"Es wurde viel versäumt und falsch investiert"

Investitionsstau, Energiepreise, Bürokratie: An vielen Stellen wünschen sich Unternehmen aus der Region Veränderungen von einer neuen Bundesregierung. Die HNA | Redakteur Daniel Seeger hat mit Désirée Derin-Holzapfel, Präsidentin der IHK Kassel-Marburg, darüber gesprochen, wo der Handlungsbedarf aus Sicht der Wirtschaft am größten ist und was Unternehmer in der Region besonders umtreibt.
Frau Derin-Holzapfel, sind Sie mit dem Ergebnis der Bundestagswahl zufrieden?
Mit jedem Wahlergebnis bin ich zufrieden, das eine schnelle Regierungsbildung bringt, und mit jeder Bundesregierung, die ihren Fokus auf die Wirtschaft und das Wirtschaftswachstum legt. Wir dürfen keine Zeit verlieren, besonders im Hinblick auf die Wettbewerbsfähigkeit der Industrie. Auch in unserer Region herrscht eine echte Krise.
Glauben Sie, dass eine schnelle Regierungsbildung gelingt?
Ja, das Beispiel Hessen zeigt, dass eine Koalition aus CDU und SPD gut und konstruktiv zusammenarbeitet.
Was schafft die Probleme bei der Wettbewerbsfähigkeit?
Zum Beispiel die Energiepreise. Die liegen bei uns zum Teil deutlich höher als in anderen europäischen Ländern. Und da reden wir noch nicht von China oder den USA. Das ist eine Wettbewerbsverzerrung, die für deutsche Unternehmen nicht tragbar ist.
Wie könnte eine neue Bundesregierung das ändern?
Die Stromsteuern müssen sinken, und auch die Netzentgelte sind ein großes Thema. Man sollte prüfen, ob diese durch einen staatlichen Zuschuss deutlich verringert werden können, um Unternehmen zu entlasten. Es ist ein Teufelskreis: Wenn Firmen wegen hoher Energiekosten abwandern, sinken auch die Einnahmen aus Steuern und Netzentgelten. Ohne konsequente Steuersenkungen droht eine weitere Deindustrialisierung insbesondere im Bereich energieintensiver Unternehmen.
Wo drückt der Schuh für Unternehmen in der Region besonders?
In unserer jüngsten IHK-Konjunkturumfrage haben viele Unternehmen angegeben, dass besonders die politischen Rahmenbedingungen derzeit nicht passen. Themen wie Fachkräftesicherung und der Erhalt von Berufsschulen sind in der Region sehr wichtig. Auch bei der Infrastruktur muss sich dringend etwas tun. Ein Beispiel: die marode Bergshäuser Brücke auf der A44 südlich von Kassel. Funktionierender Verkehr ist nicht nur für Speditionen, sondern für alle Unternehmen wichtig. Hier wurde viel versäumt und falsch investiert.
Auch beim Bau neuer Infrastruktur hapert es.
Die A44 ist ein Paradebeispiel. Wie kann es sein, dass wir in Nordhessen die teuerste Autobahn der Welt haben und die letzten Kilometer immer noch fehlen? Wir brauchen schlankere Genehmigungsprozesse und mehr Digitalisierung.
Viele Unternehmen hoffen auf Steuersenkungen unter einem möglichen Kanzler Merz.
Hohe Steuern führen nicht automatisch zu höheren Staatseinnahmen. In Deutschland liegt die steuerliche Belastung von Unternehmen bei 30 Prozent, der EU-Durchschnitt liegt bei 21,1 Prozent. Ohne Anpassung ist es kein Wunder, dass Unternehmen über Standortverlagerungen nachdenken. Auch für Arbeitnehmer sind die Belastungen hoch. Trotz massiver Lohnerhöhungen in den vergangenen Jahren bleibt vielen nicht mehr im Portemonnaie, vor allem wegen steigender Sozialabgaben.
Aber das Lohnniveau liegt nach Abzug der Inflation trotz der erwähnten Erhöhungen unter dem von 2019?
Ja, auch das spielt eine Rolle.
Viele Unternehmen klagen besonders laut über zu viel Bürokratie.
Zurecht. Das, was wir uns in Deutschland an Bürokratie bei Staat und Unternehmen leisten, geht auf keine Kuhhaut. Wenn da nicht sofort ein Riegel vorgeschoben wird, verlieren wir immer weiter an Wettbewerbsfähigkeit.
Nahezu alle Parteien versprechen seit Langem Bürokratieabbau. Warum soll das jetzt gelingen?
Bürokratieabbau ist das einzige Konjunkturpaket, das keine Milliarden kostet. Auch die EU-Kommission hat das erkannt und Pläne vorgelegt – das ist zumindest ein Hoffnungsschimmer.