BSC-Prozess

Alltag in der IHK: Der Maschinenbauer Müller ruft aufgeregt den Geschäftsführer seiner Industrie- und Handelskammer wegen der Baugenehmigung für die Hallenerweiterung an: "Die Maschinen stehen vor der Tür, Stillstandszeiten drohen, die Stellungnahme der IHK wird dringendst benötigt". Eine halbe Stunde später: ein Auszubildender erscheint mehrfach nicht im Unternehmen, die Abmahnungen blieben wirkungslos, es steht kurz vor Auflösung des Ausbildungsvertrages, so daß der Ausbilder die IHK um Schlichtung anfragt. Dann sind da auch komplexere Fragen dabei: Was unternimmt die IHK als Interessenvertreter, gerade der kleinen und mittleren Unternehmen, gegen die steuer- und sozialpolitischen Operationen der neuen Regierung? Oder: Das Problem neu auszuweisender Gewerbegebiete, mit all den Einwänden der verschiedensten Interessengruppen. Wo steht die IHK hier beim Konflikt "Grüne Wiese" vs. Innenstadt?
Diesen Alltag kennt jede IHK. Genau wie jedes Unternehmen muß die IHK in der Lage sein, neue und routinemäßige, komplexe und anspruchsvolle Fragen, die in unterschiedlicher Häufigkeit auftreten, kunden- und zeitorientiert zu lösen. Dafür steht eine funktionierende Organisation. Aber gerade für eine langfristige und konsistente Ausrichtung ist eine klar erkennbare Strategie unerläßlich. Um diese Strategie zu entwickeln, ist eine mitunter schmerzliche Selbstkritik genau so notwendig wie der Wunsch, sich ständig zu verbessern und die Abläufe zu optimieren.
Industrie- und Handelskammern stehen, wie auch viele Unternehmen, vor Problemen in der Führung und Steuerung ihres Geschäftes:
  • Die Prioritäten sind nicht klar erkennbar, es wird "alles ein bißchen gemacht".
  • Die Informationsflut erdrückt die Führungskräfte immer mehr (Wer kann heute allein seine gesamten e-Mails lesen und beantworten?).
  • Ziele und die Zielerreichung werden nicht quantifiziert.
  • In manchen Fällen ist gar nicht klar, nach welchen Kriterien überhaupt gesteuert wird.
  • Ziele der Organisation und Mitarbeiterziele sind nicht miteinander verknüpft.
  • Die Geschäftstreiber ("Warum sind wir als IHK oder AHK morgen erfolgreich?") werden nicht systematisch diskutiert.

Erste deutsche IHK mit Balanced Scorecard

Die Balanced Scorecard wird in vier Schritten in der Industrie- und Handelskammer Gießen-Friedberg eingeführt.
  1. Strategische Ziele formulieren: Wir haben die wichtigsten Themen der IHK Gießen-Friedberg formuliert und nach Prioritäten geordnet. Die Ziele kommen aus den Bereichen wirtschaftspolitischer Auftrag (zum Beispiel: "Marktführerschaft in politischer Interessenvertretung ausbauen"), interne Prozesse ("Ablauforganisation optimieren"), Kunden ("Kundennutzen erhöhen") und Potentiale ("Personalentwicklung ausbauen"). Anschließend haben wir die Ziele der Geschäftsbereiche hieraus abgeleitet. So ist ein integriertes Zielsystem entstanden.
  2. Kennzahlen ermitteln: Mit ergebnisorientierten Kennzahlen wird deutlich, in welchem Ausmaß die Geschäftsbereiche ihre Ziele erreichen.
  3. Zielwerte festlegen: Für jede Kennzahl definieren wir Zielwerte, die zugleich ambitioniert und erreichbar sind, für die nächsten Jahre. Damit entsteht ein Fahrplan für die Ausrichtung der Industrie- und Handelskammer und ihre Geschäftsbereiche.
  4. Maßnahmen ableiten: Dieser Fahrplan wird auf der Maßnahmenebene weiter konkretisiert. Hier wird ganz "handfest" definiert, welche Aktivitäten von wem zu erledigen sind, um die strategischen Ziele zu erreichen.
  5. Für Hauptgeschäftsführer Dr. Matthias Leder bringt der Einführungsprozeß vielfältige Nutzeneffekte mit sich: "Wir haben sehr strukturiert über unsere Arbeit nachgedacht und die wichtigsten Themen aus Kundensicht priorisiert. Unsere Ziele und unsere Ausrichtung sind jetzt klar und transparent - nach innen in Richtung Mitarbeiter genauso wie nach außen in Richtung Unternehmen, Kooperationspartner und Medien. Schließlich geht mit der BSC-Einführung ein hohes Maß an Selbstverpflichtung und Verbindlichkeit einher."

Typische Fehler bei der Einführung von Balanced Scorecards vermeiden

Erstens: Basisdemokratie statt klarer Führung - die Einrichtung eines Führungssystems ist Chefsache!
Zweitens: Führungssystem im luftleeren Raum - konkretisieren Sie ihr langfristiges, strategisches Profil, und leiten Sie das Zielsystem daraus ab!
Drittens: Konsensdrang statt Prioritäten - konzentrieren Sie sich auf maximal 20 strategische Ziele!
Viertens: Perfektion statt Beginn - fangen Sie an, auch wenn Sie sich noch nicht auf alle Kennzahlen, Zielwerte oder Maßnahmen verständigt haben!
Fünftens: Versanden in der Umsetzung trotz guter Konzeption - benennen Sie Verantwortliche für die Umsetzung der Maßnahmen, und lassen Sie sich regelmäßig, z.B. monatlich, über den Stand der Umsetzung und etwaige Schwierigkeiten berichten!
Sechstens: Kopie statt Original - jedes Führungssystem sieht anders aus und muß die Spezifika der jeweiligen IHK oder AHK berücksichtigen.
Dr. Torsten Schumacher ist Partner und Geschäftsführer bei der Unternehmensberatung Accenture. Dr. Carola Vogt ist Gründerin und Inhaberin der Dr. Vogt Unternehmensberatung. Die beiden Unternehmensberater unterstützen die IHK Gießen-Friedberg bei der Einführung der Balanced Scorecards. Das Modell wurde gemeinsam mit der IHK-Geschäftsführung während mehrerer Strategie-Workshops diskutiert und auf die IHK-Realität spezifiziert. Im Rahmen der Herbstvollversammlung des DIHK in Fulda wurde es am 23. Oktober 2002 den deutschen Industrie- und Handelskammern präsentiert.
 
Von Dr. Torsten Schumacher und Dr. Carola Vogt
Stand: 04.01.2023