An den richtigen Schrauben drehen

Rainer Schwarz: Der Gießener Verkehrsversuch war ein herausragendes Thema 2023. Auch nachdem er vom Verwaltungsgerichtshof in Kassel gestoppt wurde, wird es weiter darum gehen, dass der motorisierte Individualverkehr nicht aus der Gießener Innenstadt verdrängt wird. Wie sollte es in diesem Jahr weitergehen?
Michael Kraft: Ein konstruktiver Dialog mit der Stadtspitze ist uns weiterhin sehr wichtig, wir sind jederzeit bereit, unsere Kompetenz einzubringen. Nur so wird es möglich sein, dass alle Interessen zum Tragen kommen. Damit meine ich, dass neben dem öffentlichen Personennahverkehr, dem Radverkehr und den Fußgängern auch der motorisierte Individualverkehr im Gesamtkonzept unbedingt berücksichtigt werden muss.
Rainer Schwarz: Wie haben Sie die ja auch recht angespannte Situation in Gießen erlebt? Michael Kraft: Leider gab es im innerstädtischen Einzelhandel massive zweistellige Umsatzeinbußen. Diese Branche hatte ja bereits immense Einbußen durch die Corona-Pandemie, kämpfte dann mit den hohen Energiekosten – und das Drama ging direkt mit dem Verkehrsversuch in den nächsten Akt.
Wie kann man angesichts einer solchen Konstellation noch erwarten, dass es nicht zu einer aussterbenden Innenstadt kommt?
Rainer Schwarz: Die Energiekosten sind in jeder Branche eine große Herausforderung und ein Grund, warum sich Deutschland mittlerweile am unteren Ende der Wachstumsskala im OECD-Vergleich mit allen anderen Industrienationen befindet. Das aktuelle Strompreispaket der Bundesregierung für 350 stromintensive Unternehmen ist ein erster Schritt, ändert aber nichts an der konfusen Energiepolitik und spart zudem den Mittelstand wie Handel und Dienstleistungen aus. Die Dimension der volkswirtschaftlichen Tragbarkeit der Energiepreise erfordert dringend eine umfassende Preisreform.
Michael Kraft: Wohl wahr! In dieser wirklich herausfordernden Zeit brauchen wir Signale, die uns als Unternehmern wieder Mut geben. Schon jetzt sind die Unternehmen in ihren Investitionen sehr zurückhaltend.
Die IHK Gießen-Friedberg setzt hierbei auch auf das Thema Steuern?
Rainer Schwarz: Die IHK hat beim Thema Steuern die Federführung für die hessischen IHKs inne. Daher sind wir bei diesem Thema natürlich besonders gefordert und dementsprechend sehr aktiv. Mit unserer Resolution „Einkommensteuertarif auf Rädern“ wollen wir eine Wende in der Steuerpolitik bewirken. Mit einem solchen Tarif würden sich die Werte, die für die Besteuerung maßgeblich sind – so etwa der Grundfreibetrag, Grenzwerte für die Steuerprogression oder Pauschalen – automatisch an die jährliche Inflationsrate anpassen. Für Arbeitnehmer wäre das ein gerechteres System, und Unternehmer müssten nicht infolge hoher Preissteigerungen deutlich höhere Löhne und Gehälter zahlen. Diese Initiative wollen wir bis nach Berlin tragen – das wäre ein Meilenstein und könnte den Unternehmen wirklich Mut machen.

„Das aktuelle Strompreispaket der Bundesregierung für 350 stromintensive Unternehmen ist ein erster Schritt, ändert aber nichts an der konfusen Energiepolitik und spart zudem den Mittelstand wie Handel und Dienstleistungen aus. Die Dimension der volkswirtschaftlichen Tragbarkeit der Energiepreise erfordert dringend eine umfassende Preisreform.“ Rainer Schwarz

Stand: 23.01.2024