gehen vorher noch einkaufen oder danach in die Gastronomie und trinken ein Glas Wein. Wirtschaft und Kultur gehören zusammen und greifen im Idealfall ineinander. Eine lebendige Stadt braucht beide Elemente, um sich zu entwickeln.
Marx: Ich habe im Kontext der Digitalisierung einmal gesagt, dass die Stadt optional geworden sei, weil man sie rein technisch nicht mehr braucht, um diese Funktionen abzubilden. Sie können anstatt auf den Wochenmarkt zu gehen, auch online shoppen, anstatt Essen zu gehen, einen Lieferdienst anrufen und anstatt ins Kino zu gehen, streamen. Geht alles von zuhause aus. Heißt aber nicht, dass die Stadt obsolet geworden ist. Sie muss sich nur neu definieren und behaupten, weil es für immer mehr Bedürfnisse eine digitale Alternative gibt. Wie Städte aussähen, wenn alle Menschen in die digitale Welt abgleiten würden, will sich keiner ausmalen.
Pijanka: Zumal wir unter Corona den Verlust gespürt haben. Eigentlich sollte man sagen, wir sind heutzutage so aufgestellt, dass wir zuhause bleiben könnten und fast alles digital regeln. Doch auf einmal merken wir: Es ist nicht das Gleiche. Die persönliche Begegnung fehlt. Und die Städte sind ein Ort persönlicher Begegnung. Das ist eine sehr spannende Erfahrung.

Sprechen wir von der Zeit nach Corona. Was kann Wirtschaft leisten, damit auch in Zukunft Konstanz lebendig und interessant bleibt?
Marx: Eine Stadt braucht eine individuelle, eine authentische Aufenthaltsqualität. Das ist das Stichwort. Menschen kommen von der Peripherie ins Zentrum, halten sich dort auf und gehen wieder. Entscheidend ist, welche Erfahrung sie dazwischen machen. Wirtschaft spielt dabei eine wichtige Rolle. Die Menschen kommen auf den Markt, das war im weitesten Sinne schon immer so. Es wird gekauft und verkauft, es wird gegessen, es wird Kultur genossen. Verwaltung, Geldgeschäfte, verschiedenste Dienstleistungen - das lässt sich nicht aufspalten, es ist ein Gesamtpaket von Funktionen. Dass es dafür inzwischen digitale Alternativen gibt, ist ein Fakt, aber das eine darf das andere nicht ersetzen, sondern beide müssen koexistieren. Der Onlinehandel hat gewiss Vorteile, aber auch der lokale Handel kann seine Trümpfe ausspielen. Wenn ich etwa in einem guten Restaurant essen gehe, wird alles für mich zubereitet, von Hand und in diesem Moment, das ist es etwas anderes als eine Tiefkühlpizza. Und denselben Unterschied haben Sie zwischen einer Musik, die originär aufgeführt wird, nur für den, der gerade in diesem einen Moment da ist, und der Musikkonserve, die man tausendmal abspielen kann. Das eine ist die Dosensuppe, das andere ist das Feinschmeckermenü, das eine ist einmalig und individuell, das andere beliebig und universell. Diesen Mehrwert muss auch der lokale Handel nutzen. Wenn er nur das anbieten würde, was auch der Onlinehandel kann, würde er verlieren. Es braucht einen Mehrwert, es braucht Erlebnisse - Aufenthaltsqualität eben.
Pijanka: Auch bei uns in der Branche wird seit längerer Zeit viel über Digitalisierung gesprochen, über Dinge wie Streamingdienste und Digital Concert Halls. Aber wenn ich zuhause sitze und in meinem Fernseher ein Konzert sehe, hat es nichts mit einem realen Konzertbesuch zu tun. Unsere Stärke ist die Anwesenheitskultur. Die Menschen, die zu uns kommen, die sind physisch vor Ort. Und das nicht alleine, sondern mit ganz vielen anderen. Sie sprechen in der Pause darüber, sie haben hinterher vielleicht die Möglichkeit, noch mit dem Künstler ein persönliches Wort zu wechseln. Wir sind Begegnungsstätten, wo Menschen unterschiedlichen Alters und unterschiedlicher Herkunft zusammenkommen. Das ist etwas, das kann kein Streaming-Dienst, keine App herstellen.
 
Wie bewerten Sie die Zukunft der Konstanzer Innenstadt?
Pijanka: Die Konstanzer Innenstadt hat noch eine sehr hohe Lebensqualität, was das Angebot in Relation zu ihrer Größe betrifft. Dieser Qualität muss sie sich bewusst sein, sie fördern und Entscheidungen treffen.
Marx: Auch ich bin zuversichtlich, dass sich Konstanz positiv entwickelt. Die Rahmenbedingungen sind exzellent und als Stadt ist Konstanz eine Perle - wie sie liegt, wie sie aufgestellt ist, wie sie sich entwickelt hat. Danach würden sich viele andere die Finger schlecken. Und das Wichtigste: Sie hat ihr Pulver noch lange nicht verschossen! Ich bin überzeugt, dass sich diese Stadt in den nächsten zehn Jahren stärker und markanter entwickeln wird als in den zwanzig Jahren zuvor. Zum Guten, versteht sich.

Interview: Heike Wagner