TANGILITY GmbH - Virtuell auf Visite
Mit einer VR-Software optimiert das Braunschweiger Start-up TANGILITY die Planung von Klinikbauten – und konnte in wenigen Monaten bereits große Kunden gewinnen.
In der Bauzeichnung sah alles so einfach aus. Die Tür ist zweifellos breit genug für das Krankenhausbett in Standardgröße. Und doch erweist sich der Winkel, in dem das Bett aus der Nische des Krankenzimmers geschoben wird, in der Praxis als zu spitz. „Warum bleibe ich am Türrahmen hängen?“, lautet eine Frage auf der Homepage der TANGILITY GmbH. Damit beschreibt das Braunschweiger Start-up beispielhaft nur eines von unzähligen Problemen, Fallstricken und Fehlplanungen, die beim Neubau oder der räumlichen Umgestaltung eines Krankenhauses auftreten können. „Vermeide hohe Folgekosten, extra Zeitaufwand und unzufriedene Mitarbeiter“, heißt es an anderer Stelle in einem Demo-Video der Software „wellplaced“, mit der das junge Unternehmen die Bauherren von Kliniken und anderen Gesundheits- oder Pflegegebäuden unterstützen möchte.
Eine Extended-Reality-Brille (XR-Brille) ist das Hauptwerkzeug des jungen Start-ups aus Braunschweig.
Doch wie genau funktioniert das? Die Antwort auf diese Frage liefert ein kleines Tech-Tool, das auf der Nase platziert wird. Eine Extended-Reality-Brille (XR-Brille) lässt einen durch die Flure, Krankenzimmer oder OP-Säle einer geplanten Klinik wandeln und die Weite – oder Enge – eines Raumes spüren. Betten oder Schränke dürfen in einer realistischen 3D-Umgebung verschoben oder gezogen werden, medizinische Geräte wie Infusionsbehälter oder Vitalzeichen-Monitore lassen sich bewegen, entfernen oder an anderer Stelle hinzufügen. Nicht auf dem Papier, auch nicht auf einem Monitor, sondern in einem digitalen Zwilling, durch den man sich mit Hilfe der XR-Brille bewegt – und Planungsfehler entdeckt, die sonst möglicherweise bis zur Fertigstellung und Inbetriebnahme des Gebäudes verborgen geblieben wären.
Neben viel Expertenwissen bringen die Gründer auch ein großes Netzwerk mit
Ein grauer Novembertag im backsteinernen Herzen unserer Forschungsregion: Im Haus der Wissenschaft der TU Braunschweig befindet sich das Institut für Konstruktives Entwerfen, Industrie- und Gesundheitsbau. Hier treffe ich Lukas Adrian Jurk und Marcel Purwins, zwei der Gründer von TANGILITY. Der dritte im Bunde ist Michael Bucherer, der, in Frankfurt am Main sitzend, von einem großen Monitor blickend an dem Treffen teilnimmt. Start-ups in der Post-Corona-Zeit arbeiten häufig dezentral, ein gemeinsames Büro spielt auch bei TANGILITY eine untergeordnete Rolle. Der Ort des Treffens in der Pockelsstraße ist allerdings von großer Bedeutung für das Start-up, denn in diesem Institut lernte sich das Trio kennen.
Das Gründungsteam v. l. n. r.: Michael Bucherer, Lukas Adrian Jurk und Marcel Purwins.
„Wir forschen seit Jahren in diesem Bereich und wissen daher, wo die Herausforderungen für Bauherren liegen. Dahingehend bringen wir eine große Expertise mit – und ein großes Netzwerk“, erklärt Bucherer, der neben seiner Arbeit an TANGILITY auch ein Architekturbüro betreibt. Der 51-Jährige ist der erfahrenste Vertreter des Trios, Architekturforscher Jurk ist 33, Informatiker Purwins erst 27 Jahre alt.
Krankenhauspersonal kann an der Planung teilhaben und sich einbringen
In der Praxis läuft der Service von TANGILITY – vereinfacht dargestellt – folgendermaßen ab: Nach einer ersten Vorführung des Produkts sendet der Kunde die Bauplanung für das geplante Krankenhausgebäude an das Start-up, das diese dann in seine Software implementiert. Mit der App im Gepäck und ausgerüstet mit ihren XR-Brillen besuchen die Gründer dann den Kunden, der nun geschult wird, das bislang lediglich in Skizzen existierende neue Krankenhausgebäude in einer realitätsnahen 3D-Umgebung greifbar (engl. „tangible“) zu erleben. Der Clou daran: Nicht nur die unmittelbar an der Gebäudeplanung beteiligten Personen dürfen sich nun vorab ein realitätsgetreues Bild machen, sondern vor allem auch jene, die hier künftig arbeiten werden. „Pflegekräfte, Reinigungskräfte und ärztliches Personal bringen es von Haus aus nicht mit, Grundrisse lesen zu können“, weiß Jurk. Genau diese Krankenhausangestellten hätten dank der „wellplaced“-Software und der virtuellen Realität nun aber die Möglichkeit, auf Probleme oder Fehler in der Planung hinzuweisen und ihr Wissen einzubringen.
Diese niedrigschwellige und zugleich äußerst partizipative Herangehensweise helfe nicht nur dabei, kostspielige Fehlplanungen im Vorfeld zu vermeiden – sie sei auch förderlich, die Zufriedenheit zu steigern. „Mitarbeitende, die in Unternehmensentscheidungen einbezogen werden und mitbestimmen können, wie ihr zukünftiger Arbeitsplatz aussieht, fühlen sich mehr wertgeschätzt“, ist Jurk überzeugt. Architekt Bucherer weist noch auf eine weitere Facette hin: „Man kann Veränderungen kritisch oder offen gegenüberstehen. Wir sind der Meinung, dass das frühe Einbeziehen der Belegschaft hilft, die Akzeptanz zu erhöhen.“ Und letztlich könne diese Methode auch ein Pluspunkt im gerade in diesem Bereich schwierigen Ringen um Fachkräfte sein. „Hier ist ein Unternehmen, das ganz viel tut, damit alle Mitarbeitende zufrieden sind“, formuliert Bucherer den Eindruck, der potenziellen Bewerberinnen und Bewerbern durch den Ansatz der Beteiligung vermittelt wird.
Wir forschen seit Jahren in diesem Bereich und wissen daher, wo die Herausforderungen für Bauherren liegen. Dahingehend bringen wir eine große Expertise mit – und ein großes Netzwerk.Michael Bucherer
Mit drei Kliniken hat das Start-up schon zusammengearbeitet
Erst im Mai 2025 gegründet, kann TANGILITY heute bereits auf Einnahmen sowie mehrere Kunden und Projekte verweisen. Bei der Planung des Deutschen Herzzentrums der Berliner Charité sowie des Universitätsklinikums in Essen konnte das Team bereits Erfahrungen sammeln. Das Zollernalb-Klinikum in Baden-Württemberg zählt zu den aktuellen Klienten. Doch dabei soll es nicht bleiben, und auch jenseits der Krankenhäuser, etwa im Bereich der Pflegeheime, Laboratorien und im Industriebau oder auch ganz anderer Gebäude, könnte sich das Unternehmen mittelfristig tummeln.
In diesem Zusammenhang weist Programmierer Marcel Purwins allerdings auf das „Henne-Ei-Problem“ hin, das in ähnlicher Form wohl viele aufstrebende Firmen kennen: „Wenn wir mehr Features hätten, könnten wir mehr Kunden erreichen und in andere Bereiche expandieren. Dafür bräuchten wir aber eigentlich mehr Developer, wofür wir wiederum mehr Kunden bräuchten.“ Immerhin: Ein „Einzelkämpfer“ ist Purwins an der Programmierfront nicht, Unterstützung erhält er von einem weiteren Entwickler. Aktuell entwickeln sie zusätzliche Automatisierungen mittels KI. Als Booster für schnelleres Wachstum soll in Zukunft auch ein Investor dienen, nach dem das Gründertrio nun, nachdem es am Markt angekommen ist, die Augen offenhält.
Mit entsprechender Soft- und Hardware lässt sich das bislang in Skizzen existierende neue Krankenhausgebäude in einer realitätsnahen 3D-Umgebung greifbar machen.
In ganz Europa präsentiert sich TANGILITY potenziellen Kunden und Investoren
„Uns zeichnet aus, dass wir die Leute an die Hand nehmen“, sagt Bucherer über die Philosophie des Start-ups, eng und auch direkt vor Ort mit seinen Kunden zusammenzuarbeiten. Zu Gast sind die Gründer dieser Tage aber nicht nur in Krankenhäusern, sondern auch auf verschiedenen Messen. Ende Oktober ging es etwa zum „Smart City Expo World Congress“ nach Barcelona, wo sich die junge Firma am Gemeinschaftsstand des Landes Niedersachsen und der Metropolregion Hannover, Braunschweig, Göttingen und Wolfsburg präsentierte. Keinen Monat später reiste das Start-up mit einer Niedersachsen-Delegation ins finnische Helsinki zur „Slush“, einer jährlich stattfindenden Tech-Konferenz und Treffpunkt der weltweiten Gründerszene, bei der sich auch viele finanzkräftige Investoren tummeln. Die TANGILITY GmbH, so scheint es, ist bereit für den nächsten Schritt.
9/2025
