IHKplus 11/2022

„Durch zu starke Schwarzmalerei kann auch eine Rezession herbeigeredet werden!"

Dr. Hans-Wilhelm Schiffer ist Lehrbeauftragter für Energiewirtschaftslehre an der RWTH Aachen und als Berater insbesondere zu Themen der Energiepolitik tätig. 

Was sind die wichtigsten Hebel, um möglichst sicher über die beiden nächsten Winter zu kommen?

Der entscheidende Hebel liegt in der Einsparung und in dem Ersatz von Erdgas durch andere Energien. In der gegenwärtigen Berichterstattung über die Versorgungssituation bei Gas wird der Eindruck erweckt, allein Putin habe das Heft des Handelns in der Hand. Durch zu starke Schwarzmalerei kann auch eine Rezession herbeigeredet werden.
Tatsache ist: Die Bundesnetzagentur hat verschiedene Szenarien zur Gasversorgung für die kommenden 12 Monate berechnet. Danach kann – unter Inkaufnahme sehr niedriger Speicherfüllstände im Frühjahr 2023 – eine Mangellage im kommenden Winter selbst dann vermieden werden, wenn die Lieferungen aus Russland komplett ausfallen sollten. Der Gasverbrauch muss um mindestens 20 Prozent gesenkt werden, damit ein Komplett-Ausfall des russischen Gases verkraftet werden kann. 
Den privaten Haushalten, die immerhin mit 31 Prozent am gesamten Gasverbrauch beteiligt sind, könnte vom Versorger ein Bonus als zusätzlicher Anreiz zum Sparen angeboten werden. Für die Industrie, auf die immerhin 37 Prozent des Gasverbrauchs entfallen, kommt auch ein Ersatz von Gas durch Öl in Betracht. Bei der Hebung dieses Potenzials werden die für Herbst geplanten Auktionen helfen. Die Ausschreibung von Prämien für den Verzicht auf die Belieferung mit Gas kann dazu beitragen, die Nachfrage der Industrie zu verringern. Dieses marktwirtschaftliche Instrument sollte so schnell wie möglich und nicht erst bei Eintritt einer Mangellage angewendet werden.
Ein großer Hebel besteht auch im weitgehenden Verzicht auf Erdgas zur Stromerzeugung. Als Ersatz kommt vor allem die Kohle in Betracht. Dieses Potenzial sollte ebenfalls unverzüglich gehoben werden, sobald die dafür an den Kraftwerken notwendigen technischen Vorkehrungen abgeschlossen sind. Dies wirft uns bei der Einhaltung der europäischen Klimaziele nicht zurück. Für Kraftwerke und energieintensive Industrieanlagen besteht nämlich ein sehr wirksamer europäischer Treibhausgas-Emissionshandel. 

Wie sieht es auf der Angebotsseite aus?

Die bereits laufenden Maßnahmen zu Flüssiggas-Terminals könnten bis etwa Ende 2023 eine Gesamtkapazität von 24,5 Milliarden m³ bringen. Zum Vergleich: Nord Stream 1 hat eine nominelle Kapazität von 55 Milliarden m³. Damit allein ist die Versorgung mit Erdgas aus alternativen Quellen aber noch nicht sichergestellt. Vielmehr müssen die erforderlichen Mengen auf den internationalen Märkten beschafft werden. Als Lieferanten kommen die USA, mittelfristig auch Kanada, sowie insbesondere Staaten des Mittleren Ostens und des afrikanischen Kontinents in Betracht. Auch Australien gehört – neben USA und Katar – zu den drei größten Anbietern von LNG und kommt grundsätzlich ebenfalls als Lieferant für Deutschland in Betracht. 

Aufgrund der drastisch steigenden Preise wird vielfach über mögliche Entlastungen für Privatverbraucher, aber auch die Wirtschaft diskutiert. Wie sinnvoll ist aus Ihrer Sicht die geplante Senkung der Mehrwertsteuer?

Statt auf Staatseinnahmen aus der Mehrwertsteuer zu verzichten, hätte man von vornherein auf die Finanzierung der notwendigen Hilfen für die Gasimporteure aus dem Bundeshaushalt setzen können. Anders als bei der inzwischen in Kraft gesetzten befristeten Senkung der Mehrwertsteuer auf Gas wäre mit einer dauerhaften Reduktion der Stromsteuer auf das europäisch vorgeschriebene Mindestniveau eine nachhaltige Entlastung von Haushalten verbunden. Und davon würden auch Unternehmen profitieren.
Bei einer Senkung der Stromsteuer auf das europäisch vorgeschriebene Mindestniveau würde ein Durchschnittshaushalt um etwa 100 Euro im Jahr entlastet. Auch Unternehmen würden davon – im Unterschied zu einer Senkung der Mehrwertsteuer – profitieren. Zudem wäre damit der Vorteil verbunden, dass die energiepolitisch erwünschte Sektorenkopplung begünstigt würde, also der Ersatz von Erdgas und Öl im Wärmemarkt und in der Mobilität durch Strom.