Spätzünder unter Volldampf

Die Wirtschaftliche Entwicklung in der Region im 19. Jahrhundert
Rudolf Nickels, Patentinformationszentrum Darmstadt
Die wirtschaftliche Situation zu Beginn des 19. Jahrhundert in der Region Rhein-Main war nicht gerade rosig: "Auf dem rechten Rheinufer, das von der französischen Besatzung nicht unmittelbar betroffen war, hemmte die auf mittelalterlichen Ursprüngen beruhende territoriale Zersplitterung eine auf Erneuerung bedachte Wirtschaftsentwicklung, wie sie einige benachbarte Territorialstaaten des aufgeklärten Absolutismus längst ergriffen hatte." [1]
Die Gesellschaft und Wirtschaft befand sich im Umbruch. Zwar waren die beharrenden Kräfte stark, aber die ständig sich verbreitende Erkenntnis der Änderungsnotwendigkeiten erzeugten immer stärkere Impulse für eine wirtschaftliche Neuorientierung und Industrialisierung in der Region: "Man fürchtete, nicht Schritt halten zu können, wollte bei dem Althergebrachten bleiben und sah keine zwingende Notwendigkeit für eine Modernisierung oder Erweiterung des eigenen Gewerbebetriebs. Die französische Verwaltung hatte nun diese erstarrte und unbewegliche alte Ordnung hinweggefegt. Das Zunftwesen wurde beseitigt und eine allgemeine Gewerbefreiheit verkündet." [2]
In der Kleinstaaterei der Region war das ausgeprägte Zollwesen ein großes Hindernis der wirtschaftlichen Entwicklung. Dieses behinderte die Entwicklung einer modernen Handelsgesellschaft.
Doch war die damalige gesellschaftliche Situation durch Landflucht in die sich entwickelnden industriellen Zentren geprägt. Mit dieser Dynamik entstand die Notwendigkeit zur Einführung neuer Regularien der industrialisierten Gesellschaft. Dies hatte schließlich die Beseitigung der Zollschranken zur Folge.
Eine andere Schwierigkeit ergab sich durch das Zunftwesen. Erst durch die Gewerbefreiheit konnte sich eine industrialisierte Produktion entfalten. Dazu gehörten das Erfindungswesen, die Ausbildung von Fachkräften, die Bereitstellung einer Infrastruktur und der Ausbau der Verkehrswege. So wurde das Patentwesen 1877 eingeführt. Die Normung hatte ihre Ursprünge in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts genauso wie die Einführung des metrischen Systems (1870-1872).
Zur Förderung der industriellen Strukturen wurden daher damals gezielte Maßnahmen in den Bereichen Ausbildung und Information ergriffen: "Durch eine Bibliothek, eine 'Vorbildersammlung' technischer Musterzeichnungen und häufige Ausstellungen von neuen Produkten sollte die Konkurrenzfähigkeit der Handwerker und ihre Innovationskraft angeregt werden. All diese Maßnahmen zur Stärkung des 'Humankapitals' wurden begleitet durch die flächendeckende Einrichtung von Handwerkerschulen, die durch eine 1836 gegründete 'Höhere Gewerbeschule' ergänzt wurde, aus der 1877 die Technische Hochschule Darmstadt hervorging." [3]
Bemerkenswert ist, dass es im 19. Jahrhundert in Frankfurt keine Universität gab, während in Darmstadt seit 1826 eine Polytechnische Schule existierte.
Eine entscheidende Änderung trat um 1870 durch die Veränderung des Aktienrechts ein. Dadurch wurden die Möglichkeiten zur Investition von privatem Kapital in die Wirtschaft stark verbessert. Allerdings führte eine zwischenzeitliche Rezession von 1873-1876 zu einer größeren Auswanderungswelle nach Amerika.
Bei der industriellen Infrastruktur der Region ergab sich ein klarer Schwerpunkt im Maschinenbau. Allerdings gewann die Chemische Industrie später immer mehr an Boden: "Dominierte zunächst der Maschinenbau, so wurde er um die Jahrhundertwende von Möbel-, Papier- und Chemieindustrie als führenden Branchen abgelöst… Darmstadt (Maschinenbau, pharmazeutische Fabrik Merck). Dazu kam Rüsselsheim, wo die Firma Adam Opel nach Nähmaschinen (1862) und Fahrrädern (1866) seit 1898 auch Automobile herstellte." [4]
Durch diese Entwicklungsdynamik kann um 1900 von einem Anschluss an den internationalen Stand der Industrialisierung ausgegangen werden.
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[1] VDI Rheingau-Bezirksverein Hg.: Wir verbinden Kompetenz - Von der Industrialisierung zur Wissensgesellschaft- VDI Rheingau-Bezirksverein 1904 – 2004, Essen 2004, S. 7
[2] Ebenda, S. 9
[3] Digitales Archiv - http://www.digada.de/industrialisierung/uebersichtindustrie.htm
[4] Digitales Archiv - http://www.digada.de/industrialisierung/uebersichtindustrie.htm