Wie die Bürokratie die Wirtschaft bremst

65 Milliarden Euro Bürokratiekosten belasten deutsche Unternehmen jährlich. Vor allem kleine und mittlere Unternehmen (KMU) leiden unter der zunehmenden Regelungsflut, die Zeit, Geld und Innovationskraft kostet. Vor diesem Hintergrund erhoffen sich die Industrie- und Handelskammern vom Neustart der Politik in Brüssel und nach der Bundestagswahl auch in Berlin eine spürbare Entlastung der Wirtschaft.
Immer komplexere Vorschriften, langwierige Genehmigungsverfahren und eine Flut von Dokumentationspflichten stellen deutsche Unternehmen vor große Herausforderungen. Besonders kleine und mittlere Betriebe leiden unter der regelrechten Regelungswut, da sie oft keine eigene Rechts- oder Steuer­abteilung haben. „Wenn Inhaber die Bürokratie zusätzlich bewältigen müssen, fehlen ihnen am Ende die Zeit für Innovationen und Kundengespräche“, sagt Marc Evers, Referatsleiter Mittelstand, Existenzgründung, Unternehmensnachfolge bei der DIHK.
Wenn Inhaber die Bürokratie zusätzlich bewältigen müssen, fehlen ihnen am Ende die Zeit für Innovationen und Kundengespräche.

Marc Evers


Nach Berechnungen des Nationalen Normenkontrollrats (NKR) verursacht die Bürokratie bei den Unternehmen jährlich Kosten in Höhe von rund 65 Milliarden Euro. Schlimmer noch: Wegen der damit verbundenen Blockaden büßt Deutschland jedes Jahr 146 Milliarden Euro an Wirtschaftsleistung ein, hat das ifo-Institut gerade für die IHK München und Oberbayern ermittelt. Zwar habe das im Oktober 2024 verabschiedete Vierte Bürokratieentlastungsgesetz (BEG IV) erste Fortschritte gebracht, so Evers, für eine Trendwende sei das aber noch zu wenig. „Das BEG IV soll die Firmen um eine Milliarde Euro entlasten, aber allein die neue EU-Richtlinie zur Nachhaltigkeitsberichterstattung verursacht weitere Kosten von 1,3 Milliarden Euro. Neue Gesetze werden derzeit schneller auf den Weg gebracht als alte abgeschafft.“


Langwierige Verfahren und Doppelungen

Durch unnötige Doppelungen wird die Bürokratiebelastung ­zusätzlich verschärft. Viele Betriebe müssen ähnliche Daten mehrfach an verschiedene Behörden übermitteln, etwa an Finanz­ämter, Sozialversicherungsträger und statistische Ämter. Eine ­zentrale Erfassung wäre technisch längst möglich, fehlt jedoch. ­Hinzu kommen sogenannte „Trickle-Down-Effekte“: Gesetze wie die EU-Richtlinie zur Nachhaltigkeitsberichterstattung oder das EU-­Lieferkettengesetz richten sich zwar direkt nur an große ­Betriebe, zwingen aber auch KMU als Dienstleister oder Lieferanten zu ­Berichtspflichten. „Große Unternehmen können ihre Verpflichtungen oft nur erfüllen, wenn sie Daten von Zulieferern einholen – und das sind häufig KMU“, erläutert Evers.
Plakative Beispiele für die Auswirkungen von Bürokratie liefert die DIHK-Kampagne „Ich kann so nicht arbeiten!“. Deutschlands Wirtschaft wird ausgebremst durch langwierige Genehmigungsverfahren, die Infrastrukturprojekte wie den Bau von Straßen und Brücken verzögern. Ein Motiv der Kampagne zeigt eine Schnecke, die als Sinnbild für den langsamen Fortschritt auf dem Weg zu dringend benötigten Verkehrslösungen steht. „In fast allen Umfragen steht der Bürokratieabbau ganz oben auf der an die Politik gerichtete Agenda“, betont Evers. Doch trotz zahlreicher Reformversuche sei die Bürokratie in den letzten Jahrzehnten weitergewachsen. „Jede Regelung mag für sich genommen sinnvoll sein, doch in ihrer Gesamtheit sind sie für viele nicht mehr zu bewältigen. Längst ist daraus ein Dickicht geworden, das niemand mehr durchschaut.“

Systematische Ansätze für spürbare Entlastung

Um die Bürokratielast sukzessive zu reduzieren, fordert die DIHK konkrete Maßnahmen. Ein zentraler Punkt ist der Abbau doppelter Berichtspflichten. Identische Daten sollen künftig nur einmal erfasst werden. Ebenso wichtig ist die Digitalisierung von Verwaltungsprozessen: Papierformulare und händische Anträge rauben Zeit, gelten als nicht mehr zeitgemäß und sollten möglichst umfassend durch digitale, nutzerfreundliche Verfahren ersetzt werden. Darüber hinaus plädiert die DIHK für eine konsequentere Umsetzung der sogenannten „One in, one out“-Regel, die besagt, dass für jede neue gesetzliche Maßnahme eine bestehende abgeschafft werden muss. „Das ist in der Praxis längst nicht immer der Fall, weil es zu viele Ausnahmen von der Regel gibt. Zudem wird der Bürokratieberg dadurch auch nicht kleiner, sondern bleibt bestenfalls gleich groß. Perspektivisch brauchen wir eine „One in, two out“-Regel, sagt Evers.
Eine weitere Entlastung versprechen Praxis-Checks, bei denen bestehende und geplante Regelungen systematisch auf ihre Praktikabilität und ihre Auswirkungen vor allem auf kleine und mittlere Unternehmen geprüft werden. Als positives Beispiel nennt Evers den Praxis-Check des Bundeswirtschaftsministeriums für den Bau von Photovoltaikanlagen. Dabei konnten über 50 bürokratische Hürden identifiziert werden, die den Ausbau erschweren. Auf Basis dieser Erkenntnisse wurden Maßnahmen entwickelt, die Genehmigungsverfahren vereinfachen und Prozesse beschleunigen sollen.
Auch den Digital-Check hält Evers für vielversprechend. Seit 2023 sollen neue Gesetzesvorhaben und Verordnungen der Bundesebene einem Digital-Check unterzogen werden. Damit soll sichergestellt werden, dass neue Gesetze bereits bei ihrer Planung digitaltauglich sind. „Wir brauchen mehr derartige systematische Ansätze – sowohl auf nationaler als auch auf EU-Ebene.“

Bürokratieabbau als Schlüssel zu Wachstum und Innovation

Gelingt der Bürokratieabbau nicht, kann das weitreichende Folgen haben. „Mehr Bürokratie bedeutet weniger Unternehmertum, weniger Wachstum, weniger Innovationsgeist“, warnt Evers. „Damit verliert Deutschland langfristig an Attraktivität als Wirtschaftsstandort für Firmen und Investoren, auch dringend benötigte ausländische Fachkräfte entscheiden sich dann häufiger für andere Länder.“
Alarmierend seien auch die Auswirkungen auf die Unternehmensnachfolge: Laut dem DIHK-Report zur Unternehmensnachfolge 2024 scheitern viele Übergaben unter anderem daran, dass der hohe bürokratische Aufwand – neben steigenden Kosten und steigender Unsicherheit – potenzielle Nachfolger abschreckt. „Wenn es uns nicht gelingt, Bürokratie spürbar abzubauen, verlieren wir nicht nur Betriebe, sondern auch unsere Innovationskraft. Dabei brauchen wir dringend Wachstum und kluge Ideen, um zentrale Herausforderungen wie den Klimaschutz und den demografischen Wandel zu bewältigen.“
Quelle:
Mascha Dinter, freie Journalistin
1/2025