Jahresempfang der IHK Gießen-Friedberg

Innovativ in herausfordernden Zeiten Das Thema Energiewende und eng damit verbunden eine sichere Energieversorgung standen im Fokus des Jahresempfangs der IHK Gießen-Friedberg. Rund 800 Gäste aus dem In- und Ausland nutzten die Gelegenheit zum Netzwerken und intensiven Austausch.
VON PETRA A. ZIELINSKI
Wie sehr das Thema Energiewende Unternehmen unter den Nägeln brennt, zeigte die hohe Beteiligung am diesjährigen Jahresempfang der IHK Gießen-Friedberg im Vilco Kongresszentrum Bad Vilbel. In der Hessentagsstadt 2025 wurde den Besuchern nicht nur ein hochinteressanter, inspirierender Festvortrag, sondern auch eine spannende Podiumsdiskussion mit hochkarätigen Experten aus Wissenschaft und Industrie geboten. „Wir möchten Brücken zu anderen Ländern schlagen“, hieß IHK-Hauptgeschäftsführer Matthias Leder Gäste aus zwölf Nationen und vier Kontinenten auf Englisch und Portugiesisch willkommen. Rund 800 Unternehmerinnen und Unternehmer sowie Repräsentanten aus Wirtschaft, Politik und Verbänden Mittelhessens waren der Einladung der IHK gefolgt.

Der Weltmarkt ist die Lösung

Mit Menschen gefüllte Festhalle, alle Sitzplätze belegt, Reihen ansteigend
Festredner, Moderatorin, Hauptgeschäftsführer, Präsident und dreimal geballte Wirtschaftskraft: Das Podium beim diesjährigen Jahresempfang. © Andreas Bender, www.andreas-bender.de
IHK-Präsident Rainer Schwarz hob die Bedeutung des Hessentags für Bad Vilbel als „Schub für Investitionen, Innovationen und Identität in der gesamten Region“ hervor. In seiner Begrüßungsrede bedankte er sich bei den Unternehmerinnen und Unternehmern im Bezirk dafür, dass sie „in herausfordernden Zeiten täglich Innovationskraft, Flexibilität und Widerstandsfähigkeit“ beweisen. „Die Herausforderungen sind groß, aber lösbar“, fasste Rainer Schwarz die aktuelle Situation zusammen. Derzeit betrachte jedes zweite Unternehmen im Bezirk der IHK Gießen-Friedberg die wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen als Geschäftsrisiko. Haupthemmnisse seien neben einer nachlassenden Inlandsnachfrage die mangelnde Wettbewerbsfähigkeit durch hohe Energie- und Rohstoffpreise, eine ausufernde Bürokratie sowie der Fachkräftemangel. Trumps Zollpolitik zum Trotz stelle der Weltmarkt die Lösung und nicht das Problem dar. Die deutsche Wirtschaft sei in hohem Maße exportorientiert, jeder vierte Arbeitsplatz hänge vom Export ab.
„Unsere Energiepreise zählen zu den höchsten weltweit“, bemängelte Rainer Schwarz und forderte Transparenz, die zeige, was es koste, Strom jederzeit bereitzustellen. „Strom ist nicht mehr konstant vorhanden.“ Dunkelflauten, also bewölktes Wetter ohne Wind, erforderten den Stromzukauf aus dem Ausland. Bei windigem Sommerwetter hingegen müsse der Strom ins Ausland abgeleitet werden. An dieser Stelle sprach sich der IHK-Präsident für genügend gesicherte Leistung aus Back-up-Kraftwerken aus, „die einspringen, wenn das Wetter nicht mitspielt“. Die Stromsteuer nahezu abzuschaffen und die Übertragungsnetzentgelte zu halbieren, seien erste Schritte, die für die Entlastung von Unternehmen sorgen könnten. Der in Hessen geplante Ausbau von erneuerbaren Energien müsse mit einem starken Ausbau des Stromnetzes einhergehen. Dabei seien Flexibilitäten – Energiespeicher, flexibler Verbrauch, Wasserstoffkraftwerke –, die Angebot und Nachfrage ausgleichen, zwingend erforderlich.
„Wir brauchen einen Staat, der dem Markt auch in Sachen Energieversorgung wieder eine Chance gibt“, forderte Rainer Schwarz.

Fachkräftegewinnung

Auch der Abbau überflüssiger Vorschriften und die Vereinfachung von Verwaltungsprozessen stellen für die IHK ein zentrales Anliegen dar, führte Rainer Schwarz weiter aus. Im Koalitionsvertrag hätten sich Union und SPD auf ein Sofortprogramm für den Bürokratieabbau verständigt. Um die demografischen Herausforderungen zu meistern, sei es wichtig, in Arbeitskräfte zu investieren und durch gezielte Zuwanderung Fachkräfte für den deutschen Markt zu gewinnen. „Zu einem erfolgreichen Wirtschaftsmodell gehören Fachkräfte und Qualifizierung einfach dazu und die duale Ausbildung ist das Markenzeichen der IHKs.“ Um Unsicherheiten bei der Akquise internationaler Fachkräfte abzubauen, lädt die IHK Gießen-Friedberg am 26. Juni dieses Jahres zu einer neuen Fachkräfte-Messe in die Gießener Kongresshalle ein.
Weitere Handlungsbedarfe für die neue Bundesregierung sieht Rainer Schwarz unter anderem in einer Senkung von Unternehmenssteuer und Lohnnebenkosten sowie in einer Diversifizierung von Handelsbeziehungen. „Mit politischen Rahmenbedingungen, die den Wettbewerb fördern und nicht behindern, innovativen und flexiblen Unternehmen können wir die Herausforderungen gemeinsam meistern.“

„Energie-Hunger“ stillen

„Selbst wenn wir Deutschland als Industrienation abschaffen würden, hätte dies bei zwei Prozent Anteil an den globalen Emissionen keinen Einfluss auf den Klimawandel“, stellte Harald Schwarz, Universitätsprofessor (a.D.) für Energieverteilung und Hochspannungstechnik, gleich zu Beginn seines Festvortrags klar. Vielmehr würden „zuverlässige, nachhaltige, bezahlbare und damit exportierbare Technologien“ gebraucht, um den massiv gestiegenen „Energie-Hunger“ einer Weltbevölkerung, die sich in den letzten 200 Jahren fast verzehnfacht habe, mit deutlich geringeren CO2-Emissionen zu befriedigen.
Leider habe sich die Energiewende in Deutschland bislang immer nur auf den Stromsektor konzentriert, der mit 24 Prozent den kleinsten Anteil an der Endenergienutzung aufweise. Durch die minimale Speicherkapazität müssten für eine sichere Stromversorgung zu jedem Zeitpunkt die Erzeugung und der Verbrauch ausbalanciert sein. Um dies minutenscharf zu ermöglichen, sei die gern genutzte Quote der Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien ungeeignet, vielmehr gelte es, sich auf die Leistungswerte zu konzentrieren.
Durch den Ausbau erneuerbarer Energien bei gleichzeitigem Ausstieg aus Kernkraft und Kohleverstromung ergäbe sich eine hohe Abhängigkeit von Stromimporten. Das europäische Verbundnetz sei in den zurückliegenden Jahren immer mal wieder durch zu großen transeuropäischen Stromhandel überlastet worden. Als Beispiel hierfür nannte Harald Schwarz die Störfälle in Italien 2003, in Deutschland 2006, auf dem Balkan 2021 und 2024 sowie in Spanien 2025. Während sich Deutschland bis 2017 noch zu jedem Zeitpunkt aus eigener Kraft habe versorgen können, hätten sich ab 2022 erste größere Zeiträume in Dunkelflauten, in denen die eigene Erzeugungsleistung nicht mehr ausgereicht habe, gezeigt. „Seit 2024 sind sehr oft lange Zeiträume im Jahr sichtbar, in denen wir Strom im Ausland einkaufen mussten und zwar zu jedem Preis.“

Gesicherte Leistung

Da die Stromproduktion zwingend der Stromabnahme folgen müsse, forderte Harald Schwarz, dass sich die gesicherte – sprich jederzeit verfügbare – Erzeugungsleistung wieder stärker an der Höchstlast in Deutschland orientieren müsse. „Die meisten Anlagen der konventionellen Erzeugung haben bei guter Wartung und verfügbarer Primärenergie eine gesicherte Leistung von 90 Prozent der installierten Leistung“, führte er aus. Bei Biomasse läge der Wert hingegen bei 65 Prozent, bei Wasserkraft aufgrund vieler trockener Sommer nur noch bei 25 Prozent und bei Photovoltaik und Windenergie als „Hauptkomponenten der deutschen Energiewende“ bei 0 bis 2 Prozent.
Auch Tiefengeothermie oder Wasserkraft hätten in Deutschland nur ein geringes Potenzial für die großtechnische Stromerzeugung. Für eine Vervielfachung der Speicherkapazität in Pumpspeicherkraftwerken oder Druckgasspeicherkraft[1]werken fehlten hierzulande die geologischen Formationen. Auch stationäre Batteriespeicher oder Vehicle-to-Grid würden absehbar nur mit einem geringen Anteil zur Versorgung in einer Dunkelflaute beitragen können. Als „technisch machbar, aber teuer“ bezeichnete der Experte eine Zwischenspeicherung durch Wasserstofferzeugung und Rückstromversorgung in H2-ready-Gaskraftwerken.
Harald Schwarz wies darauf hin, dass gemäß Koalitionsvertrag neue Gaskraftwerke mit 20.000 Megawatt Leistung bis 2030 gebaut werden sollen. Das hält der Experte für unrealistisch: „Bei vier Jahren Bauzeit für solche Kraftwerke müsste ab Anfang 2026 mit dem Bau der gesamten 20.000 Megawatt gleichzeitig begonnen werden, um dieses Ziel bis 2030 zu erreichen.“ Viele Länder Europas setzten nach wie vor oder künftig erneut auf Kernenergie. Harald Schwarz hält es allerdings für unwahrscheinlich, dass Deutschland in den kommenden zehn Jahren wieder in die Kerntechnik einsteigt. Stattdessen geht er davon aus, dass die deutschen Kohlekraftwerke bis 2038 und gegebenenfalls auch danach noch in Betrieb bleiben, inklusive der daraus resultierenden CO2-Emissionen. „Wir waren bis 2010 weltweit führend in der Technologie zur CO2-Abspaltung, haben aber alles zurückgebaut und selbst wenn das Thema im neuen Koalitionsvertrag unter anderem auch wegen der geplanten Gaskraftwerke wieder auf der Agenda steht, werden wir zehn bis 15 Jahre brauchen, um hier wieder Technologietreiber zu werden. Die eine richtige Lösung gibt es nicht, sondern es muss ein Mix aus verschiedenen Lösungen sein, die aber den physikalisch-technischen Regeln für eine sichere Stromversorgung folgen und zusätzlich wirtschaftlich sein müssen.“

Bürokratie und Fachkräftemangel

„Die Bundesregierung sollte Unternehmen unternehmen lassen und ihnen nicht permanent bürokratische Hürden in den Weg stellen“, war das eindeutige Fazit der spannenden Podiumsrunde im Anschluss. „Bevor wir mit einem Bauprojekt starten können, müssen wir gefühlt eine Million Auflagen erfüllen“, bemängelte Sina Lupp, Gesellschafterin und Prokuristin bei der Adolf Lupp GmbH und Co. KG, Nidda. „Unsere Ressourcen würden wir lieber in Innovationen investieren.“ Aufgrund der vielen Auflagen – vom Lieferkettengesetz bis hin zur Datenschutz-Grundverordnung – sei das Unternehmen international nicht mehr wettbewerbsfähig. „Wir werden aber nicht aufgeben. Unser Ziel ist, unser Unternehmen an die fünfte Generation weiterzugeben.“
„Wir mussten Leute einstellen, die sich ausschließlich um die Erfüllung behördlicher Auflagen kümmern. Das Thema kostet uns Hunderttausende von Euro“, schloss sich Jörg Schulte, Geschäftsführer der Branopac GmbH, Lich, an. „Was die Geschwindigkeit betrifft, ist Deutschland mittlerweile komplett abgehängt.“ Während man in Deutschland mit höchstens 60 Kilometer pro Stunde unterwegs sei, fahre man in China 200. Auch in den Bereichen Automotive und Maschinenbau habe China Deutschland den Rang abgelaufen. So lange die Standortbedingungen nicht stimmen, plane Branopac zwar den Erhalt, aber keinen weiteren Ausbau der Produktion in Deutschland. Stattdessen baue das Unternehmen sein Werk in Indien aus und vertreibe die dort produzierten Produkte als Händler in Europa. „Das ist bei der aktuell überbordenden Bürokratie deutlich risikoärmer, als eine eigene Produktion in Deutschland.“ Auch mit Stromausfällen habe man in Deutschland zu kämpfen. „Wir hatten vier Stromausfälle, zwei davon während der Arbeitszeit, was zu erheblichen Schäden geführt hat. Es kann nicht sein, dass wir in einem Land wie Deutschland damit zu kämpfen haben“, kritisierte Jörg Schulte. Dass zu diesem Thema „viele richtige Stichworte“ im neuen Koalitionsvertrag stehen, unterstrich Harald Schwarz. Diese gelte es, jetzt noch mit Substanz zu füllen.
Mit bürokratischen Hürden haben auch Unternehmen zu kämpfen, die Fachkräfte aus dem Ausland akquirieren. „Dafür braucht man einen langen Atem“, erklärte Constanze von Alvensleben, Geschäftsführerin der F. A. Wobst GmbH & Co. KG, Gießen. Bereits das „beschleunigte Verfahren“ habe sechs Monate gedauert. „Uns Unternehmern dürfte man gern etwas mehr zutrauen“, forderte sie. Von ihrer ersten internationalen Fachkraft, einer jungen Frau aus Marokko, die bei Wobst eine Ausbildung zur Groß- und Außenhandelskauffrau macht, ist sie begeistert und hofft, dass andere Unternehmen ihrem Beispiel folgen und offen für andere Kulturen sind. Im Hinblick auf bis zu 20 Prozent unbesetzte Stellen im Unternehmen wünscht sich Constanze von Alvensleben mehr Unterstützung von der Bundesregierung. „Wir sollten dankbar sein, dass junge Talente aus dem Ausland bei uns in Deutschland arbeiten wollen. Ohne sie ist unser gesellschaftlicher Wohlstand nicht aufrechtzuerhalten.“
„Flexibilität ist das A und O“, bestätigte Rainer Schwarz im Hinblick auf Fachkräftemangel, Bürokratie und Willkommenskultur. Der IHK-Präsident erklärte, sich in Berlin für einen Bürokratieabbau einzusetzen, damit Unternehmer wieder freier agieren könnten.
„Es macht Spaß, wenn man über engagierte Vollversammlungsmitglieder verfügt“, bedankte sich Matthias Leder bei den Teilnehmern der Diskussion. Sein Dank galt neben dem Organisationsteam auch Moderatorin Lis Blume, die souverän durch den inspirierenden Abend geführt hatte.

The World meets in Giessen

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Stand: 12.06.2025