Resolution der IHK: Verantwortungsvoll mit dem Corona-Virus leben – eine Öffnungsperspektive jetzt!
Präambel
Die Corona-Pandemie hat die Bundesrepublik Deutschland (BRD) in die größte gesundheitliche, soziale und wirtschaftliche Krise seit dem 2. Weltkrieg gestürzt. Nie zuvor wurden Grundrechte zugunsten des Bevölkerungsschutzes so massiv eingeschränkt wie heute. Auch jetzt anstehende Einschränkungen der Verfassung, die durch Ausgangssperren drohen, müssen dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügen und auf einer wissenschaftlich soliden Basis stehen.
Die nachfolgenden Thesen bauen auf der Erkenntnis auf, dass die Robert-Koch-Institut (RKI)-Statistik das tägliche Corona-Infektionsgeschehen unzulänglich abbildet. Solange repräsentative Stichproben als Goldstandard noch nicht verfügbar sind, sollte hilfsweise auf andere, leicht zu bestimmende und vermittelbare Messgrößen zurückgegriffen werden.
These 1
Das RKI bestimmt täglich einen Inzidenzwert. Das RKI versteht darunter die Zahl der Personen, bei denen unabhängig von einer Erkrankung mittels eines Diagnostiktests SARS-Coronavirus-2-Partikel nachgewiesen werden konnten bezogen auf 100.000 Einwohner. Dieser Wert unterliegt zunehmend schwankenden Erfassungswahrscheinlichkeiten, die völlig unabhängig vom eigentlichen Infektionsgeschehen sind, wie die beiden renommierten Wissenschaftler Detlev Krüger und Klaus Stöhr festgestellt haben. Asymptomatisch Infizierte, die gleichwohl eine hohe Viruslast mit sich herumschleppen können, fallen häufig durchs Testraster.
Das Vorgehen des RKI ist vergleichbar mit der Situation, im mit 60.000 Zuschauern gefüllten Fußballstadion des FC Bayern München eine demoskopische Meinungsumfrage durchzuführen. Im Fall des Fußballstadions ist die Stichprobe nicht repräsentativ, u.a., weil die Fußballfans gegenüber den Nichtfußballfans überrepräsentiert sind, (noch) mehr Männer als Frauen im Stadion sind und die Zuschauer in München und Umgebung mit größter Wahrscheinlichkeit andere politische Präferenzen haben als z.B. die Wähler in Berlin, Hamburg und der gesamten BRD.
Die Zahlen des RKI sind nicht repräsentativ, um das Infektionsgeschehen in der BRD abzubilden. Wer die Inzidenzwerte als „Mutter aller Zahlen“ zur Begründung von Grundrechtseinschränkungen heranzieht, tut dies nicht auf einer wissenschaftlichen Basis. Da der R-Wert auf der korrekten Bestimmung der Inzidenzen über 7 Tage aufbaut, sind auch die bisher veröffentlichten R-Werte nicht belastbar.
These 2
Wissenschaftsbasierte politische Entscheidungen zur Beschreibung des Corona-Infektionsgeschehens sollten an wissenschaftlichen Erkenntnissen der modernen Statistik anknüpfen. Es führt kein Weg daran vorbei, systematische, repräsentative Corona-Tests genauso durchzuführen, wie regelmäßige demoskopische Umfragen mit Hilfe repräsentativer Bevölkerungsstichproben vorgenommen werden, um die politische Lage in der BRD zu erkunden. Die Meldedaten und die Expertise der statistischen Ämter wären bei weitem ausreichend, um täglich Tests an einer repräsentativen Bevölkerungsstichprobe zu planen. Eine solche Vorgehensweise würde es erlauben zu erfassen, in welchen Altersgruppen, Lebensräumen und Bevölkerungsgruppen Infektionen auftreten. Die Kenntnis über den Ursprung von Infektionsherden ist besonders wichtig, wenn man die Pandemie effizient eindämmen will.
Für den Fall, dass man repräsentative Tests kurzfristig nicht umsetzen kann, sollte man nächstbeste Lösungen heranziehen. Eine leicht zu bestimmende und vermittelbare Messgröße wäre in Anlehnung an Detlev Krüger/Klaus Stöhr die tägliche Anzahl der COVID-bedingten intensivstationären Neuaufnahmen, differenziert nach Landkreis des Patientenwohnortes, Alter und Geschlecht und daraus abgeleiteten zeitlichen Trends. Noch einfacher, aber dafür viel weniger aussagekräftig, wären Testpositivenquoten, die mit Zusatzinformationen versehen werden, wie das Katharina Schüller vorschlägt.
These 3
Befürworter von strikten Lockdowns bewerten die Kosten jeder anderen Alternative als extrem hoch bis gegen unendlich, was der vorliegenden Corona-Pandemie nicht (mehr) gerecht wird. Im März 2020 mag diese Strategie angesichts der Situation aus Bergamo und New York noch nachvollziehbar gewesen sein. Heutzutage wird eine derartige Null-eins-Strategie den verfügbaren Handlungsmöglichkeiten nicht mehr gerecht. Lockdowns sollten nur die ultima ratio sein, wenn einem keine anderen Handlungsmöglichkeiten mehr zur Verfügung stehen.
Vor dem Hintergrund, dass das Corona-Virus wie jedes Virus mutiert, um langfristig zu überleben, wird es sehr unwahrscheinlich sein, das Corona-Virus komplett auszurotten. Es wird in der Zukunft deshalb darum gehen, dass Gesellschaften lernen, mit dem Virus in Verantwortung zu leben. Dies bedeutet, dass sich Gesellschaften einerseits wieder dem normalen Leben zuwenden sollten, andererseits die Gefahren durch Corona-Viren ständig im Auge behalten sollten und dabei Verhaltensweisen fördern, die ein Ausbreiten von Infektionen in Schach halten.
These 4
Die Unternehmen in der Wirtschaft sind sich der hohen Bedeutung von anspruchsvollen Hygienestandards zur Verhinderung der Verbreitung von Corona-Viren bewusst. Deshalb haben Branchen, deren Geschäftsmodell auf der Zusammenkunft vieler Menschen beruht, wie z.B. die Veranstaltungsbranche, frühzeitig innovative Hygienekonzepte entwickelt, die wissenschaftlich gestützt und unter Einbeziehung moderner Digitalisierungstechnik sehr hohe Sicherheitsstandards gewährleisten. Als ein Ergebnis dieser Anstrengungen entstand der bundesweit erste Zertifikatslehrgang „Fachbeauftragter für Hygiene im Veranstaltungswesen“ im Bezirk der IHK Gießen-Friedberg.
Wir fordern die Politik auf, innovativen Hygienekonzepten im Veranstaltungsbereich eine faire Chance zu geben. Die Wirtschaft ist in der Lage, Digitalisierung in Hygienekonzepte so einzubauen, dass eine Nachverfolgbarkeit nicht zur Überforderung der Veranstalter führt. Einzelhändler aus dem Nichtlebensmittelbereich - wie zum Beispiel Möbelhändler oder dem Oberbekleidungshandel - gewährleisten die Hygiene genauso gut wie die von der Politik als systemrelevant erkannten Lebensmitteleinzelhändler. Dasselbe gilt z. B. für die Hotellerie, Gastronomie und Unternehmen der Reisebranche, die insgesamt Milliardenbeträge in innovative Hygienekonzepte investiert haben und sich in dramatischen Existenznöten befinden. Deshalb muss diesen Branchen jetzt eine faire Öffnungsperspektive angeboten werden. Außerdem ist ein zusätzlicher finanzieller Ausgleich für den erlittenen Schaden für besonders vom Lockdown betroffene Branchen unerlässlich.
These 5
Die Corona-Krise wirkt wie ein Brennglas. Fehlentwicklungen der vergangenen Jahrzehnte werden in brutaler Deutlichkeit aufgedeckt und Schwächen des Staates BRD für jedermann sichtbar. Während vor allem südostasiatische Staaten wie Südkorea oder Taiwan über eine ausgeklügelte Teststrategie verfügen, steckt Deutschland hier noch in den Kinderschuhen. Das planlose Testen während der Sommerferien 2020 verdeutlichte, dass eine Teststrategie nicht vorliegt und dadurch wertvolle Zeit verschenkt wurde. Ebenfalls bemerkenswerte Rückstände bestehen im Bereich der Digitalisierung des Gesundheitswesens. Meldungen per Fax oder unzureichende elektronische Vernetzung der Gesundheitsämter zeigen, dass großer Nachholbedarf besteht.
Eine grundsätzliche Entscheidung über die finanzielle Ausstattung des Gesundheitssystems muss bald erfolgen. Die Pandemie hat aufgezeigt, dass das Gesundheitssystem die Kürzungen der vergangenen Jahre schlecht verkraftet hat, der Pflegebereich personell unterbesetzt und finanziell zu schlecht vergütet ist und vor allem die Intensivstationen Engpassfaktoren von nationaler Tragweite darstellen. Lockdowns als Folge von überlasteten Intensivstationen darf es in Zukunft nicht mehr geben!
Eine Runderneuerung des Staates ist dringend erforderlich! Die Wirtschaft ist bereit, ihren Beitrag dazu zu leisten. Unternehmer zeichnen sich dadurch aus, dass sie etwas unternehmen, Risiken tragen und Verantwortung übernehmen. Wirtschaft darf dann aber in Krisenzeiten auch nicht mehr als nachrangig gegenüber gesundheitspolitischen Belangen gesehen werden. Gesundheitliche, wirtschaftliche und soziale Kosten von Pandemien lassen sich künftig nur schultern, wenn Politik und Wirtschaft sich auf Augenhöhe begegnen und achten.
Resolution beschlossen am 20.04.2021
Stand: 20.09.2023