DisAM-Projekt für digitale Selbstbestimmung
Lange Gänge mit vielen Türen, in denen sich der Geruch von altem Papier mit frischem Kaffeeduft mischt. Getümmel vor dem Hörsaal, in dem sogleich eine Vorlesung beginnt. Prompt fühlen wir uns in die eigene Studienzeit zurückversetzt, als uns die drei wissenschaftlichen Mitarbeitenden und der leitende Professor des Modellprojektes DisAM in dem sommerlich aufgewärmten Besprechungszimmer der Fakultät für Soziale Arbeit an der Ostfalia Hochschule in Wolfenbüttel begrüßen. Bestens vorbereitet, mit Statistiken, Datenerhebungen und Hypothesen gerüstet, gewährt uns das Forschungsteam um Prof. Dr. Ludger Kolhoff, Clemens Ahrens, Anja Klockenhoff und Heiko Bruhn einen Einblick in ihre wertvolle Arbeit an der Schnittstelle zwischen Werkstätten für Menschen mit Behinderung und dem ersten Arbeitsmarkt.
Sie forschen für einen inklusiven Arbeitsmarkt (v. l. n. r.):
Prof. Dr. Ludger Kolhoff, Heiko Bruhn, Anja Klockenhoff, Clemens Ahrens.
Prof. Dr. Ludger Kolhoff, Heiko Bruhn, Anja Klockenhoff, Clemens Ahrens.
Wofür steht eigentlich DisAM? Als hätte der vor Kurzem pensionierte und nun ehrenamtlich in dem Projekt tätige Ludger Kolhoff diesen Gedanken aufgegriffen, leitet er elegant durch die Historie des Projekts „Chancen der Digitalisierung für die selbstbestimmte Arbeitsmarktqualifizierung von Menschen mit Schwerbehinderung“ und beantwortet ganz nebenbei die Eingangsfrage. Bereits in seiner aktiven Zeit als Professor an der Fakultät für Soziale Arbeit und Leiter des Masterstudiengangs Sozialmanagement realisierte Kolhoff Forschungen, die sich der Inklusion von Menschen mit Behinderung auf den allgemeinen Arbeitsmarkt widmeten. Darunter die in den Jahren 2016 bis 2018 mit der Genossenschaft der Werkstätten für behinderte Menschen in Norddeutschland eG, gdw nord, realisierte Bildungsstudie, die etwa 600 Menschen in Einrichtungen der Behindertenhilfe in den Fokus nahm. „Wenn man inklusiv vorgehen will, geht es darum, die Menschen zu fragen, was sie lernen möchten.“ Daraus resultierte das Forschungsprojekt „diba“ (Digitale Bildungsangebote für die Qualifizierung von Menschen mit Schwerbehinderung) und das Praxisprojekt „didab“ – eine einprägsame Abkürzung für „digital dabei“. Mittlerweile bietet die didab-Plattform der gdw nord mehrere hundert Bildungsangebote für Menschen mit Beeinträchtigungen an.
Wenn man inklusiv vorgehen will,
geht es darum, die Menschen zu fragen, was sie lernen möchten.Prof. Dr. Ludger Kolhoff
Zugangsmöglichkeiten entscheiden über Erfolg
Kolhoff und sein Forschungsteam stellten jedoch fest, dass es nicht ausreicht, „digitale Bildungsangebote wie Manna vom Himmel fallen zu lassen“, sondern die Zugangsmöglichkeiten über den Erfolg entscheiden. Das aktuelle DisAM-Projekt untersucht daher von August 2023 bis Februar 2026 fördernde und hemmende strukturelle Faktoren für Digitalisierung in den Werkstätten für behinderte Menschen und bei deren Kooperationspartnern, darunter Arbeitgebende. Der Fokus liegt auf dem Übergang zum ersten Arbeitsmarkt. Neben den Strukturen in den Organisationen seien auch die Fachkräfte als „Gatekeeper“ entscheidend dafür, ob Angebote ankommen. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) finanziert das Forschungsprojekt aus Mitteln der Ausgleichsabgabe. Als Projektträgerin kooperiert die Ostfalia Hochschule für angewandte Wissenschaften auch dieses Mal mit der gdw nord.
Ludger Kolhoff war von 1993 bis Februar 2025 Professor an der Fakultät für Soziale Arbeit der Ostfalia Hochschule und ist heute Gastwissenschaftler mit dem Arbeitsauftrag der Forschung.
Moderne und konservative Strukturen
Laut Heiko Bruhn, Sozialarbeiter und wissenschaftlicher Mitarbeiter, besteht das Projektziel neben der Ermittlung des strukturellen Ist-Zustandes auch darin, ein bundesweit übertragbares Strategiekonzept mit Leitlinien und Maßnahmen zur Förderung der Digitalisierung zu erstellen. Dabei betrachtet DisAM mithilfe eines „großen Blumenstraußes an Forschungsmethoden“ die drei Dimensionen Mensch, Organisation und Qualifizierung. So steht neben der organisationsbezogenen Orientierung auch die so wichtige Lebensweltorientierung der Beschäftigten im Mittelpunkt. „Es muss ein gezielter Ausbau digitaler Infrastruktur und digitaler Bildung in den Werkstätten stattfinden. Damit einhergehend müssen die digitalen Kompetenzen der Fachkräfte erweitert sowie die oftmals im privaten Bereich schon vorhandenen digitalen Kompetenzen der Beschäftigten viel stärker mit einbezogen werden. Außerdem ist ein stärkerer Ausbau der Netzwerke zwischen den Werkstätten und Unternehmen erforderlich“, fasst Bruhn die bisherigen Ergebnisse zusammen.
Werkstätten müssen digitale Prozesse in eine übergreifende digitale Infrastruktur integrieren.Clemens Ahrens
Obwohl ein Großteil der Werkstattbeschäftigten über ein privates Smartphone verfügt, WhatsApp für den Kontakt zu Freunden und Familie nutzt oder andere Medienerfahrung mitbringt, werden diese Kompetenzen oftmals nicht genutzt. „Während die Digitalisierung unser ganzes Leben durchdrungen hat, verstehen sich Werkstätten manchmal noch als Inseln. Wir dürfen Werkstätten aber nicht aus der digitalen Gleichung herausnehmen, um sie vor möglichen Gefahren zu schützen. Es geht um einen verantwortungsvollen Umgang – auch mit den Ängsten“, ergänzt Projektleiter Kolhoff und liefert damit einen möglichen Erklärungsansatz, warum einige Einrichtungen noch nicht zeitgemäß agieren. Insgesamt seien die Forschenden auf viel Widersprüchlichkeit von modernen und konservativen Strukturen gestoßen.
Heiko Bruhn beleuchtet, dass Werkstattbeschäftigte im privaten Bereich durchaus über digitale Kompetenzen verfügen.
Virtuelle Lerninhalte und Hybridlabore
Was diese Erkenntnisse für den praktischen Projektteil bedeuten, greift Clemens Ahrens, seinerseits ebenfalls Ruheständler, auf. Der ehemalige Geschäftsführer der Lebenshilfe Goslar bereichert das Team „aus der Praxis für die Praxis“ und ist im Mai 2024 dazugestoßen. „Entscheidend ist, dass isoliertes digitales Lernen nicht funktioniert. Werkstätten müssen digitale Prozesse in eine übergreifende digitale Infrastruktur integrieren.“ Ein mögliches exemplarischeres Pilotmodul, das eine Weiterentwicklung der didab-Lernplattform darstellt und sich aktuell noch in der Testphase befindet, hat das Ostfalia-Forschungsteam bereits entwickelt. Das Lernszenario stellt einen virtuellen Arbeitsplatz in einer Tischlerei nach, vermittelt Lerninhalte, Arbeitsabläufe und notwendige Soft-Skills interaktiv.
Das Forschungsteam präsentiert die Ergebnisse des DisAM-Projekts ab Oktober in einer Roadshow.
„Vier Fachkräfte und fünf Beschäftigte aus den Werkstätten haben die Module und Lernszenarien gemeinsam in partizipativen Hybridlaboren erarbeitet und dabei genau austariert, welche Bildungsbedarfe wichtig und interessant sind und wie sie verständlich gemacht werden können“, so Ahrens. Interessierte Beschäftigte aus kooperierenden Werkstätten in fünf verschiedenen Bundesländern haben auch andere Lernprogramme bereits getestet. Eine hohe Affinität, Lernbereitschaft und Kontinuität sei vorhanden gewesen. Besonders wertvoll: Das Feedback, wie die Lernmodule gestaltet sein müssen, damit der Zugang funktioniert, kommt direkt von den Menschen in den Werkstätten, die als Experten ihrer Lebenswelt agieren. Das selbstbestimmte Lernen mit digitalen Medien sei dabei ein großer Motivator gewesen. Ergänzende digitale Trialoge, die mit Vertretenden der Arbeitgeberseite, der Werkstätten und der Beschäftigten stattfinden, runden den Praxisteil ab. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler führen die Ergebnisse aktuell zusammen und erstellen daraus Empfehlungen.
Anja Klockenhoff rät Arbeitgebenden, mutig zu sein und sich schrittweise an ein inklusives Beschäftigungsverhältnis heranzutasten.
Wir sehen viel Potenzial darin, den Sozialraum der Beschäftigten mehr in den Blick zu nehmen.Anja Klockenhoff
Mutig sein, herantasten, ausprobieren
Bei allen Bemühungen seitens der Werkstätten erfordert der Übergang auf den ersten Arbeitsmarkt jedoch auch die Bereitschaft der Arbeitgebenden. Anja Klockenhoff, Master Sozialmanagement und Promovierende zu diesem Thema, erklärt, dass die Übergänge aktuell noch vermehrt durch zufällige Kontakte entstehen, wie zum Beispiel bei Freizeitbeschäftigungen. Darum „sehen wir noch ganz viel Potenzial darin, den Sozialraum der Beschäftigten mehr in den Blick zu nehmen.“ Zur Perspektive der Arbeitgebenden stellt Klockenhoff ein Zwischenfazit vor, das auf elf Arbeitgebenden-Interviews beruht, die DisAM in der Region geführt hat. Daraus leitet sich ab, dass Arbeitgebende eine Hospitation als den ersten wichtigen Schritt für das Zustandekommen eines Arbeitsverhältnisses erachten. Innerhalb der Beschäftigung hat sich eine flexible Zeiteinteilung und die langsame Steigerung von Arbeitsaufgaben bewährt. Ein wichtiger Faktor sind vor allem feste Bezugspersonen. Ausgelagerte Arbeitsplätze und das Budget für Arbeit haben sich als hilfreich erwiesen, da sie einen schrittweisen Übergang von der „Werkstatt-Familie“ in den ersten Arbeitsmarkt ermöglichen. Insgesamt berichten Arbeitgebende vor allem von den positiven Auswirkungen der sozialen Komponente auf das Betriebsklima. Vermehrt „untereinander aufeinander zu achten“ zähle oftmals mehr als die fachliche Komponente. Der abschließende Appell von Anja Klockenhoff richtet sich an Unternehmen und fühlt sich fast wie ein Déjà-vu an. Denn „mutig sein, sich schrittweise herantasten und es ausprobieren“ war auch die Botschaft von Michael Schumann, Abteilungsleiter bei der Lebenshilfe Braunschweig gGmbH, in unserer vorletzten Titelgeschichte.
Die didab-Plattform der gdw nord zeigt, wie die digitale Vermittlung von Lerninhalten für Beschäftigte in Werkstätten funktionieren kann.
Ferner sind auch digitale Lernangebote in Unternehmen noch nicht stark vertreten und es herrscht weiterhin ein Mangel an Informationen, aber die Kooperationsbereitschaft ist da. „Das wollen wir in den Blick nehmen“, wirft Ludger Kolhoff ein und lässt bereits durchblicken, dass ein Folgeprojekt geplant ist, welches die Netzwerke als entscheidenden Zugang der Werkstätten zum ersten Arbeitsmarkt gestalten soll. Einstweilen werden Kolhoff und sein Team die Ergebnisse des DisAM-Projektes ab Oktober auf einer Roadshow breit streuen und mögliche Lösungsansätze für Einrichtungen aufzeigen. Die Veröffentlichung des Strategiekonzeptes ist für die Abschlusstagung im Frühjahr 2026 geplant, ebenso wird der Pilot mit den entwickelten Lerninhalten auf der didab-Plattform publiziert. Werkstätten können so ein niedrigschwelliges Angebot wahrnehmen, um sich eigenständig weiterzuentwickeln. Denn „die ‚normale‘ Arbeitswelt hat sich in den letzten Jahren stark verändert. Zu einem ‚normalen‘ Leben gehört nun mal auch die Digitalisierung dazu“, fasst Kolhoff treffend den Umstand zusammen, dass Einrichtungen der Behindertenhilfe, welche „normale Arbeit“ simulieren, auf digitale Souveränität in unserem Informationszeitalter angewiesen sind.
Heiko Bruhn beleuchtet, dass Werkstattbeschäftigte im privaten Bereich durchaus über digitale Kompetenzen verfügen.
ar
7/2025