Neuer Hauptgeschäftsführer

Wechsel an der Spitze

Seit 1. März ist er der neue Hauptgeschäftsführer der Industrie- und Handelskammer (IHK) Kassel-Marburg: Dr. Arnd Klein-Zirbes äußert sich im Gespräch über seine Motivation, in die Region zu kommen, die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie, den Standort Nordhessen-Marburg sowie über neue Herausforderungen, die die IHK Kassel-Marburg für Wirtschaft und Region in Angriff nehmen wird. 
Was zieht einen Rheinländer in die Region Nordhessen/Marburg?
Als man mich angesprochen hat, habe ich mich zunächst mit der IHK Kassel-Marburg als Institution beschäftigt und schnell festgestellt, dass sich hier hervorragende Unternehmen ehrenamtlich engagieren. Beispielhaft nenne ich unser IHK-Präsidium. Die Persönlichkeiten, die ich im Zuge des Findungsprozesses zur Besetzung der Position des Hauptgeschäftsführers kennengelernt habe, haben mich sehr beeindruckt. Frühzeitig war mir klar, dass diese Führungspersönlichkeiten den Standort und die IHK Kassel-Marburg weiter nach vorne bringen wollen und werden. Die Vorstellung, das aktiv mitgestalten zu können, hat mich fasziniert. Das ehrenamtliche Engagement ist für uns als Hauptamt eine große Motivation und Verpflichtung. Wenn wir allein an den ehrenamtlichen Einsatz von mehr als 2.400 Personen im Prüfungswesen denken, wird schnell klar: Ohne ehrenamtliches Engagement geht es nicht – erst recht nicht in Krisenzeiten! Ehren- und Hauptamt organisieren im Schulterschluss pro Jahr weit über 15.000 Prüfungen und tragen somit dazu bei, dass Absolventen in eine berufliche Karriere starten können. Kurz und gut: Ich erlebe hier ein starkes Team an einem starken Standort. Das gilt auch für die Wirtschaftsjunioren unseres IHK-Bezirks, die ich in meinen ersten Gesprächen als echten Aktivposten, so bei Themen wie Unternehmensgründungen, erlebt habe. 

Gute, zahlreiche und intensive Gespräche habe ich auch mit meinen hauptamtlichen Kolleginnen und Kollegen verschiedener Bereiche und Ebenen in unserer IHK geführt. Ich sehe im Hauptamt ein starkes und motiviertes Team, das von einer hohen Identifikation mit der IHK Kassel-Marburg und ihrem Standort geprägt ist. Damit das auch so bleibt, gilt es, die Arbeitgeberattraktivität der IHK Kassel-Marburg im Blick zu behalten und beim Recruiting neuer Fachkräfte auf der Höhe der Zeit zu agieren. Konkret heißt das, dass wir schon bald zum Beispiel ein neues, niedrigschwelliges Online-Bewerbungsverfahren implementieren werden. 

Beschreiben Sie bitte Ihren Führungsstil!
Moderne Führung stellt die Teamleistung in den Mittelpunkt. Jemand, den ich sehr schätze, hat es einmal so ausgedrückt: Gute Führung bedeutet, so zu führen, wie man selbst geführt werden möchte. Besser kann man es kaum formulieren. Führung wird heute oft mit Begriffen wie „agil“ in Zusammenhang gebracht. Unsere Welt wird immer arbeitsteiliger, unsere Umfelder verändern sich in hoher Geschwindigkeit. Deshalb ist es wichtig, dass wir uns flexibel anpassen und Führungskräfte ihren Beitrag dazu leisten, Kolleginnen und Kollegen im Sinne des „Enabling“ zu unterstützen, wenn es darum geht, Herausforderungen zu meistern. In diesem Sinn ist man als Hauptgeschäftsführer ein „primus inter pares“. Sich heute als Führungsverantwortlicher einfach auf sein Weisungsrecht zurückzuziehen, scheint mir undenkbar. Ich empfand es immer als motivierend, wenn meine Vorgesetzten eine klare Strategie entwickelt und verfolgt haben. Controlling sollte dabei eher ein Steuern als ein mikromanagementmäßiges Kontrollieren sein. Dass jede Führungskraft eine Vorbildfunktion hat, halte ich für selbstverständlich. Ich lege Wert auf eine gute, professionelle interne Kommunikation. Das hat mit Effizienz und Wissensteilung zu tun. Weil sich unsere Umfelder verändern, müssen und wollen wir als IHK uns auch ständig verbessern und an unserem kontinuierlichen Verbesserungsprozess weiterarbeiten. Ein solcher Prozess kann nur dann erfolgreich sein, wenn ihn eine gute interne Kommunikation begleitet. Ich glaube nicht, dass wir sozusagen disruptiv die IHK Kassel-Marburg ganz neu erfinden müssen. Aber wir arbeiten täglich daran, immer wieder effizienter und besser zu werden. Als Unternehmerorganisation ist uns mit auf den Weg gegeben, innovativ zu sein. Wichtig ist deshalb, dass wir ein innovatives Klima schaffen. Das hat mit Fehlerkultur zu tun. Ich rede von einem Klima, in dem man sich möglichst frühzeitig zu Fehlern bekennt, um sie dann abzustellen und aus ihnen zu lernen. Innovation und Kompetenz, Glaubwürdigkeit und Sympathie fallen nicht vom Himmel. Sie sind aber unverzichtbar, um unseren Mitgliedern bestmöglichen Nutzen zu bringen und im Sinne des Gesamtinteresses zu handeln.

Apropos Kommunikation. Sie haben jahrelang im Kommunikationsbereich gearbeitet. Werden Sie neue Wege in der Kommunikation gehen?
Ich halte sehr viel davon, zur Stärkung der Marke IHK Kassel-Marburg eine strategische Kommunikation umzusetzen. Dass Presseanfragen schnell und gut zu beantworten sind, ist klar. Darüber hinaus ist es aber unsere Aufgabe, aktiv die relevanten Themen öffentlich zu platzieren und sie regelmäßig zu bespielen. Öffentlichkeitsarbeit ist aus meiner Sicht ein strategisches Element, ein wichtiger Teil unserer politischen Arbeit. Und ich sage klipp und klar: Eine Industrie- und Handelskammer muss kampagnenfähig sein. Sie muss klug auf Kampagnen, die gegen sie selbst und ihre Stakeholder zielen, reagieren. Und sie selbst sollte auch Kampagnen fahren können, so zum Beispiel, wenn es darum geht, die Karrierechancen auf Grundlage des dualen Ausbildungssystems darzustellen. Die Kommunikation der IHK Kassel-Marburg ist gut aufgestellt. Was die regelmäßige Information für die regionalen Unternehmer betrifft, hat die IHK mit der Wirtschaft Nordhessen ein informatives und modernes Mitgliedermagazin. Unser Internetauftritt hat eben erst ein Facelift erfahren. Hier hat man sich für den Verbund IHK24 entschieden, dem zwischenzeitlich über 50 Industrie- und Handelskammern angehören. Dadurch sind Synergieeffekte im Content- und Designbereich nutzbar. Beim Thema Social Media hat sich unsere IHK bereits erfolgreich auf den Weg gemacht, wir werden hier aber noch nachlegen. Es ist wichtig, ein gut gemachtes Mitgliedermagazin zu haben und klassische Pressearbeit zu betreiben. Die sozialen Medien spielen aber auch eine wichtige Rolle in der Kommunikation, allein im Hinblick auf den Aspekt der Nahbarkeit unseres Wirkens. Und wenn es schnell gehen muss, ist die digitale Kommunikation ohnehin unschlagbar. Denken wir nur an die Informationsarbeit rund um die Pandemie. Wir werden manches ausprobieren, so etwa Bewegtbildformate. Eine erste praktische Umsetzung dazu ist die jüngste Neujahrsansprache unserer IHK. Wir müssen sicherstellen, dass unser Informations- und Leistungsangebot unsere Kunden, Mitglieder und Stakeholder, zu denen etwa auch Nichtmitglieder wie Schülerinnen, Schüler oder Auszubildende gehören, erreicht. 

Ihre Vorgängerin hat die digitale Transformation nach innen und außen auf die Agenda unserer IHK gesetzt. Wie geht es damit weiter?
Allein schon das Onlinezugangsgesetz, kurz: OZG, verpflichtet uns, bis Ende 2022 zahlreiche unserer IHK-Leistungen digital anzubieten. Als Erbringer gesetzlicher Aufgaben sind die IHKs verpflichtet, den Zugang zu ihren Leistungen zu digitalisieren, das heißt, eine vollständig digitale Antragsstellung zu ermöglichen und ihren Mitgliedsunternehmen damit einen einfachen, schnellen und transparenten Zugang zu ihren IHK-Leistungen anzubieten. Dazu zählen insbesondere Dienstleistungen im Bereich Unternehmensanmeldung wie Gewerbeerlaubnisse, Services zur Anmeldung für Sach- und Fachkundeprüfungen, Leistungen zur Berufsanerkennung oder Prüfungsanmeldungen in der Berufsausbildung. Die Digitalisierung wird aber kaum Service-Erlebnisse wie Prüfungen vor Ort ersetzen. Die Buchstaben „IHK“ werden immer real erlebbar bleiben. Und gleichzeitig gilt: Wir werden digitaler.

Betrachten wir das Thema Digitalisierung einmal anhand der Bildung: Einerseits sind da kundenorientierte Dienstleistungen, die unsere IHK seit dem Jahr 2018 im Rahmen des Portals https://bildung.kassel.ihk.de bietet. Wir arbeiten mit Hochdruck daran, den digitalen Ausbildungsvertrag in das Portal zu integrieren, wir erweitern den Service der digitalen Prüferentschädigung im Bereich Fortbildungsprüfungen und wir möchten zur Winterprüfung Prüfungsteilnehmer im Ausbildungsbereich digital zur Prüfung einladen. Manches zahlt auf das OZG ein. Daneben gehen wir unabhängig vom OZG neue digitale Wege, so in der Berufsorientierung. Hier haben wir im vergangenen Jahr bereits Online-Angebote für Ausbilderinnen und Ausbilder, Schülerinnen und Schüler, Lehrerinnen und Lehrer sowie Eltern vorgehalten. 

Die Digitalisierung eröffnet auch vielfach neue Möglichkeiten, wenn es um Wissenstransfer geht. Wir arbeiten schon jetzt an einer Innovationsplattform, die regionale Start-ups, Forschungseinrichtungen, Universitäten und Unternehmen zusammenbringt und deren Dienstleistungen, Produkte und Angebote zeigt. Es entsteht ein Schaufenster regionaler Innovationen, das eine starke Dynamik auslöst.

Die Digitalisierung ist ein ganz wesentliches Standortthema, auch und insbesondere für unsere ländlichen Räume. Eine gute digitale Infrastruktur ist heute mindestens genauso unverzichtbar wie funktionierende Brücken und Straßen. Hier kommt uns als IHK unsere leistungsstarke regionale Aufstellung zugute. Unsere Regionalversammlungen, unsere Geschäftsstelle in Marburg und unsere Servicezentren vor Ort befördern die Digitalisierung in den Teilregionen. Wir beraten zu Förderprogrammen der Digitalisierung und bringen als Kompetenzpartner die Interessen der Wirtschaft in regionale Digitalisierungsstrategien ein. Für die Qualität der Bildungsberatung ist es ebenfalls wichtig, dass wir weiterhin regional auftreten und gemeinsam mit den Servicezentren vor Ort bei unseren Unternehmen nahbar sowie sichtbar bleiben und uns gut vernetzen.

Nicht zuletzt uns als „Einheit IHK“ bietet die Digitalisierung viele Chancen, so etwa bei der Mitgliederkommunikation. Hier erarbeiten wir seit Kurzem ein Konzept, das zielgruppenscharfe Mitgliederansprachen ermöglichen wird. Also: Es geht mit Hochdruck weiter in Sachen Digitalisierung.

Wie hat man sich das Job-Onboarding in Coronazeiten vorzustellen?
Wegen Corona sind die meisten Neujahrsempfänge mit physischer Präsenz ausgefallen, also führe ich viele bilaterale Kennenlerngespräche, meistens auf digitalen Plattformen. Ich fühle mich sehr willkommen und spüre viel gegenseitige Neugier und Sympathie. Ich freue mich schon jetzt auf zahlreiche Begegnungen nach Corona. Persönliche Gespräche sind durch nichts zu ersetzen. Die Nordhessen nehme ich als einen Menschenschlag wahr, der auf eine erfrischende Art unprätentiös ist. Gerade in Zeiten, in denen es vielleicht manchmal etwas künstlich aufgeregt zugeht, finde ich das sehr sympathisch. 

Stichwort Corona: Was sollte die Politik jetzt tun?
Vor allem zweierlei für die Unternehmen sicherstellen: Planungssicherheit und Liquidität. Bei beiden Stichworten gibt es noch Luft nach oben. Unternehmen mit einem Liquiditätsbedarf, der nicht über die Corona-Hilfen gedeckt wird, schmelzen derzeit vielfach Eigenkapitalreserven ab oder nehmen Kredite auf. Diese müssen bedient werden. Geld, das dann für Investitionen fehlt. Der Eigenkapitalrückgang in bestimmten Branchen ist erheblich. Die Überbrückungshilfe IIl ist ohne Frage ein sinnvolles Hilfsinstrument, bei dem aber bei der Bearbeitung und Auszahlung der Hilfen nicht alles glatt gelaufen ist. Mein Eindruck ist im Übrigen, dass man den Regierungspräsidien hier weniger einen Vorwurf machen kann. Nach unseren Informationen hatten die Verzögerungen ihre Ursache in der vom Bund bereit-gestellten Software zur Abwicklung der Förderprogramme. Aber klar ist auch: Für betroffene Unternehmen ist es einerlei, bei wem die Verantwortung zu suchen ist. An dieser Stelle rufe ich unsere Mitgliedsbetriebe auf, sich gegebenenfalls frühzeitig an uns zu wenden. Sollten wir selbst nicht auskunftsfähig sein, übernehmen wir eine Lotsenfunktion. Corona zeigt im besten Sinn, was Industrie- und Handelskammern für ihre Mitglieder zu leisten im Stande sind. Beratungsschwerpunkte liegen natürlich im Bereich der Finanzierung und rechtlichen Fragestellung. Als langjähriger Kooperationspartner der WIBank haben wir bislang fast 1.000 Anträge für das Darlehensprogramm „Mikroliquidität“ vorgeprüft, um zu helfen, den Mitgliedern schnell Liquidität zu verschaffen. Fragen rund um die Auslegung der Corona-Kontakt- und Betriebsbeschränkungsverordnungen, zur Kurzarbeit und zu Home-Office-Regelungen gehören ebenso zum Tagesgeschäft wie Auskünfte zum Datenschutz. Wir haben pandemiebedingt die Art unserer Beratungen selbstverständlich angepasst: Präsenzveranstaltungen wurden umgehend durch Online-Formate ersetzt. Online finden zum Beispiel Insolvenzrechtssprechtage, Arbeitsrechtsveranstaltungen und andere Angebote statt. Aktuelle Informationen liefert außerdem unsere Website www.ihk-kassel.de ebenso wie unsere Themen- und Veranstaltungsnewsletter, die Sie unter www.ihk-kassel.de/newsletter abonnieren können.  

Wie steht es um die Politikberatung in der Pandemie durch die IHK-Organisationen?
Zunächst zeigt sich in der aktuellen Zeit erneut, dass die Soziale Marktwirtschaft immer noch das beste Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell ist, das es gibt. In der Finanzkrise hatten schon manche sein Ende postuliert. Dann hieß es, bei der nächsten Krise werde sich die Soziale Marktwirtschaft erledigt haben. Davon kann nun kaum die Rede sein. Wir sollten aber wachsam sein. Dass sich der Staat bei der Krisenbewältigung stark ins Wirtschaftsgeschehen einmischt, ist einerseits verständlich. Andererseits müssen wir bedenken, dass eine Regulierung meist die nächste nach sich zieht. Die staatlichen Stützräder, die hier und da jetzt angeschraubt werden, um in der Krise zu stabilisieren, können beim Beschleunigen oder bei schneller Fahrt hinderlich sein. Schlimmstenfalls droht eine Effizienzkrise, da mit staatlichen Regulierungen oft Bürokratien entstehen. Unternehmer erfahren den Bürokratieabbau als wichtiges und dringliches Thema. Das müssen wir als Industrie- und Handelskammer artikulieren und den Stellen, an denen Bürokratie entsteht – meist auf Landes- und Bundesebene – kommunizieren. Leider ist ein direkter Einfluss auf den Bürokratieabbau für die regionale Wirtschaft nur selten möglich.

Die IHK Kassel-Marburg steht für einen breit aufgestellten Branchenmix. Das hilft uns sehr in der Pandemie. Zum Glück haben wir eine starke Industrie mit hoher Innovationskraft. Der Standort Marburg zum Beispiel ist einer der dynamischsten Pharmastandorte weltweit, der gerade jetzt eine außerordentlich wichtige Rolle spielt. Das ist gut. Gleichzeitig erlebe ich in meinen Gesprächen Unternehmen, etwa aus dem Einzelhandel oder der Hotelbranche, die einfach nicht mehr wissen, wie es weitergeht. Das müssen wir immer wieder gegenüber der Politik kommunizieren und mit Zahlen und Beispielen belegen. Es wäre jetzt sehr wichtig, dass die Gesamtheit der bundesweit in den Industrie- und Handelskammern organisierten Unternehmen über den Deutschen Industrie- und Handelskammertag deutlich vernehmbar ihre Stimme erhebt. Es ist nun mal so: Politik reagiert auch und insbesondere auf Schlagzeilen. Die Coronabeschlüsse werden auf Bundes- und Landesebene gefasst. Aufgrund der jüngsten Rechtsprechung kann unser Spitzenverband auf Bundesebene aber gerade in diesen Krisenzeiten kaum Pressearbeit betreiben. Viele Mitgliedsunternehmen stört das. Umso wichtiger ist die politische Arbeit außerhalb der klassischen Öffentlichkeitsarbeit und auf Landes- und Regionalebene. Der Hessische Industrie- und Handelskammertag hat Mitte Februar öffentlich darauf hingewiesen, dass wir durchhaltbare Maßnahmen für Hessens Wirtschaft brauchen. Es sind gezieltere Lösungen nötig als der flächendeckende Lockdown. Die hessische Wirtschaft setzt sich für eine schrittweise Öffnung derzeit geschlossener Betriebe ein, auch bei Inzidenzen von über 50. Hessens Wirtschaft kann hohe Infektionsschutzmaßnahmen gewährleisten. Wir brauchen die angekündigte Öffnungsstrategie mit klaren und erreichbaren Zielwerten, und zwar schnell. 

Was zeichnet aus Ihrer Sicht Nordhessen und die Region Marburg grundsätzlich aus – gibt es so etwas wie einen Markenkern des Standortes?
Unseren IHK-Bezirk erlebe ich als Standort mit hocheffizienten und innovativen Unternehmen, der eine hohe Lebensqualität mit einem hervorragenden kulturellen Angebot, Stichwort documenta, und märchenhaften Naherholungsmöglichkeiten bei bezahlbaren Lebenshaltungskosten bietet. Ich meine, dass wir diese Stärken noch häufiger noch deutlicher kommunizieren sollten. Kürzlich titelte die Frankfurter Allgemeine Zeitung unter Hinweis auf die Corona-Impfstoffproduktion, die Welt blicke auf Marburg. Ich sage: bitte mehr von dieser Art bundesweiter Berichterstattung! Wer sich mit unserem IHK-Bezirk beschäftigt, versteht sehr schnell, dass unsere Wirtschaftsstruktur außerordentlich breit aufgestellt ist. Das macht eine Fokussierung im Sinne einer Markenbildung, wie sie Frankfurt als Finanzplatz oder Baden-Württemberg als Autostandort hat, nicht ganz leicht. Unser IHK-Bezirk ist mittelständisch geprägt und seine Unternehmen sind häufig seit vielen Generationen inhabergeführt. Die Unternehmenspolitik zielt dann oft auf die sogenannte „Enkelfähigkeit“ ab. Man denkt in Generationen, weniger in Quartalen. Das ist gelebte Nachhaltigkeit und sicher Teil des Markenkerns unseres Standortes. Die starke industrielle Ausrichtung geht einher mit einer internationalen Ausrichtung der Unternehmen. Die Forschungs- und Entwicklungsabteilungen der bei uns ansässigen Konzerne spielen dabei eine wichtige Rolle. Aber auch die Großunternehmen, die weniger Forschung und Entwicklung betreiben, prägen den Standort, indem sie Aus- und Arbeitsplätze schaffen. Allein das zeigt: Industrie ist und bleibt unverzichtbar, übrigens nicht zuletzt als Partner für kleine und mittlere Unternehmen anderer Wirtschaftsbereiche wie des Handwerks. Wir sitzen sozusagen in einem Boot. In den Teilregionen sind viele Hidden Champions und industrielle Weltmarktführer angesiedelt. Unter ihnen zum Beispiel Viessmann und B. Braun, die eine hohe Verwurzelung für die Region mitbringen. Das prägt ebenfalls die Marke Nordhessen-Marburg. Marburg ist ein Pharmastandort von absoluter Weltspitze. CSL Behring entwickelt lebensnotwendige Medikamente, GSK wichtige Impfstoffe und auch Siemens Healthcare trägt durch seine Labordiagnostik zur Lebensrettung bei, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Das darf man auch außerhalb unseres IHK-Bezirks ruhig wissen, nicht zuletzt, um die Anziehungskraft des Standorts auf Investoren und Fachkräfte weiter zu stärken. 

Neben der starken Industrie prägen kreative, kundenorientierte Einzel- und Großhändler wie auch Dienstleister unseren IHK-Bezirk. Eine besondere Stärke der Region liegt unter den zahlreichen Dienstleistungssparten im Bereich des Tourismus und der Logistik. Nordhessen ist sowohl ein starker Tagungsstandort, ein Ziel für Kultur- und Gesundheitstouristen, aber auch für Aktivtouristen auf Skiern, dem Rad, im Kanu oder zu Fuß. Wegen ihrer in weiten Bereichen schon jetzt guten und sich hoffentlich in den nächsten Jahren weiter verbessernden verkehrlichen Erschließung ist die Region für Logistiker ein guter Standort. Das zeigt sich in vielen Orten des IHK-Bezirks an den seit Jahrzehnten ansässigen Firmen, aber auch an zahlreichen Neuansiedlungen. 

Dabei ist es wichtig, dass vorliegende Konzepte für die Entwicklung unserer Innenstädte angepasst und umgesetzt werden. Das hat nicht nur eine wirtschaftliche, sondern auch eine kulturelle Dimension, die Einfluss auf die Markenbildung hat, wenn Sie so wollen. Für den Handel, die Schausteller und die Gastronomie ist das wichtige Weihnachtsgeschäft mehr oder weniger ausgefallen. Es gab und gibt gute Dialogformate zur Zukunft der Innenstädte, so zum Beispiel in Kassel, die wir mit dem Ziel fortsetzen wollen, weiterhin attraktive Innenstädte zu haben. Dabei sollte auch über neue Nutzungsmöglichkeiten für Ladengeschäfte nachgedacht werden, wo sie nachgefragt sind und zur Vitalisierung der Innenstadt beitragen können. Kein ganz einfaches, aber ein wichtiges Thema, bei dem Wirtschaft, öffentliche Hand und Politik gut verzahnt zusammenarbeiten, wie übrigens bei vielen Themen im IHK-Bezirk. Im Rahmen des Regionalmanagements nehme ich einen starken Willen wahr, gemeinsam konstruktiv die Zukunft des Standorts zu gestalten. 

Last but not least sind die sehr guten Hochschulen sowie die dynamische Gründer- und Start-up-szene zu nennen, wenn es um die Standortmarke Kassel-Marburg geht.

Welche weiteren Zukunftsthemen haben Sie sich für die IHK Kassel-Marburg vorgenommen?
Wenn sich in einigen Wochen sozusagen der Nebel verzogen haben wird, werden wir uns mit der Frage beschäftigen müssen, welche Stärken, Schwächen, Chancen und Risiken Nordhessen und die Region Marburg nach Corona haben. Wie steht es um die Ladengeschäfte in den Innenstädten? Welche Unterstützung braucht die Gründerszene? Hat sich die digitale Infrastruktur bewährt? Wie sieht es hinsichtlich der Fachkräftesituation, der Ausbildungssituation aus? Wir wollen mit unseren Partnern Antworten auf diese Fragen geben. Denn wir übernehmen Verantwortung für unseren Standort. Neben Themen wie Straßeninfrastruktur gehen wir mit unseren Stakeholdern auch Themen wie Klimafreundlichkeit als Standortfaktor an. Die Palette ist umfangreich: Marburg ist eine Modellregion für die Wasserstoff- und Brennstoffzellentechnologie. Dieses Thema möchten wir aktiv begleiten. Es korrespondiert auch eng mit dem Thema Klimaneutralität in der Wirtschaft. Beide Themen befördert unser Innovations- und Umweltteam in den nächsten Monaten. Unsere Start-up-Aktivitäten werden wir und unsere Partner ebenfalls ausbauen und im Rahmen von Förderprojekten wie Nexxt Now das Thema Unternehmensnachfolge noch intensiver angehen. Im IHK-Bezirk sind rund 15.000 Unternehmen mit etwa 170.000 Mitarbeitern in der Situation, sich über ihre Unternehmensnachfolge Gedanken machen zu müssen. Rund 5.000 Unternehmen mit 35.000 Mitarbeitern stehen in den nächsten fünf Jahren zur Übergabe an. Es besteht also Handlungsbedarf.
Ein echtes Zukunftsthema ist ohne Zweifel Künstliche Intelligenz, kurz KI. Neben anderen Angeboten und Kooperationen arbeiten wir als regionaler Partner der RWTH Aachen an einem Zukunftszentrum KI in Hessen und beabsichtigen, den Unternehmen KI-Anwendungen nahezubringen, damit sie deren zukünftigen Einsatz zu ihrem Nutzen beurteilen können. Dabei gilt es besonders, auf die menschengerechte Gestaltung dieser KI-Anwendungen zu achten, um eine langfristige Prosperität der Wirtschaft zu gewährleisten. Ein weiteres Zukunftsthema ist das „Autonome vernetzte Fahren“, das einen wesentlichen Baustein zukunftsfähiger Mobilitätskonzepte darstellt. In einem ersten Feldversuch wurde bereits ein autonom fahrender Bus auf dem Gelände des Pharmastandorts in Marburg getestet. In einem zweiten Schritt soll eine Teststrecke im öffentlichen Raum folgen. 
Nicht neu, aber ein Dauerthema ist der Infrastrukturausbau. Ich spreche natürlich vom Autobahnausbau, A 44 und A 49. Die gute Nachricht ist: Es wird gebaut. Die weniger gute lautet: Leider nicht schnell genug. Zusätzlich gilt es, Lösungen für die bessere Anbindung des Raums Frankenberg in Ost-West-Richtung zu finden sowie einzelne Ergänzungen im Raum Marburg und Kassel zu schaffen, die Schienenanbindung zu verbessern und den Flughafen mit seinen Gewerbegebieten zu entwickeln. Ein weiteres aktuelles Beispiel ist der ICE-Halt im Landkreis Hersfeld-Rotenburg. Im Zuge des Trassenfindungsprozesses der Neubaustrecke Fulda-Gerstungen setzt sich die IHK-Regionalversammlung Hersfeld-Rotenburg für die Anbindung eines Fernverkehrshalts ein. Eine Abkopplung vom schnellen ICE-Netz hätte Auswirkungen für die regionale Wirtschaft und damit für die Entwicklung der gesamten Region. Zur Kurve Kassel, die die Güterverkehre in der Mitte Deutschland beschleunigen soll, muss eine Variante gewählt werden, die gut mit den bestehenden und gegebenenfalls perspektivisch zunehmenden Personen- und Güterverkehren vereinbar ist und deren Kosten im Rahmen bleiben. 

Herr Dr. Klein-Zirbes, Sie hatten es schon kurz angesprochen: Wir können das Gespräch nicht beenden, ohne auf die aktuellen Entwicklungen im Hinblick auf das IHK-Gesetz einzugehen. Bitte eine kurze Meinung von Ihnen.
Da sprechen Sie eine Thematik an, die sehr komplex ist und Auswirkungen auf unsere Gesamtorganisation hat. Hintergrund ist eine Klage eines Mitgliedsunternehmens einer IHK. Es hat gegen seine IHK auf Austritt aus dem Deutschen Industrie- und Handelskammertag (DIHK) geklagt. Das Bundesverwaltungsgericht hat im Oktober 2020 die betreffende IHK verurteilt, aus dem DIHK auszutreten, weil dieser wiederholt seine Kompetenzen überschritten habe. Die Grenze dessen, was noch Wirtschaftspolitik ist und was nicht, haben die Richter zudem sehr eng gezogen und den IHKs und dem DIHK als Spitzenorganisation wirtschaftspolitische Äußerungen erschwert.

Auf diese Rechtsprechung hat das Bundeswirtschaftsministerium nun mit dem Entwurf einer Gesetzesanpassung reagiert und möchte zum einen den DIHK in eine „Körperschaft des öffentlichen Rechts“ überführen. Die Folge wäre eine Pflichtmitgliedschaft aller IHKs beim DIHK. Zum anderen möchte das Bundeswirtschaftsministerium auch den Kompetenzrahmen für wirtschaftspolitische Äußerungen von IHKs und DIHK wieder auf das vom Gesetzgeber ursprünglich vorgesehene Maß zurückführen. 

Diese Initiative zeigt das Interesse der Politik an einer stabilen und auf allen Ebenen sprachfähigen IHK-Organisation. Unser Renommee ist hoch und die Aktivitäten der IHKs im Rahmen der Corona-Krise haben dieses weiter gestärkt.

Ohne einen starken DIHK würde es für die Industrie- und Handelskammern kaum möglich, Gehör in Brüssel oder Berlin zu finden. Zudem könnten wir nicht auf das wichtige Netzwerk der Auslandshandelskammern zugreifen. Jetzt sind wir auf die tatsächliche Ausgestaltung des Gesetzentwurfs gespannt und werden dann in die Diskussion über die zukünftige Satzung des DIHK eintreten. Hier werden wir die Interessen im Sinne unserer Mitglieder deutlich artikulieren und uns dazu eng mit allen hessischen IHKs abstimmen.