Interview

„Ausbau der Windenergie an Land erlebt schwerste Zeit seit Start des EEG“

Der European Green Deal als Wachstumsstrategie für die Wirtschaft? Viele Unternehmen und Wirtschaftszweige sehen das kritisch, denn die damit verbundene Reduzierung der Treibhausgasemissionen ist vielfach mit neuen Regulierungen und zusätzlichen Kosten verbunden. Für Dr. Marie-Luise Wolff, Vorstandsvorsitzende der Entega AG aus Darmstadt, ist der Green Deal richtungsweisend. Im Interview mit der IHK Darmstadt erklärt sie unter anderem, was sie an der Strategie der EU überzeugt und warum der Ausbau von Windenergie in Deutschland nur schleppend vorankommt.
Autor: Stephan Köhnlein, 25. Mai 2020
IHK: Was bedeutet für Sie der European Green Deal?
Dr. Marie-Luise Wolff: Der Green Deal ist richtungsweisend: Er ist ein kompletter Umbau der Sektoren Energie, Industrie, Verkehr und Landwirtschaft, um das EU-Ziel Klimaneutralität bis 2050 zu erreichen. Wir werden die globale Erderwärmung nur dann auf unter zwei Grad begrenzen können, wenn alle EU-Staaten an einem Strang ziehen. Deshalb ist die Initiative der EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen unverzichtbar.
IHK: Wie wird sich die Corona-Krise Ihrer Einschätzung nach auf die Umsetzung der energiepolitischen Ziele des Green Deals auswirken?
Dr. Marie-Luise Wolff: Der Green Deal bleibt für mich die europäische Wachstumsstrategie. Er ist ein unverzichtbares Konjunkturpaket, das mithilfe privaten Kapitals eine europaweite Investitionswelle auslösen soll, und zwar auf Basis klimafreundlicher Technologien. Genauso wie im Bund brauchen wir auch auf europäischer Ebene einen echten Investitionsschub für den Ausbau der Windenergie auf See und eine technologieoffene Vernetzung der Sektoren Wärme und Verkehr.
IHK: In welchen Bereichen sind die CO2-Emissionen seit 1990 am stärksten gesunken, wo hat sich nichts getan?
Dr. Marie-Luise Wolff: In der Energiewirtschaft haben wir zum sechsten Mal in Folge die CO2-Emissionen gesenkt. Letzte Berechnungen, die das Jahr 2019 einschließen, bescheinigen uns eine Minderung um 44 Prozent gegenüber 1990. Damit hat die Energiewirtschaft das 40-Prozent-Ziel für 2020 bereits im letzten Jahr deutlich übertroffen. Auch die Industrie und der Gebäudesektor haben im Vergleich zu 1990 erhebliche Einsparungen erzielt. Allein der Wärmemarkt hat seit 1990 seine CO2-Reduktionen ebenso um 44 Prozent gesenkt. Sorgenkind ist und bleibt der Verkehrssektor, er ist nach der Energiewirtschaft der zweitgrößte Emittent von Treibhausgasen. Mit 164 Millionen Tonnen im Jahr 2018 liegen sie nach aktueller Veröffentlichung des Umweltbundesamtes nur 0,6 Prozent oder eine Million Tonne unter dem Niveau des Jahres 1990. So wird der Verkehrsbereich das Ziel von 55 Prozent weniger Treibhausgasemissionen bis 2030 zu erreichen, klar verfehlen.
IHK: Wie soll aus den höheren CO2-Einsparungszielen des Green Deal eine Wachstumsstrategie für die EU werden? Insbesondere die Industrie, vor allem die energieintensive Industrie wird das treffen. Und die EU und Deutschland sind sehr industriestark. Das ist unser Wettbewerbsvorteil im globalen Markt. Droht das nicht kaputt zu gehen?
Dr. Marie-Luise Wolff: Höhere CO2-Einsparungsziele für die Europäische Union für 2030 von derzeit 40 auf 50 bis 55 Prozent sind nur ein kleiner Teil des European Green Deal. Diese Einsparungsverpflichtungen werden flankiert mit Investitionsprogrammen, beispielsweise einer europäischen Wasserstoffstrategie für die energieintensive Industrie. Die bisher noch CO2-intensive Industrie ist längst einen Schritt weiter: Sie ist bereit für eine CO2-Reduktion und erneuerbare Energien. Gerade in Deutschland gehen wir derzeit mit der neuen CO2-Bepreisung im Verkehrs- und Wärmesektor dafür auch wirtschaftspolitisch den richtigen Weg.
IHK: Welche Anreize motivieren Unternehmen aus Ihrer Sicht am besten, von sich aus stärker zum Klimaschutz beizutragen? Welche Vorgaben durch die Politik sind kontraproduktiv?
Dr. Marie-Luise Wolff: Die aktuellen Förderprogramme aus dem Klimaschutzpaket wie die Austauschprämie für Ölheizungen sind sinnvolle Maßnahmen, um schnell klimawirksame Investitionen auszulösen. Auch die Zuschüsse und Steuererleichterungen für Elektroautos und der nötigen Infrastruktur bieten derzeit viele Anreize für Unternehmen ihre CO2-Fußabdrücke zu reduzieren, zumal wir im Mobilitätssektor deutlichen Nachholbedarf haben. Das Ganze macht aber nur Sinn, wenn der Strom für die Elektroautos aus erneuerbaren Quellen stammt. Betrachtet man die Gestehungskosten, dann ist Strom aus Erneuerbaren Energien derzeit der günstigste Energieträger. Gleichzeitig ist Strom aber stark mit Steuern, Abgaben und Umlagen belegt. Mehr als 53 Prozent beträgt der staatliche Anteil am Strompreis. Eine drastische Senkung der EEG-Belastung um mindestens 2 Cent je Kilowattstunde wäre dringend vonnöten.
IHK: Warum geht der Ausbau speziell der Windenergie in Hessen nicht schneller voran? Was muss sich ändern?
Dr. Marie-Luise Wolff: Der Windenergieausbau an Land erlebt im Moment seine schwerste Zeit seit dem Start des Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) im April 2000. Das ist kein hessisches Problem. Vielfach liegen die Gründe an internen Machtdebatten in der Politik. Das Natur- und Artenschutzrecht lässt sich deutlich vereinfachen, ohne den Schutzstatus von Tier- und Pflanzenarten herabzusetzen. Ein bundesweites Problem, das uns auch in Südhessen Steine in den Weg legt, sind überholte Restriktionen der Deutschen Flugsicherung. Noch immer verhindern die Schutzbereiche von 15 Kilometern rund um Bodennavigationsanlagen für Flugzeuge, sogenannte Drehfunkfeuer, Windkraftanlagen mit einer Gesamtleistung von fast fünf Gigawatt im ganzen Bundesgebiet. Auch drei unserer geplanten Windparkprojekte in Südhessen sind betroffen und deshalb nicht genehmigungsfähig. Ein Lösungsansatz wäre, dass sich die deutsche Flugsicherung zumindest an internationale Standards hält und den Mindestabstand auf zehn Kilometer senkt, anstatt den Ausbau der Windenergie unnötig zu behindern. Auch neue wissenschaftliche Methoden legen nahe, dass Windräder deutlich weniger Störpotenzial für Drehfunkfeuer bergen als bislang angenommen. In anderen EU-Ländern gelten noch deutlich geringere Abstände, ohne dass Probleme für die Flugsicherung bestehen. So beträgt in Belgien der Abstand sieben, in Spanien sogar nur drei Kilometer.
IHK: Wie kann die Energiewende gelingen, wenn sich politische und gesellschaftliche Ziele nicht decken? Man denke beispielsweise an die Windkraftgegner „Rettet den Odenwald“: Die wollen die Windräder nicht vor ihrer Haustür stehen haben. 
Dr. Marie-Luise Wolff: Es gibt wenige gesellschaftspolitische Projekte, die so viel Zustimmung in breiten Schichten der Bevölkerung genießen wie die Energiewende. Dabei ist allen klar, dass damit das bisherige zentrale Energiesystem jetzt ein regionales und dezentrales sein muss. Die günstigste Energie ist die, die lokal erzeugt und verbraucht wird. Nach neuesten Umfragen sind acht von zehn Bürgern klar für die Energiewende, finden aber die politische Umsetzung unzureichend. Vielen ist die Energiewende in ihrer jetzigen Form zu teuer und chaotisch gemanagt. Ein wichtiger Hebel, Bürger für lokale Projekte zu begeistern, sind frühzeitige und ernsthafte Beteiligungsmöglichkeiten für betroffene Anwohner, zum Beispiel in der Zusammenarbeit mit Bürgerenergiegenossenschaften. Es geht darum, zu zeigen, dass Energiewende ein Gemeinschaftsprojekt ist, an dem jeder teilhaben kann.
IHK: Herzlichen Dank für das Gespräch.

Der Green Deal – ein guter Deal für die Wirtschaft? 
Und unter welchen Voraussetzungen können die ohnehin ambitionierten Klimaziele der EU von einer Wirtschaft erreicht werden, die von den Auswirkungen der Corona-Pandemie gezeichnet ist? Was fordert die IHK, um die Auswirkungen auf die Gesamtwirtschaft so gering wie möglich zu halten? Mehr dazu lesen Sie im Schwerpunktthema der Ausgabe 3-2020 des Mitgliedermagazins „Wirtschaftsdialoge“. Sie sind Mitglied der IHK Darmstadt und erhalten das Magazin noch nicht? Kontaktieren Sie gern unsere Redaktion und abonnieren Sie die sechs Ausgaben jährlich kostenfrei: redaktion@darmstadt.ihk.de

Alice Sophie Thomas
Bereich: Unternehmen und Standort
Themen: Umwelt- und Energieberatung, Umwelt- und Energiepolitik