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Lebenshilfe Braunschweig - Schaltzentrale der betrieblichen Integration
Für viele Menschen mit Behinderung gleicht der Weg in eine Festanstellung einem steinigen Pfad – voller Herausforderungen, Unsicherheiten und Barrieren. Doch die Lebenshilfe Braunschweig zeigt gemeinsam mit regionalen Partnern, dass Inklusion gerade am Arbeitsplatz gelebte Realität ist. Mit viel Engagement, Fachwissen und Herzblut wird Menschen mit körperlichen, geistigen oder psychischen Einschränkungen die Tür zum allgemeinen Arbeitsmarkt geöffnet – Schritt für Schritt, mit klarer Struktur und viel Geduld.
Die Teams des Sozialdienstes und des Fachdienstes Betriebliche Integration der Lebenshilfe Braunschweig von links nach rechts: Sven Hannig, Andreas Lübke, Robin Baumann und Michael Schumann. Und Marco von Kroschke (ganz links).
Am Tag unseres Interviews treffen wir Sven und Michael – zwei langjährige Mitarbeiter des E-Center Görge an der Hamburger Straße, beide festangestellt und über die Jahre mit festen Aufgabenbereichen versehen. Sven steht derzeit in der Warenannahme, kontrolliert eingehende Lieferungen sorgfältig auf äußere Mängel und Beschädigungen. Nachdenklich berichtet er von seinem Wechsel aus der Betreuung der Lebenshilfe in ein sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis: „Mir wurde oft gesagt, dass ich es nicht schaffen würde. Dass ich es zu nichts bringe. Aber am Ende habe ich es durch Eigeninitiative und mithilfe der Lebenshilfe doch geschafft.“ Kollege Michael unterstützt dagegen in der Warenverräumung, bringt Struktur in die Regale und Ordnung ins Sortiment. Der Einstieg fiel ihm nicht leicht, wie er ehrlich berichtet: „Die Umstellung der Arbeitszeiten war anfangs sehr gewöhnungsbedürftig.“ Aber inzwischen? „Alles Routine.“
Der Fachdienst Betriebliche Integration der Lebenshilfe ist an der Hamburger Straße beheimatet.
Sven und Michael sind zum Glück keine Einzelfälle. In den vergangenen Jahren konnte vielen durch das entscheidende Zutun der Lebenshilfe der Zugang zum allgemeinen Arbeitsmarkt nicht nur erleichtert, sondern auch vollumfänglich ermöglicht werden. Damit dieser Übergang gelingt, müssen jedoch bestimmte Voraussetzungen erfüllt sein – sowohl auf individueller als auch auf struktureller Ebene. Ein Aspekt nimmt dabei den Löwenanteil ein: Passgenauigkeit.
Die Weichenstellung: Berufliche Bildung und Perspektiventwicklung
Welche Stationen müssen durchlaufen werden, bevor aus einer ersten Orientierung ein echtes Beschäftigungsverhältnis entstehen kann? Der Einstieg in eine berufliche Zukunft beginnt für viele junge Leute mit einer 27-monatigen Rehabilitationsmaßnahme im Berufsbildungsbereich (BBB) der Lebenshilfe. Diese Qualifizierungsphase bildet die Brücke zwischen dem Schulabschluss und dem Übergang in eine Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM) – oder im Idealfall sogar direkt in den allgemeinen Arbeitsmarkt. Finanziert wird das Programm in der Regel von der Agentur für Arbeit oder der Rentenversicherung und richtet sich vor allem an Absolventinnen und Absolventen von Förder- oder inklusiven Regelschulen. Die Maßnahme selbst ist dreistufig aufgebaut: Ein dreimonatiges Eingangsverfahren dient der ersten Orientierung, gefolgt von einem zwölfmonatigen Grundkurs zur Einschätzung persönlicher Kompetenzen und Interessen. Im abschließenden Jahr werden diese Fähigkeiten gezielt erweitert und in konkreten Arbeitsfeldern vertieft.
Michael Schumann leitet den Fachdienst Betriebliche Integration und ist darüber hinaus seit über 30 Jahren maßgeblich in die betriebliche Bildung der Lebenshilfe involviert.
Es geht dabei nicht um irgendeinen Job, sondern um die richtige Stelle für den richtigen Menschen – mit einem Aufgabenprofil, das zu den erlernten Fähigkeiten, den persönlichen Interessen und dem individuellen Unterstützungsbedarf passt. „Wo kann ein Mensch seine Stärken einbringen, ohne an seinen Schwächen zu scheitern?“, fragt uns Michael Schumann, Abteilungsleiter Berufliche Bildung und Übergangsmanagement bei der Lebenshilfe, rhetorisch. Seine Lösung: „Eine passgenaue Vermittlung beugt die später auftretenden Probleme vor.“
Dreh- und Angelpunkt Werkstatt
Am Ende der berufsbildenden Maßnahme erfolgt der Übergang in den Arbeitsbereich der Werkstatt für behinderte Menschen – für viele ist der direkte Sprung in den allgemeinen Arbeitsmarkt nämlich kaum machbar – zumindest nicht sofort. Die Gründe dafür sind vielfältig: körperliche oder kognitive Einschränkungen, psychische Belastungen, oder schlicht der Mangel an adäquaten Angeboten in der freien Wirtschaft. Werkstätten bieten hier einen sicheren Hafen, um erstmal Fuß zu fassen – und vor allem: sich Schritt für Schritt zu entwickeln.
Reges Treiben in den Werkstätten und Unternehmen.
Statt Leistungsdruck und Stress erwartet sie in den Werkstätten ein strukturierter Tagesablauf, pädagogisch geschulte Fachkräfte und ein Umfeld, das auf individuelle Bedürfnisse eingeht. Wer zum ersten Mal dort beginnt, bringt logischerweise kaum oder keine Berufserfahrung mit, hat vielleicht nie gelernt, wie ein Arbeitstag abläuft oder was es bedeutet, Verantwortung für eine Aufgabe zu übernehmen.
Ob in der Holzverarbeitung, im Versand oder in der Textil- und Keramikwerkstatt: Die Tätigkeitsbereiche in den auf die ganze Region verteilten Werkstätten der Lebenshilfe Braunschweig sind vielfältig – und sie orientieren sich bewusst an den Fähigkeiten der Menschen, nicht an ihren Defiziten. Denn jeder kann etwas. „Wir arbeiten hier alle zusammen, mit und ohne Behinderung, Seite an Seite. Unsere Vorstellung von Inklusion gleicht einem praxisorientierten Miteinander“, so Michael Schumann. Das Spektrum reicht von einfacheren Tätigkeiten bis hin zu anspruchsvolleren Aufgaben, bei denen echte Produkte entstehen, die auf dem freien Markt verkauft und von Betrieben zuvor in Auftrag gegeben werden. Besonders Dienstleistungen, darunter Garten- und Landschaftsarbeiten, Aktenvernichtung oder auch Gastronomietätigkeiten, werden immer häufiger von regionalen Kunden in Anspruch genommen. Hier wird also nicht „beschäftigt“, sondern gearbeitet – sinnstiftend, wirtschaftlich und vor allem auch im Kontext des eigenen Könnens. Der Kostenträger der Rehamaßnahme ist in diesem Fall das zuständige Sozialamt.
Unsere Vorstellung von Inklusion gleicht einem praxisorientierten Miteinander.Michael Schumann
Doch die Lebenshilfe geht über die klassischen Werkstätten hinaus: Mit Projekten wie dem Secondhand-Kaufhaus Fairkauf, mehreren inklusiven Cafés, einem Fahrradladen und einer Möbelhalle bietet sie Menschen mit Beeinträchtigungen Arbeitsplätze mit echtem Praxisbezug. Hier verwalten Mitarbeitende Sachspenden, beraten Kundinnen und Kunden und gestalten ihren Arbeitsalltag mit echter Selbstwirksamkeit. „So entstehen Arbeitsumfelder, in denen sich Inklusion nicht auf Hochglanzbroschüren beschränkt“, bringt es Schumann auf den Punkt.
Die Schaltzentrale: der Fachdienst Betriebliche Integration
Wenn es ernst wird – also dann, wenn aus einer beruflichen Orientierung eine konkrete Jobperspektive im Sinne einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung entsteht – tritt der Fachdienst Betriebliche Integration auf den Plan. Gegründet im Jahr 2001 und seit 2007 fester Bestandteil der Lebenshilfe Braunschweig, bildet er das Herzstück aller Integrationsbemühungen. Unter der Leitung von Michael Schumann, der seit über drei Jahrzehnten die berufliche Bildung bei der Lebenshilfe mitgestaltet, koordiniert der Fachdienst die Übergänge von der Qualifizierung in die offene Arbeitswelt.
Die Mitarbeitenden dieses Teams – allesamt speziell geschulte Job-Coaches – übernehmen eine zentrale Rolle: sie begleiten Praktika in Unternehmen, organisieren Sprechstunden, werben bei potenziellen Arbeitgebern, beraten zu Fördermitteln und stehen sowohl Menschen mit Beeinträchtigungen als auch Betrieben mit Rat und Tat zur Seite. Oder, wie es Job-Coach Andreas Lübke formuliert: „Wir sind eine Art Bereitschaftsdienst, wenn es an der einen oder anderen Stelle klemmt.“ Dabei ist die Arbeit des Fachdienstes nicht nur reaktiv, sondern auch proaktiv: Es wird gezielt nach potenziellen Arbeitgebern gesucht, Kontakte aufgebaut und gepflegt. Inzwischen kooperiert die Lebenshilfe Braunschweig mit mehr als 50 regionalen Partnern aus der freien Wirtschaft, die bereit sind, Leuten eine Chance zu geben. Diese werden nach erfolgter Übernahme durch einen Betrieb selbstverständlich nicht im Stich gelassen: Unterstützung und Begleitung erfolgen auch im Nachgang auf unbestimmte Dauer, je nach den Bedürfnissen der Mitarbeitenden. Schließlich ist der Fachdienst der Lebenshilfe keine Arbeitnehmerüberlassung.
Wir sind eine Art Bereitschafts-dienst, wenn es an der einen oder anderen Stelle klemmt.Andreas Lübke
Das Team rührt auch intern die Werbetrommel. Sofern der Wunsch und die Voraussetzungen für den Transfer in Richtung allgemeiner Arbeitsmarkt übereinstimmen, unterstützt, informiert und berät das Team bei der Jobsuche. „Der Fachdienst fungiert als ausgewiesene Dienstleistungsinstanz, wenn es darum geht, Menschen an der Schwelle zum geregelten Vollzeitalltag so gut es geht zu helfen“, betont Robin Baumann, der erst vor Kurzem zum Job-Coach-Team dazugestoßen ist.
Auch betriebsintegrierte Arbeitsplätze stellen eine wichtige Übergangsform dar. Sie bieten sich insbesondere dann an, wenn Menschen mit Einschränkungen bereits gute Aussichten auf eine Festanstellung in einem Unternehmen haben, jedoch noch auf ein erhöhtes Maß an individueller Betreuung angewiesen sind. „Die Beschäftigten werden vor und während ihrer Zeit im Betrieb von den Fachkräften der Lebenshilfe unterstützt. Allerdings findet die Tätigkeit nicht mehr in der Werkstatt selbst, sondern direkt im Betrieb statt – der Arbeitsplatz wird also gewissermaßen ausgelagert. Das spart logistische Aufwände und fördert die Teilhabe am Arbeitsleben deutlich besser“, erklärt Michael Schumann. Marco von der Kroschke sign-international GmbH besetzt zum Beispiel einen solchen Arbeitsplatz, in der Hoffnung, „dass ich bald fest übernommen werde“, wie er sagt. Darüber hinaus gehören auch sogenannte Außenarbeitsgruppen zum umfangreichen Angebotsportfolio. Hierbei arbeiten mehrere Personen aus der WfbM gemeinsam in kooperierenden Betrieben – begleitet durch eine wesentlich intensivere Betreuung – mit dem Ziel, sie Schritt für Schritt auf einen Wechsel in den allgemeinen Arbeitsmarkt vorzubereiten.
Ein Arbeitsmarkt kann nur dann als stark gelten, wenn er inklusiv ist.Kerstin Kuechler-Kakoschke
Doch nicht jeder findet sich in der Struktur einer Werkstatt oder eines Betriebs wieder. Für Menschen mit psychischen Erkrankungen hat die Lebenshilfe Braunschweig ein weiteres Angebot etabliert: das Projekt „Zuverdienst“, bei der die Eingliederung in einen strukturierten Tagesablauf und soziale Anbindung vertiefend im Fokus stehen. Das Highlight: ein von der „Aktion Mensch“ geförderter Food-Truck, mit dem die Lebenshilfe durch die Stadt tourt und so Arbeit dorthin bringt, wo sie im Rahmen enger sozialer Interaktionen erfolgen kann, mit Kaffee, Kuchen und anderen Leckereien.
Das Budget für Arbeit als Kür
Ein zentrales Instrument zur Förderung der Inklusion ist das sogenannte „Budget für Arbeit“. Es verbindet zwei wesentliche Leistungen: Einerseits bezuschusst der Sozialhilfeträger bis zu 75 Prozent des Bruttolohns bei Abschluss eines Festvertrags, andererseits übernimmt ein lokaler Fachdienst – in diesem Fall die Lebenshilfe – die weiterführende Unterstützung der Beschäftigten. Dieses Modell sorgt dafür, dass Unternehmen nicht allein gelassen werden – weder fachlich noch finanziell. Die Idee hinter dem Budget für Arbeit ist so simpel wie wirkungsvoll: Betriebe werden motiviert, Menschen mit Beeinträchtigungen einzustellen, weil Risiken abgefedert und Hilfe garantiert werden. Und sollte ein Arbeitsverhältnis doch nicht klappen, bleibt eine sichere Perspektive dennoch bestehen: Die Rückkehr in die Werkstatt ist jederzeit möglich.
Und es wirkt: Immer mehr Firmen aus Braunschweig und Umgebung öffnen sich der Beschäftigung von Menschen mit Behinderung. So kamen letztes Jahr insgesamt elf Vermittlungen in ein sozialversicherungspflichtiges Arbeitsverhältnis zustande. Doch auch hier gilt: kein Schnellschuss. Der Weg zur Festanstellung beginnt fast immer mit einem vierwöchigen Schnupperpraktikum, das realistische Einblicke gewährt – für beide Seiten.
„Ein Arbeitsmarkt kann nur dann als stark gelten, wenn er inklusiv ist. Gerade angesichts des zunehmenden Fachkräftemangels dürfen wir die Fähigkeiten von Menschen mit Behinderung nicht ungenutzt lassen, sondern müssen sie gezielt fördern und einbinden“, betont Kerstin Kuechler-Kakoschke, Vorsitzende der Geschäftsführung der Agentur für Arbeit Braunschweig-Goslar und ergänzt: „So gelingt es uns, soziale Teilhabe zu stärken und gleichzeitig wirtschaftliche Stabilität zu fördern.“ Die Botschaft ist dabei eindeutig: Inklusion darf keine Hürde sein, sondern muss alltagsnah und unkompliziert gelebt werden. Die möglichen Risiken? Überschaubar. Der Nutzen? Überragend.
Kerstin Kuechler-Kakoschke, Vorsitzende der Geschäftsführung der Agentur für Arbeit Braunschweig-Goslar.
Das Anstellungsverhältnis von Kai bei der Seilflechter Tauwerk GmbH ist ebenfalls das Ergebnis eines Budgets für Arbeit. Seit vielen Jahren ist er nun dort, beschäftigt sich überwiegend mit dem Konfektionieren von Seilen. Auch er verrät uns während des Interviews: „Meine Arbeit macht mir total Spaß und ich bin froh, dass ich diesen Schritt damals gewagt habe.“
Ein Modell mit Strahlkraft
Die Arbeit des Fachdienstes Betriebliche Integration gilt nicht umsonst als Braunschweiger Unikat – und wird vielerorts als Blaupause für ähnliche Projekte diskutiert. Der Schlüssel zum Erfolg liegt in der Verknüpfung individueller Förderung, struktureller Unterstützung und partnerschaftlicher Zusammenarbeit mit der lokalen Wirtschaft. Jan-Peter Ewe, Geschäftsführer der Wilhelm Ewe GmbH & Co. KG und zugleich Kooperationspartner der Lebenshilfe, kann dieser Erkenntnis nur beipflichten: „Inklusion bereichert unser Arbeitsumfeld. Sie eröffnet uns neue Perspektiven im Miteinander, erfordert echtes Umdenken und ein respektvolles, lösungsorientiertes Miteinander auf Augenhöhe. Die Lebenshilfe war und ist eine wichtige und notwendige Begleitung, Menschen mit Behinderung ins Arbeitsleben zu integrieren.“
Marco von Kroschke (hinten) und Kai von Seilflechter (vorne) zeigen, dass das Konzept funktioniert.
Meine Arbeit macht mir total Spaß und ich bin froh, dass ich diesen Schritt damals gewagt habe.Kai
Am Ende steht ein klares Ziel: Jeder Mensch soll – ungeachtet seiner Einschränkungen – die Chance erhalten, einen Platz in der Arbeitswelt zu finden, der seinen Fähigkeiten entspricht, Sinn stiftet und soziale Teilhabe ermöglicht. Die Lebenshilfe Braunschweig zeigt: Es braucht dazu keine Wunder, sondern engagierte Menschen, kluge Konzepte und den festen Willen zur Inklusion, oder, wie Michael Schumann abschließend feststellt: „Eine gesunde Prise Mut. Mut, Dinge anders zu denken. Mut, Wege neu zu gehen. Und Mut, an das Potenzial jedes Einzelnen zu glauben.“
jk
5/2025