„Wir sterben niemals aus“

Komme was wolle, dies lässt der Deutsche sich nicht nehmen: das Auto. Den Urlaub. Davon ist Annett Eine überzeugt. Nun ist in den vergangenen drei Jahren einiges gekommen: eine Pandemie auf der Welt, ein Krieg in Europa und damit einhergehend eine Energiekrise. Würde Annett Eine ihre Überzeugung immer noch unterschreiben? „Unbedingt!“ Die Inhaberin des Reisebüros Eine in Goslar sagt mit Blick auf das zurückliegende Geschäftsjahr: „Wir haben ein tolles Jahr hinter uns gebracht.“ Urlaub sei den Deutschen einfach enorm wichtig, andere Länder, andere Kulturen, das sei „so ein Sehnsuchtsding“, daran werde zu allerletzt gespart.
Das Reisebüro Eine liegt im Goslarer Stadtteil Jürgenohl. Man parkt bequem und zwei Stunden kostenfrei direkt vor dem Geschäft. Die 47-Jährige führt es seit September 2004. Als Einzelkämpferin gestartet, beschäftigt sie seit Juni 2021 einen Mitarbeiter. Betritt man das Reisebüro, bleibt der Blick an einer Fotowand mit Reiseimpressionen hängen. Da kann man gar nicht anders, als innerlich aufzuseufzen und zu denken: ach ja, mal wieder die Kurve kratzen und anderswo den lieben Chef ‘nen guten Mann sein lassen – das wäre jetzt genau das Richtige.

Wer braucht eigentlich noch ein Reisebüro?

Muss ja nicht gleich ein Abstecher in die Südsee sein, manchmal reicht für den Tapetenwechsel ja schon eine Drei-Tage-Auszeit im Harz. Weil dies aber ein beruflicher Termin ist, lasse ich mich nicht lange vom Fernweh verführen und von dieser, zugegeben, ein wenig ketzerischen Frage abbringen: „Wer braucht eigentlich noch ein Reisebüro?“
Zwischen November und Februar machen wir Dreiviertel unseres Jahresumsatzes.
Sieht eine Reiseplanung mittlerweile nicht eher so aus: Zwischen Sonntagsspaziergang und Tatort wird der Laptop aufgeklappt und dann werden diverse Buchungsportale abgeklappert, Ziele und Wünsche in die Tastatur geklickert, Ergebnisse sondiert, Preise verglichen, Hunderte von Fotos gesichtet. Nervenzusammenbruch wegen der nicht kompatibel zu kriegenden Vorstellungen von VaterMutterKindern inklusive. Haben also Check 24 und Co. nicht längst jedes deutsche Wohnzimmer zum Reisebüro gemacht? Und wird es Reisebüros in ein paar Jahren überhaupt noch geben?

Totgesagte leben länger

„Wir sterben niemals aus“, sagt Annett Eine. Sie sagt das weder kämpferisch noch trotzig, sondern eher gelassen, weil sie weiß: Totgesagte leben länger. Schon vor zehn Jahren sei der Branche prognostiziert worden, dass das Ende nah sei. Dass man sich, wolle man überhaupt noch eine Überlebenschance haben, spezialisieren müsse. „Alles Quatsch.“ Hätte sie auf diese Unkerei gehört und sich damals spezialisiert, „wäre ich in der Coronazeit aber ziemlich aufgeschmissen gewesen.“
Apropos Corona: So bitter diese Pandemie von den menschlichen Tragödien mal abgesehen auch in wirtschaftlicher Hinsicht gewesen ist, der Reiseverkehrsbranche habe sie letztlich neuen Aufschwung beschert. Als im Lockdown nichts mehr ging und das Leben auf Null heruntergefahren wurde, saßen die Leute mit ihren Online-Buchungen da. Hatten Probleme mit der Stornierung. Hatten keinen Ansprechpartner. Erreichten niemanden, weil die Leitungen überlastet waren. Oder die Anbieter schlicht abgetaucht waren. Stecker raus. Weg.

Wir vermitteln Lebensqualität

„Wir waren immer da.“ Mehr muss man eigentlich nicht sagen. Aber auch unabhängig von der Pandemie kann Annett Eine etliche Gründe nennen, warum eine im Reisebüro geplante und gebuchte Reise einen Mehrwert gegenüber einer Buchung am hauseigenen Frühstückstisch hat. Das habe etwas mit Lebensqualität zu tun.
Da ist, und hier spreche ich aus Erfahrung, ihr unbedingt Recht zu geben. Jeder, der schon mal eine zweiwöchige Rundreise durch Tansania komplett selbst über ein Buchungsportal organisiert und gebucht hat, war hinterher, wenn nicht gar reif für die geschlossene Abteilung, so doch aber mindestens für die Insel.

Badeurlaub auf Mauritius: rausgeschmissenes Geld

Bei solchen heimischen Buchungstorturen durchströmt einen nicht selten ein Gefühl, heillos verloren zu sein. Reiseprofis wie Eine attestieren den Kunden von heute zwar, unglaublich gut informiert zu sein und mitunter mit sehr genauen Vorstellungen zu ihr zu kommen, aber die Expertin weiß dann eben doch immer noch ein Quäntchen mehr. Ein Beispiel: Ein Paar wollte mit seinen  Kindern, fünf Jahre und fünf Monate alt, nach Mauritius. Sie waren regelrecht fixiert auf dieses Ziel. Ein Badeurlaub sollte es sein.
Annett Eine sagte es im Beratungsgespräch gerade heraus: Dafür ist Mauritius zu schade. Und der lange Flug mit den Kindern, eine Strapaze. Sie riet zu einer Reise auf die Kapverdischen Inseln, nur sechs Stunden Flug vom nahen Hannover und nicht von Frankfurt. Perfekt. „Mauritius ist landschaftlich traumhaft, die Nationalparks sind einzigartig“, weiß Eine. Aber für deren Bedürfnisse: rausgeschmissenes Geld.
Noch ein Beispiel: „Ich hab‘ da was gesehen auf Check 24.“ Ein Satz, den Eine oft hört. Was die Kunden gern übersehen: das Schnäppchen ist ohne Transfer und ohne Flug. „Da kommt dann das große Erwachen.“

„All inclusive – das ist unser Segment“

Annett Eine hat alle namhaften Veranstalter im Programm, vermittelt von der Pauschal- und Rundreise über Bus- und Kreuzfahrten alles. „All inclusive, das ist unser Segment.“  Ein Ferienhaus in Dänemark oder eine Woche Wanderpension am Schliersee – „logisch buchen die Leute das online selbst“. Diesem Geschäft weint sie keine Träne hinterher. Spannend wird es für sie und ihren Mitarbeiter, wenn sie sich gemeinsam mit dem Kunden auf Beratungsreise begeben, zusammen auskundschaften, wohin die Reise in all ihren Details gehen soll. „Dafür brennen wir, das macht die Arbeit so attraktiv, weil wir ja Emotionen verkaufen.“ Und wer ein paar Tausend Euro investiert, der fühlt sich dann doch besser aufgehoben bei einem Ansprechpartner seines Vertrauens als einer Bestätigungsmail aus der Anonymität des Internets.

„Wir sind echt krisenerprobt“

Natürlich waren die Pandemiejahre bretthart. Das verhehlt auch Eine nicht. Ihre Branche hätte es besonders hart getroffen, „uns war ja quasi von März 2020 bis Juni 2021 unsere Existenzgrundlage entzogen.“ Die Rigorosität der Maßnahmen hält sie nach wie vor für fragwürdig, hadert aber nicht. Das ist nicht ihr Naturell. „Ich bin optimistisch. Wir hatten den Vulkanausbruch auf Island, den Tsunami in Thailand, die Pleite von Thomas Cook und Air Berlin, dann die Pandemie. Wir sind echt krisenerprobt!“
Die Branche habe auch schnell auf die Lage reagiert. Beispielsweise mit der Flexoption. Die sah gegen Gebühr vor, dass 21 bis 14 Tage vor Reiseantritt ohne Angaben von Gründen storniert werden konnte. 2022 wurde diese Flexoption noch oft verkauft. Dieses Jahr sei gut losgegangen, die Kunden kommen wieder früher, klassische Buchungszeit im Reisebüro ist nicht zuletzt wegen der Frühbucherrabatte November bis Februar. „Da machen wir Dreiviertel unseres Jahresumsatzes.“ Wie Inflation und Energiepreisanstieg darauf durchschlagen – man wird sehen. Womöglich wird der Kunde auf einen Zweit- oder Dritturlaub verzichten, nur 10 anstelle von 14 Tagen verreisen.

„Die Betreuung vor Ort ist oft schlecht“

Die staatlichen Hilfen während der Pandemie hätten bei weitem nicht ausgereicht, sie habe auch Kollegen in die Knie gehen sehen. „Wir haben einfach keine Lobby“, sagt Eine, die für die SPD in ­Goslar im Rat und Kreistag sitzt. Bei drei Millionen Arbeitsplätzen in Deutschland in der Reisebranche wäre vielleicht nicht gleich ein Tourismusminister fällig. „Aber doch mehr Unterstützung.“
Die hat sie aber vielfältig von ihren Kunden erfahren. Eine sei nach der Pandemie gekommen und habe gesagt: „Das Schönste ist: Sie haben überlebt.“ Der persönliche Kontakt endet bei Eine nicht an der Schwelle des Reisebüros, wenn sie die Buchung in der Kasse hat. Sie ist auch da, wenn die Reiseleitung vor Ort nicht ihren Qualitätskriterien entspricht. Man müsse es leider so deutlich sagen: „Die Betreuung vor Ort ist oft schlecht.“
Beispiel: Ein Kunde, dem sie einen Langzeitaufenthalt auf Gran Canaria gebucht hatte, rief nach vier Wochen an. Es ginge ihm sehr schlecht. Vor Ort sei leider niemand in der Lage, rasch einen Rückflug zu organisieren. Eine übernahm. Zusammen mit ihrem damaligen Freund holte sie den Mann sogar vom Flughafen in Hannover ab, da er sein Auto nicht mehr selbst steuern konnte.

Reisebüro ist keine Katalogausgabestelle

1300 Kunden hat Eine in ihrer Kartei, bis zu 700 Reisen vermittelt sie pro Jahr. Hat sie gelegentlich auch mit der unangenehmen Spezies des gemeinen Service-Abstaubers zu tun, der sich umfänglich beraten lässt und dann notlügend den Laden verlässt, weil er sich angeblich noch mit der Gattin besprechen oder, der Klassiker, noch mal drüber schlafen muss? „Man kennt natürlich seine Pappenheimer“, schmunzelt Eine, die in solchen Fällen auch um einen kernigen Spruch nicht verlegen ist. Dieses Phänomen sei aber marginal. Die Menschen, die zu ihr kommen, wüssten, dass sie keine Katalogausgabestelle betreibe.
In der Hochphase der Pandemie mit einhergehenden Reisebeschränkungen sei der Beratungsaufwand natürlich enorm gewesen. Für Eine gehört das aber selbstverständlich dazu, schließlich ist sie im Dienstleistungssektor angesiedelt. Obwohl selbst durchaus technikaffin, findet sie es nicht unproblematisch, dass Einreiseformalitäten häufig nur noch digital abgewickelt werden.
Oder der Kontakt zur Reiseleitung vor Ort nur über QR-Codes hergestellt werden kann. Nicht jedermanns Sache. Und auch sie selbst setzt noch auf die ausgedruckte Buchungsbestätigung eines Fluges, weiß sie doch um die Anfälligkeit von digitaler Technik. Aber natürlich läuft sie der Zeit nicht hinterher, setzt zum Beispiel mit onlineweg.de auf Multichannel-Strategie.

Lieber selbstständig als Franchise-Vorgaben zu erfüllen

Die 47-jährige gelernte Restaurantfachfrau musste vor Jahrzehnten aus gesundheitlichen Gründen umschulen. Da Restaurant und Hotellerie gewissermaßen kleine Schwestern der Touristik sind und sie weiterhin gern mit Menschen zu tun haben wollte, lag die Ausbildung zur Reiseverkehrsfrau nahe. Zudem hat sie an der AFW Bad Harzburg nebenberuflich ein Fernstudium zur Tourismusreferentin mit Schwerpunkt Management, Führung und Organisation absolviert. Zwei Jahre arbeitete sie auch als Angestellte in einem Thomas Cook Reisebüro. „Nicht mein Ding.“ Da wurde auch schon mal nachgefragt, wieso sie den Kunden nicht die 500 Euro teurere Reise verkauft hat. So ist sie überzeugte Selbstständige geworden, die ihren Prinzipien folgt und keine Franchise-Vorgaben erfüllen muss.
„Mein CO2-Fußabdruck ist katastrophal“, sagt die Halbmarathonläuferin offen. Drei bis vier Mal im Jahr ist sie unterwegs: Wandern auf La Gomera, New York mit ihrem Sohn, den sie allein groß zog, und der derzeit eine Ausbildung zum Elektroniker für Energie- und Gebäudetechnik absolviert.
Zum 50. will sie sich ihren Reisetraum von Neuseeland erfüllen. Liegeliegen ist nicht ihr Ding. Hinzu kommen die Inforeisen. „Aber ich habe ein Hybridauto, nehme auch mal die Bahn.“ Ob sie es denn noch mit ihrem Gewissen vereinbaren könne, Kreuzfahrten zu verkaufen, fragen wir nach.
Die Branche stehe zu Unrecht am Pranger, findet Eine. Aida habe auf LNG umgerüstet, viele Flugzeuge flögen heute wesentlich effizienter als noch vor Jahren. Annett Eine lehnt Selbstkasteiung und mit dem Finger auf andere zeigen ab. „Wissen Sie, wenn jeder der 80 Millionen Deutschen in zwei, drei Aspekten an seinem Umweltverhalten arbeiten würde, kämen wir alle voran. Dann wäre viel gewonnen.“
suja