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IHK-lumbungs: Kleine Reiskörner, großer Ertrag

In Hersfeld-Rotenburg, Schwalm-Eder und Waldeck-Frankenberg loteten im Frühsommer jeweils 20 bis 25 Unternehmensvertreterinnen und -vertreter in IHK-lumbungs aus, wie sich der Arbeits- und Fachkräftemangel lindern lässt. In einem Workshop im Oktober trug die Wirtschaft die Erträge zusammen und erarbeitete Lösungswege.
Um Wissen, Erfahrungen und Ideen untereinander zu teilen, lohnt es sich, das von der Weltkunstausstellung documenta fifteen inspirierte Austauschformat der Lumbungs zu nutzen. Der indonesische Begriff bezeichnet eine Reisscheune, in der die Ernte zusammengetragen, gelagert und gemeinsam verteilt wird.
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In Hersfeld-Rotenburg, Schwalm-Eder und Waldeck-Frankenberg hatten im Frühsommer jeweils 20 bis 25 Unternehmensvertreterinnen und -vertreter mithilfe von lumbungs ausgelotet, wie sich der Arbeits- und Fachkräftemangel lindern lässt. „Eigeninitiativ passiert schon sehr viel in den und durch die Unternehmen, ohne dass die Politik aktiv geworden ist“, berichtete IHK-Vizepräsident Dr. Hans-Friedrich Breithaupt von der Kasseler F. W. Breithaupt & Sohn GmbH & Co. KG.
Die lumbungs betrachtet er als „perfektes Austauschformat, um relevante Themen sowie viele gute Ansätze und Ideen zu sammeln“. Die Runden profitierten von der Heterogenität der teilnehmenden Unternehmerschaft sowie ihrer Offenheit, sich ohne festgelegte Agenda auszutauschen. Auf die im Frühsommer erarbeiteten Erkenntnisse griff ein weiterer Workshop mit Wirtschaftsvertreterinnen und -vertretern im Oktober zurück: In der Evangelischen Bank in Kassel nutzten sie die in Reissäcken gesammelten Ergebnisse, um Arbeits- und Fachkräftethemen zu priorisieren sowie Maßnahmen und Forderungen zu formulieren.
Nachdem jeder Teilnehmende Reiskörner mit inhaltlichen Impulsen aus den Säcken gezogen hatte, war zu entscheiden: Ist ein Thema nur zu beobachten oder intensiv weiterzubearbeiten? Was sind die wichtigsten Punkte, auf die die Wirtschaft ihre Energie fokussieren sollte? Und was darf vernachlässigt werden? „Suchen Sie sich die besten Reiskörner heraus“, lud Moderatorin Madlen Freudenberg von der Neuen Denkerei ein. „Aus diesen kleinen Körnern kann etwas Großes wachsen.“
Als das Top-Thema der drei lumbungs in Hersfeld-Rotenburg, Waldeck-Frankenberg und Werra-Meißner schälten sich Haltung und Kompetenz von Berufseinsteigern heraus. „Die junge Generation verkörpert neue Werte“, fasste IHK-Fachkräftereferentin Dr. Roswitha Wöllenstein zusammen. Viele Arbeitgeber hätten sich selbstkritisch gezeigt: „Unsere Erwartungshaltung an Jugendliche ist häufig die falsche.“ Die Anforderungen an die Berufe änderten sich, die Bildungsbiografien verliefen zunehmend individueller. „Immer mehr Unternehmen beschäftigen Quereinsteiger oder qualifizieren Ungelernte bis zu einem Berufsabschluss nach“, benannte Dr. Wöllenstein einige Folgen. Bei der Entscheidung für einen Bildungsweg seien die Eltern sehr bedeutend: „Häufig lotsen sie ihre Kinder
ins vermeintlich bessere Studium.“
Weiterbildungsexperte Reiner Brandt fühlte sich an das Spiel des Lebens erinnert. „Dort entscheiden sich viele vor allem wegen der Verdienstaussichten für ein Studium“, sagte der Geschäftsführer der SIGNET Gesellschaft für innovative Bildung mbH und ehrenamtliche Vorsitzende des IT-Netzwerks Nordhessen. Eine Annahme, die in dieser Form zumindest auf IT-Berufe nicht mehr übertragbar sei: Auch ohne ein abgeschlossenes Studium der Informatik ließe sich ein gutes Gehalt verdienen. „Wir müssen immer wieder zeigen, wie attraktiv die Karriere- und Verdienstmöglichkeiten einer dualen Ausbildung sind“, hält Brandt fest. „Den individuell richtigen Bildungsweg zu wählen, ist zentral.“ Er bemängelt, dass Unternehmen kaum noch in die Schulen gelassen werden, um über Berufsbilder und Karrierewege zu informieren: „Dabei ist ein Großteil der Jugendlichen richtungslos in dem, was sie beruflich machen wollen.“

Ausbildungsvielfalt: Lehrkräfte fortbilden

„Wer keine duale Ausbildung gemacht hat, kann auch nicht für diesen Karriereweg begeistern“, ergänzte Christoph Frank von der Spedition Jung. Lehrkräfte würden stark in Richtung Hochschulabschluss beraten. Sie sollten dahingehend fortgebildet werden, dass sie tiefere Einblicke in die vielfältigen Möglichkeiten und Karrierechancen einer dualen Ausbildung gewinnen, um umfassender und fundierter informieren zu können. Erste Berufsorientierungsangebote sollte es bereits in der sechsten Klasse geben.
„Die Bildungsinhalte verändern sich rasant“, konstatiert Julia Glöckner, Personaldirektorin der Evangelischen Bank mit Sitz in Kassel. Vor allem Künstliche Intelligenz mit Anwendungen wie Chat-GPT beschleunigten diese Entwicklung enorm. „Wir müssen uns von tradierten Strukturen lösen, die alten und ausgetretenen Bildungswege verlassen“, fordert sie. „Wir müssen Bildung neu denken.“ Glöckner entwirft ein Bild vielfältiger und durchlässiger Entwicklungspfade: Bis zum Renteneintritt übe man nicht mehr nur den einen Beruf aus, der in jungen Jahren erlernt worden ist. „Warum können Jugendliche erst mal nicht einfach in ein Tätigkeitsfeld einsteigen, das sie begeistert, und sich dann Schritt für Schritt weiterentwickeln?“, fragte die Personaldirektorin. „Sie sollten Tätigkeitsgebiete verlassen dürfen, um in andere Bereiche einzusteigen.“
Statt eine Ausbildung auf drei Jahre anzulegen, sollten junge Nachwuchskräfte lieber in Intervallen lernen, zum Beispiel drei Mal für jeweils ein Jahr. Für die neuen Qualifikationen brauche es speziell zugeschnittene Angebote. Glöckner lenkt den Blick auf das große Ganze: Welche Berufe benötigen wir noch? Welche wollen wir fördern? Für welches Know-how und welche Kompetenzen will unsere Region die Quelle sein? „Viele andere Länder werden diese Transformation schaffen“, prognostiziert sie. „In Deutschland jedoch scheinen wir noch nicht so agil zu sein.“

Wo Firmen eine große Chance verpassen

Der Vorsitzende der City-Kaufleute Kassel und Chef der gleichnamigen Gothaer Versicherungsagentur, Alexander Wild, fragte, wie oft Schülerinnen und Schüler in Unternehmen zu finden sind. „Firmen verpassen hier eine Riesenchance“, sagt er. Sie sollten von sich aus viel mehr den Kontakt suchen, und zwar auf Augenhöhe: „Wenn ich mich nicht mehr für die jungen Menschen interessiere, interessieren sie sich auch nicht mehr für mich.“
Seine Empfehlung an die Unternehmerschaft: dort sein, wo sich Jugendliche in ihrer Freizeit aufhalten. Eine Möglichkeit ist, Vereine in der Region zu unterstützen und zu sponsern. „Dort sind sie dann als Marke mit dem Firmenlogo präsent, schaffen Berührungspunkte und Verbindungen.“ Für Wild stellt das einen wichtigen Türöffner dar, der Jugendliche später zu Tagen der offenen Tür oder Praktika in die Firmen führt. Außerdem empfehle es sich für Unternehmen, die eigenen Auszubildenden als Corporate Influencer zu nutzen. Sie könnten in den Sozialen Medien authentisch Geschichten aus ihrem Berufsalltag und Ausbildungsinhalte posten – so wie bei der IHK-Kampagne „Jetzt #könnenlernen“, die vor allem von angehenden Nachwuchskräften auf TikTok getragen wird.
Als weniger notwendig erachtet es Wild, die duale Ausbildung zu bewerben: „Stattdessen fehlen die normalen Arbeitskräfte, hier müssen wir ansetzen.“ Die einzige echte Ressource, um zunehmenden Personalmangel zu beheben, böten Zugewanderte. Sie sollten für diese Tätigkeiten qualifiziert werden – direkt im Job. „Die zugewanderten Arbeiter in den Wirtschaftswunderjahren haben auch erst malocht und sind dann später qualifiziert worden, ohne duale Ausbildung“, sagte er.
IHK-Hauptgeschäftsführer Dr. Arnd Klein-Zirbes hielt dagegen, dass eine Förderung der dualen Ausbildung durchaus vonnöten sei. Vor allem die Warteschleifen nach den Schulen mit ihren verschiedenen Maßnahmen müssten verkürzt werden: „Erfahrungsgemäß werden Jugendliche dadurch nicht besser, sondern nur älter.“ Inzwischen sei das Einstiegsalter neuer Auszubildender im Schnitt auf 19 Jahre gestiegen. Die Zielgruppe der Studienzweifler und -abbrecher gelte es noch viel intensiver anzusprechen. Die Gymnasien müssten noch stärker Thema der IHK-Berufsorientierung sein, um den Automatismus aufzubrechen, sich nach dem Abitur für ein Studium zu entscheiden. „Schließlich gibt es daneben eine enorme Vielfalt an Möglichkeiten, sich gemäß seiner Interessen und Talente zu verwirklichen. Das belegen die über 250 IHK-Ausbildungsberufe“, so Dr. Klein-Zirbes.

Unversorgte Jugendliche: EQ nutzen

Für Heiko Hillwig, beim Volkswagenwerk Kassel in Baunatal Koordinator für arbeitsmarktpolitische Projekte, stellen unversorgte Jugendliche eine wichtige Zielgruppe dar. Die zentrale Frage lautet für ihn: Wie schaffen wir es, sie ohne Noten in Arbeit zu bringen? Derzeit durchlaufen 16 Jugendliche in Baunatal eine Einstiegsqualifizierung (EQ). Dabei handelt es sich um ein in der Regel sechs- bis zwölfmonatiges Betriebspraktikum, das sich eng an den Inhalten anerkannter Ausbildungsberufe orientiert, aber individuell und flexibel entsprechend der Bedürfnisse der anbietenden Unternehmen gestaltet werden kann. „Ganz wichtig ist, auf Augenhöhe mit den Jugendlichen ins Gespräch zu kommen, und mehr über ihre Erwartungen zu erfahren“, schilderte Hillwig. Dadurch ergibt sich die Chance, den Nachwuchs näher kennenzulernen.
Jugendliche ohne Schulabschluss böten ebenfalls großes Potenzial, ergänzte Oliver Sollbach, Regionalmanager bei der Region Kassel-Land e.V. In Schulen müssten mehr praktische Fertigkeiten ausprobiert werden, damit Schülerinnen und Schüler ihre Talente entdeckten. Sollbach selbst hat mit ihnen unter anderem einen Bauwagen errichtet. „Doch wo findet sich das im Zeugnis wieder?“, sprach er die limitierte Aussagekraft solcher Dokumente an. Es brauche viel mehr interdisziplinäre Lernräume. Und: Eine Schulkarriere müsste nicht auf Biegen und Brechen zu Ende geführt werden. „Jugendliche sollten auch einen anderen Entwicklungspfad einschlagen dürfen.“ Die ganzheitliche Lebenssituation solle mitgedacht, die Persönlichkeitsentwicklung gefördert werden. „Wertschätzung finden und erfahren: Dadurch entsteht intrinsische Motivation“, fasste er zusammen.
Kaum ein Schulabbruch komme abrupt, in der Regel kündige sich dieser sichtbar an, ergänzte Dr. Hans-Friedrich Breithaupt. „Dann bedarf es konkreter Optionen, wie es weitergeht.“ Häufig werde ein falsches Rezeptbuch zur Hand genommen, kritisiert der Unternehmer, der als Vertreter der Wirtschaft dem Arbeitskreis SchuleWirtschaft Nordhessen vorsteht. „Jugendliche werden in immer neue staatliche Maßnahmen geschickt. Es muss aber nicht das zigste Bewerbungstraining sein“, verdeutlichte Dr. Breithaupt und empfahl: „Statt staatlicher Maßnahmen sollte es verpflichtende Orientierungspraktika in Betrieben geben.“ Wichtig sei, Begegnungen zu schaffen, wobei die Angebote für Unternehmen und Jugendliche niedrigschwellig sein müssten. „Dazu gehört, sich ohne großen Aufwand trennen zu dürfen, wenn es nicht passt“, ergänzte Dr. Breithaupt.

Impulspapier soll Lösungswege aufzeigen

Neben Maßnahmen zum Stärken der dualen Ausbildung diskutierten die lumbung- und Workshop-Teilnehmenden, wie sich neues Arbeits- und Fachkräftepotenzial heben und vorhandenes ausschöpfen lässt. Ferner loteten sie aus, wie Digitalisierung und Bürokratieabbau ineinandergreifen können, um den Arbeitsmarkt weiter zu entwickeln. Die erarbeiteten Forderungen und Maßnahmen führte das IHK-Fachkräfteteam zu einem Impulspapier zusammen.
Dr.Roswitha Wöllenstein
Referentin Team Fachkräfte | Koordinatorin MINT