Interview

„Die EU hat zu lange in einer Art Schockstarre verharrt“

Grenzschließungen, Wirtschaftskrise, Interessenskonflikte:  IHK-Hauptgeschäftsführer Claudius Marx hat im Gespräch mit dem Europaabgeordneten Andreas Schwab (CDU) gefragt, warum wir in der Corona-Krise von der EU so wenig gehört haben. 
Claudius Marx: Herr Dr. Schwab – auf einer Skala von 1 „miserabel“ bis 10 „blendend“ – wie geht’s Ihnen, wie dem Europäischen Parlament und wie der EU?
Andreas Schwab: Kurz und knapp - 6, 5, 4.
Claudius Marx: Das freut uns für Sie! Aber warum geht es dem Parlament besser als der EU insgesamt?
Andreas Schwab: Das Parlament hat sich trotz großer Gegensätze und fehlender Mehrheiten auf gemeinsame Interessen verständigt, was bei den Mitgliedstaaten gerade eher schwieriger ist. In Berlin liegen die Interessen eben anders als in Paris oder Rom.  
Claudius Marx: Die EU ist in etwa so alt wie ich selbst. Für meine Eltern war es noch die EWG, später dann die EG, für uns heute die EU. Das „W“ für Wirtschaft ist aus dem Namen verschwunden. Dennoch ist es der Binnenmarkt mit seinen vier Grundfreiheiten für Waren, Dienstleistungen, Personen und Kapital, der vielleicht am meisten zum Wohlstand der Unionsbürger und damit mittelbar auch zum Frieden in diesem Erdteil beigetragen hat. Binnenmarkt, auf den Punkt gebracht, heißt nichts anderes als Überwindung der Binnengrenzen. Vor diesem Hintergrund ist es nicht übertrieben zu sagen, wo innereuropäische Grenzen wieder geschlossen werden, geht es an die DNA der Union. Umso mehr waren wir alle überrascht, als quasi über Nacht die Grenzen geschlossen wurden. Ging es Ihnen, Herr Dr. Schwab, auch so? Hat Sie das auch kalt erwischt?
Andreas Schwab: Ich war schockiert, vor allem über das Ausmaß der Grenzschließungen. Manche Entscheidung basierte wohl eher auf Angst, auf der Furcht vor einem noch schlimmeren Ausbruch, als auf nüchterner Tatsachen. Aber ich will das nicht kritisieren, im Nachhinein ist man immer schlauer. Ich glaube, dass wir die Maßnahmen der vergangenen Monate jetzt ohne Vorwurf genau analysieren müssen. Mit Grenzschließungen kann man nicht gegen die Pandemie vorgehen. Richtig wären vielmehr regionale Schutzzonen um die Infektionsherde herum gewesen. Eine Grenzschließung für das ganze Land mag sich vielleicht für Malta oder Zypern eignen, aber nicht für Frankreich oder Deutschland. 
Claudius Marx: War es gut, dass die Nationalstaaten hier selbst und autonom entschieden haben?
Andreas Schwab: Eine nationale Grenzschließung kann kurzfristig eine Schutzmaßnahme sein, aber nicht in einem Land wie Deutschland mit so vielen Nachbarn. Weder mit der Grenzschließung zu Dänemark noch zur Schweiz hätte man den Ausbruch in Heinsberg verhindern können. Auch die pauschale Grenzschließung zu Frankreich war zu viel. Man hätte mit den Franzosen über eine Isolierungszone rund um das Südelsass sprechen müssen. Das Europäische Parlament hat deswegen die Europäische Kommission aufgefordert, zu überprüfen, ob wir den Schengener Rahmen anpassen müssen, um bei einer Pandemie oder einer Naturkatastrophe nicht mit nationalen Grenzschließungen zu agieren, sondern mit lokalen, ggf. auch grenzüberschreitenden Lösungen.  
Claudius Marx: In der Schengen-Verordnung heißt es, dass Grenzkontrollen wieder eingeführt werden können, wenn eine Gefahr für die innere Sicherheit oder die öffentliche Ordnung besteht. Das war bei der Schweiz zuletzt nicht mehr der Fall. Hier wie dort war die Situation vergleichbar. Der wirtschaftliche Schaden, der in unserer Region entstand, war aber immens. Den Unternehmen fehlte über Wochen und Monate die Hälfte ihres Geschäftsgebietes, die Hälfte ihrer Kunden. Nun sind alle erleichtert, dass die Grenzen wieder öffnen - aber auch besorgt, dass sich das wiederholen könnte. Ist eine erneute Grenzschließung möglich?
Andreas Schwab: Eine erneute Grenzschließung darf nicht passieren. Allen muss klar sein, dass man sich in einer Pandemie nicht mit dem Reisepass verteidigen kann. Aber es könnte passieren und das hätte langfristige Folgen. Wenn es hier auf Dauer keine Rechtssicherheit gibt, werden sich Grenzgebiete leeren, weil Investoren sie meiden. 
Claudius Marx: Für die exportorientierte deutsche Wirtschaft ist die Lage aktuell besonders hart. Der Export ist im April gegenüber dem Vorjahresmonat um 30 Prozent eingebrochen, der größte Einbruch seit Beginn der Handelsstatistik. In Frankreich sind es sogar 48,3 Prozent, dramatisch auch die Lage in Italien und Spanien. Frau Merkel und Herr Macron haben ein ambitioniertes Paket über 500 Mrd. zur Unterstützung der Mitgliedstaaten geschnürt, Frau von der Leyen hat es mit 750 Milliarden noch getoppt. Der Zankapfel sind wohl die nicht-rückzahlbaren Zuschüsse. Ist das der Einstieg in eine Vergemeinschaftung der Schulden oder umgekehrt der Ausstieg aus der Vertragsgrundlage, dass die EU keine Nationalstaaten finanzieren darf?  
Andreas Schwab: Nein. Die EU muss jetzt einfach Unterstützung leisten, weil viele Mitgliedstaaten dazu selbst nicht in der Lage sind. Es handelt sich klar um eine Ausnahmesituation und ja, es ist ein kostspieliges Unterfangen. Aber wenn uns nicht gelingt, den Binnenmarkt wieder anzuwerfen, dann haben wir ein noch viel größeres Problem. Dennoch: Die Förderprogramme und Zuschüsse müssen an Kriterien geknüpft sein. Wer Hilfe bekommt, muss sich zu nachhaltigem Wirtschaften, nachhaltigen Finanzen und der Gesundheit der Bürger verpflichten. 
Claudius Marx: Der EU wurde vielfach vorgeworfen, Sie habe in der Corona Krise versagt oder, wie man so sagt, sie habe „nicht stattgefunden“. Ist der Vorwurf berechtigt?
Andreas Schwab: Das ist ein berechtigter Vorwurf. Auch die EU wurde von der Pandemie überrascht, hat am Anfang zu lange in einer Art Schockstarre verharrt und damit die Alleingänge der Mitgliedstaaten überhaupt erst möglich gemacht. Die EU sollte mehr Verantwortung übernehmen und dafür den notwendigen Mut aufbringen. 
Claudius Marx: Das wünschen wir uns alle. Zum Schluss - und weil nicht alles Corona ist: Auch der Brexit ist noch nicht ausgestanden. Die Verhandlungen schleppen sich. Dabei sollten sie bis Jahresende zum Erfolg kommen. Bei den Buchmachern stehen die Wetten auf 10 für ein Gelingen des Abkommens zu 1,02 für ein Scheitern. Worauf würden Sie wetten?
Andreas Schwab: Nicht auf die 10 (lacht). Wir sollten uns auf ein Scheitern einstellen. Es gibt aktuell keine Verständigungsbereitschaft. Die Unternehmen in unserer Region sollten durchaus damit rechnen, dass es einen harten Brexit geben kann.  
Claudius Marx: Herr Dr. Schwab, wir danken Ihnen für das Gespräch.