18. März 2022

Positionspapier „Sustainable Finance“

Unsere Gesellschaft steht vor zahlreichen Herausforderungen. Globalisierung und Digitalisierung machen die Welt zunehmend komplexer, der Klimawandel bewegt Politik, Wirtschaft und Bevölkerung zum Umdenken. Die Unternehmen in Südhessen handeln in diesem Kontext verantwortlich, um Klima und Umwelt zu schützen. Der Green Deal der EU-Kommission zeichnet den Weg zur Klimaneutralität vor. Dazu braucht es einen abgestimmten rechtlichen Rahmen, Digitalisierung und Kapital. Es gilt jetzt, die Maßnahmen zu synchronisieren, um den ökologischen Wandel der Wirtschaft zu ermöglichen. Die IHK Darmstadt hat deshalb die Position "Sustainable Finance" (nicht barrierefrei, PDF-Datei · 154 KB) vorgelegt, um betroffene Unternehmen in Südhessen zu informieren und zu unterstützen.

Sachstand

Der Investitionsbedarf zur Erreichung der Klimaschutzziele ist gewaltig. Der Investitionsplan für den Green Deal der EU zeigt, dass privates Kapital für eine klimafreundliche Wirtschaft durch Unternehmen entscheidend sein wird. Vor diesem Hintergrund entwickelt sich aktuell unter dem Begriff „Sustainable Finance“ ein komplexer Rechtsrahmen, mit dem Ziel, Kapital in nachhaltige wirtschaftliche Aktivitäten zu lenken. Dieser neue Rechtsrahmen besteht aus mehreren Rechtstexten:
  • EU-Taxonomie Verordnung: Einheitliches Klassifizierungsschema für wirtschaftliche Aktivitäten, die als nachhaltig deklariert werden können.
  • Delegierte Rechtsakte zur EU-Taxonomie: Definieren die technischen Überprüfungskriterien (Technical Screening Criteria) für jedes der sechs EU-Umweltziele.
  • Corporate Sustainability Reporting Directive (CSRD): Regulierung der nichtfinanziellen Berichtspflichten mit Blick auf Vorgaben für das Nachhaltigkeitsreporting.
  • Sustainable Finance Disclosure Regulation (SFDR): Vorgaben für Finanzdienstleister und Banken, um ihre Produkte unter ökologischen, sozialen und Governance-Aspekten (ESG Kriterien) zu bewerten und offenzulegen.
  • European Green Bond Standard (EUGBS): Freiwilliger Goldstandard für Nachhaltigkeitsanforderungen an grüne Anleihen

    Aufgrund der Verflechtungen zwischen den Regelwerken ergibt sich ein hochgradig komplexes Konstrukt zur nachhaltigen Regulierung des Finanzmarktes. Hinzu kommt ein dynamischer review-Prozess und eine gegebenenfalls anschließende Überarbeitung, die eine andauernde Weiterentwicklung begründet und zukünftig zu Verschärfungen führen kann.

Betroffenheit (Südhessen)

Die Auswirkungen der Rechtstexte unter „Sustainable Finance“ betreffen unmittelbar und mittelbar die gesamte Wirtschaft. Der Informationsbedarf über die Nachhaltigkeit einzelner Produkte, Wirtschaftsaktivitäten und Unternehmensstandorte steigt. Bisher war es nur für große Unternehmen erforderlich, einen nichtfinanziellen Bericht zu erstellen. Zukünftig sollen auch kleine und mittlere Unternehmen ab 250 Mitarbeitern einen Nachhaltigkeitsbericht ausweisen. Damit verdreißigfacht sich bundesweit voraussichtlich die Anzahl unmittelbar berichtspflichtiger Unternehmen von aktuell 500 auf 15.000. Darüber hinaus sind mittelbar zahlreiche Unternehmen betroffen, weil im Rahmen von Kundenbeziehungen und Lieferketten Auskunft über Nachhaltigkeitskriterien in einem rasant steigenden Umfang verlangt werden. Wenn nur jedes der 15.000 Unternehmen 100 Lieferanten aufgrund der Berichtspflicht um Auskunft bittet, ist statistisch rund die Hälfte der deutschen Unternehmen mittelbar berichtspflichtig.
Letztlich ist zu erwarten, dass zahlreiche Unternehmen von eingeschränkten Finanzierungskonditionen betroffen sind, weil ihre Branchenzugehörigkeit als nicht nachhaltig eingestuft werden kann. Bisher werden etwa 70 wirtschaftliche Tätigkeiten aus den nachfolgenden sieben Wirtschaftssektoren in der EU-Taxonomie erfasst und technisch mit Blick auf Klimaschutz- und Klimaanpassung bewertet:
  • Landwirtschaft
  • Herstellung von Waren und verarbeitendes Gewerbe
  • Energieversorgung
  • Wasser, Abwasser- und Abfallentsorgung
  • Information und Kommunikation
  • Verkehr
  • Gebäude
Im Bezirk der IHK Darmstadt haben aktuell etwa 15 Prozent der Unternehmen ihren wirtschaftlichen Schwerpunkt in einem der sieben Wirtschaftssektoren. Auffallend ist, dass in Südhessen Branchen wie die Zementherstellung, die Herstellung von Aluminium oder die Herstellung von chemischen Grundstoffen wie Acetylen, Aromaten, Styrol, Ammoniak  kaum vorhanden sind. Ganz anders sieht es in den Wirtschaftszweigen Information und Kommunikation, Verkehr und Gebäude aus. Hier sind eine Vielzahl von Unternehmen aktiv. Darüber hinaus ist die Finanzwirtschaft (von Versicherungen über Fonds bis zur Hausbank) unmittelbar von den Rechtsakten unter „Sustainable Finance“ betroffen. Sie ist verpflichtet offenzulegen, inwieweit ihr Kreditportfolio „taxonomie-konform“ (nachhaltig) ausgerichtet ist („Green Asset Ratio“). Das beeinflusst nicht nur ihre Reputation, sondern materiell auch ihr Rating und ihre Refinanzierungsmöglichkeiten. Bereits bestehende nationale Regularien legen schon die Berichtspflicht fest: Das aktuelle Merkblatt zum Umgang mit Nachhaltigkeitsrisike der Bundesanstalt für Finanzmarktaufsicht (BaFin) definiert für Banken das Risikomanagement. Damit werden alle kreditfinanzierten Unternehmen mittelbar berichtspflichtig.

Forderungen

Für eine erfolgreiche Umsetzung von „Sustainable Finance“ sollten allgemein drei Leitlinien gelten:
  1. Die Transformation sollte ohne überbordende Regularien stattfinden.
  2. Die Finanzstabilität ist zu wahren und die Kreditvergabe nicht einzuschränken.
  3. Für kleine und mittlere Unternehmen (KMU) muss sichergestellt werden, dass die bürokratischen Dokumentationspflichten auf ein Minimum reduziert werden. Hierzu zählen insbesondere die direkte Ausweitung der Offenlegungspflichten wie auch die indirekten Berichtspflichten entlang der Lieferkette.

Wirtschaftliche Übergänge in der Transformation ermöglichen

Eine Transformation braucht Zeit und sollte alle Unternehmen vom Soloselbstständigen bis zum börsennotierten Unternehmen mitnehmen. Auf diesem Weg darf die Finanzierung und Förderung keinesfalls eingeschränkt werden. Unter „Sustainable Finance“ müssen daher auch Investitionen in Übergangsprozesse finanziert werden können und die Anpassung bestehender Geschäftsmodelle muss gewährleistet sein. Nur so gelingt auch der ökologische Umbau der Wirtschaft.
Idealerweise ließe sich unter dem Stichwort „Fördern und Fordern“ dazu eine schlanke öffentliche Förderkulisse entwickeln. Diese sollte an einer Stelle gebündelt sowohl die Übergangsinvestitionen als auch Entwicklungen von neuen Geschäftsfeldern, die dem Green Deal zuträglich sind, unterstützen. Dort sollten auch Gründer eine Anlaufstelle finden, wenn sie Geschäftskonzepte entwickeln, die explizit die Ziele des Green Deal unterstützen.

Klares Konzept für „Sustainable Finance“ entwickeln

Die Wirtschaft erwartet ein Konzept, mit dem die Finanzwirtschaft und insbesondere die Banken, die im Green Deal beschriebenen Ziele der Transition begleiten können. Nachdem die Taxonomie eindeutig formuliert ist, müssen die Regularien für die Finanzwirtschaft mit den Schritten des Green Deal über den Zeithorizont der Transformation synchronisiert werden – es bedarf eines einheitlichen zeitlichen Zielrahmens. Dies muss sich auf nationaler Ebene insbesondere in den Regularien der BaFin für die Finanzwirtschaft widerspiegeln.

Bürokratische Pflichten und Dokumentation insbesondere für KMU auf ein Minimum reduzieren

Eingebettet in die Region übernehmen gerade kleine und mittlere Unternehmen (KMU) traditionell ein hohes Maß an gesellschaftlicher Verantwortung. Weil sie innovativ sind und auf die Bedürfnisse der Kunden, Mitarbeiter und lokalen Bevölkerung reagieren, sind Wirtschaften und Nachhaltigkeit kaum noch getrennt voneinander zu verstehen. Dieses Engagement zu systematisieren und in die starren Nachhaltigkeitskriterien zu pressen, ist eine bürokratische Mammutaufgabe. Sie bindet Personal und Ressourcen, die eigentlich anderweitig dringend benötigt werden, um den laufenden Betrieb aufrechtzuerhalten. Daher sollte für die Anwendung der Taxonomie – auch über die Lieferketten hinweg – der Schwellenwert von 500 Mitarbeitern gelten und keinesfalls unterschritten werden.
Hilfreich wäre eine klare Vorgabe, welche Daten in welchem Format dargestellt werden müssen. Es wäre dann Aufgabe von EU und Mitgliedsstaaten, die Datensammlung mit dem bestehenden digitalen Instrumentarium zentral zu organisieren, damit der Wildwuchs an Informationsanfragen, mit dem Betriebe aktuell konfrontiert sind, gestoppt wird. Mit einer zentralen Datenbank, die berechtigte Informationsbedürfnisse der Marktteilnehmer abbildet, können EU und Mitgliedsstaaten demonstrieren, dass es ihnen mit dem „Once-Only-Prinzip“ ernst ist.

Internationale Wettbewerbsfähigkeit erhalten und Doppelregulierung vermeiden

Um das globale Nachhaltigkeitsziel erreichen zu können, muss ein internationaler Konsens für Nachhaltigkeitskriterien geschaffen werden. Nur so kann die Gefahr einer Abwanderung von derzeit noch nicht nachhaltigen Betrieben in Nicht-EU-Länder verringert und die internationale Wettbewerbsfähigkeit sichergestellt werden. Bei der Vielzahl angestoßener Initiativen ist es wichtig, Doppelregulierungen zu vermeiden. Für große Unternehmen sollten internationale Standards harmonisiert und angepasst werden, es sollte eine Entkoppelung vom prüfungspflichtigen Jahresabschluss möglich sein.

Know-how aufbauen, verbreitern und die Qualifizierung von Fachkräften fördern

Der Finanzsektor soll zukunftsfähige Investitionen empfehlen und die Kreditvergabe an Nachhaltigkeitskriterien ausrichten. In der Praxis fehlen dafür jedoch die Fachkenntnisse sowie das Know-how – auf Bankenseite und in den Betrieben der Realwirtschaft. Notwendig sind (geförderte) Schulungsangebote und Förderprogramme zur Qualifizierung von Mitarbeitern in Unternehmen und Banken bezüglich „Sustainable Finance“. Entsprechende Angebote und Förderprogramme sollten neu und in Kooperation mit der Wirtschaft aufgesetzt werden.

Hausbanken vor einer Kaskade nicht nachhaltiger Finanzierungsanfragen schützen

Groß- und Investmentbanken haben bereits angekündigt, die Finanzierung von Unternehmen zu beenden, wenn diese nicht darlegen können, wie sie in den kommenden Jahren nachhaltig und klimaneutral wirtschaften werden. Damit zeichnet sich ein Kaskadeneffekt ab, der die Finanzierung nicht nachhaltiger Wirtschaftstätigkeiten auf Hausbanken abwälzt. Hiermit verbunden fallen das Rating, die Refinanzierung und die Reputation von Hausbanken erheblich ab. Diese Kaskade kann verhindert werden, wenn die Finanzierung von kleinen und mittleren Unternehmen nicht Bestandteil der „Green Asset Ratio“ ist.

Industrie und Mittelstand in die Ausgestaltung von „Sustainable Finance“ einbinden

Die Regulierung zu „Sustainable Finance“ wird maßgeblich seitens der EU-Kommission und der Nationalstaaten mittels langfristig einberufenen Expertengremien ausgestaltet. Die fehlende Perspektive der Realwirtschaft kann sich negativ auf das Gelingen des ökologischen Umbaus der Wirtschaft auswirken: Die aktuell diskutierten Rahmenbedingungen stellen die grundlegende Finanzierung der Unternehmen infrage, Synergien etablierter Nachhaltigkeitsindikatoren bleiben unberücksichtigt und ein fehlender Praxisbezug offenbart Unklarheiten, die eine rechtssichere Umsetzung massiv erschwert. Es ist unverzichtbar, dass Expertengremien zukünftig die gesamtwirtschaftlichen Interessen spiegeln und nicht maßgeblich die Bedürfnisse aus der Finanzwirtschaft repräsentieren. Die bisherige Zusammensetzung der Gremien in Europa und Berlin zeigt, dass Industrie und Mittelstand weitestgehend unberücksichtigt blieben. Anforderungen an Gremienmitglieder müssen so gestaltet sein, dass sie nicht nur von Vertretern großer Unternehmen bedient werden können.