Infrastrukturprojekte der Region im Rückblick - Ausbau des Stichkanals Salzgitter

Dass die Planung großflächiger Infrastrukturprojekte in Deutschland meistens unter keinem guten Stern steht, hat sich in der jüngeren Vergangenheit leider zu häufig bewahrheitet. Umso größer ist dann die Freude, wenn die Bauvorhaben dann entweder fertiggestellt oder zumindest begonnen wurden. Das gilt vor allem für die Region Braunschweig, die mit dem Ausbau des Stichkanals Salzgitter und der Weddeler Schleife einen äußerst langen Atem beweisen musste. Die Geduld hat sich am Ende aber ausgezahlt: Mit der Verbreiterung des Stichkanals und den damit einhergehenden Planungen und Neubauten der Schleusen Wedtlenstedt und Üfingen konnte im Mai 2024 begonnen werden. Sogar Bundesverkehrsminister Volker Wissing ließ sich die Gelegenheit nicht entgehen, um beim symbolischen Spatenstich eine neue Ära der hiesigen Wasserstraße einzuläuten. Dennoch: Die Vorlaufzeit des Projekts muss zwangsläufig als immens erachtet werden. Aus welchen Gründen hat das Setzen der entsprechenden Weichenstellungen derart lange gedauert? Ein Rückblick.
Der Stichkanal, 1940 fertiggestellt, wurde ursprünglich zur Anbindung des Hafens der Reichswerke Hermann Göring in Salzgitter errichtet. Nach dem Zweiten Weltkrieg spielte er eine wichtige Rolle beim Transport von Reparationsgütern und entwickelte sich später zu einer zentralen Infrastruktur für den Güterverkehr. Heute verbindet er den Hafen Salzgitter mit dem Mittellandkanal und trägt erheblich zum Transport von rund drei Millionen Tonnen Gütern jährlich bei. Der Hafen Salzgitter-Beddingen gilt als größter Binnenhafen Niedersachsens und ist ein bedeutender Umschlagplatz für Schiffe, die den Hamburger Hafen als Ziel oder Ausgangspunkt haben.
Ohne die gewerblichen Anlieger des Hafens und die IHK Braunschweig wäre es nie zum Ausbau gekommen.

Kurt Fromme

Die ursprünglichen Schleusen, die in den Jahren 1938 bis 1940 erbaut wurden, haben nach über 80 Jahren ihre technische Lebensdauer erreicht. Um die Wasserstraße an moderne Anforderungen anzupassen, werden die Westkammern der Schleusen durch Neubauten mit größeren Dimensionen ersetzt. Ziel ist es, Großmotorgüterschiffe (GMS) und Schubverbände mit einer Abladetiefe von bis zu 2,80 Metern zuzulassen. Dies erfordert eine Erhöhung der Wassertiefe im Kanal auf vier Meter und eine Modernisierung der Schleusentechnik. Die neue Schleuse Wedtlenstedt, deren Bau zuerst begonnen hat, wird westlich der bestehenden Anlage errichtet. Mit einer Nutzlänge von 190 Metern und einer Breite von 12,5 Metern wird sie künftig die Passage größerer Schiffe ermöglichen. Ein hydraulisches System und moderne Steuerungstechnologien sollen den Betrieb effizienter gestalten. Ähnliche Entwürfe liegen für die Schleuse Üfingen vor, die sich derzeit in der Planungsphase befindet.

Ein beispielloses Hin und Her

„Der Weg dorthin war äußerst steinig“, erinnert sich Kurt ­Fromme, Mitglied der Vollversammlung sowie des Verkehrsausschusses der IHK und Geschäftsführer der Wilhelm Fromme Landhandel GmbH & Co. KG. „Im Rahmen der IHK beschäftigen wir uns mit dem Thema bereits seit knapp 15 Jahren und es hat zahlreiche Gespräche, Parlamentarische Abende und Informationsveranstaltungen gebraucht, bis der Stein ins Rollen gebracht werden konnte.“ 2011 waren durch eine drohende Abstufung des Stichkanals im Rahmen einer Neubewertung der deutschen Wasserstraßen heftige Diskussion aufgekommen. Bereits seinerzeit hatte sich die IHK vehement gegen eine Herabstufung ebendieser ausgesprochen. Mit der Fertigstellung des Mittellandkanals schien, so die damalige Auffassung, das Regionalprojekt ins Hintertreffen geraten zu sein. 2012 kam dann die Erlösung: Enak ­Ferlemann (CDU), damals Staatssekretär im Bundesverkehrsministerium, gab den Unternehmen in der Region die Zusage, den Kanal auszubauen. Seitdem sind die veranschlagten Baukosten stetig gestiegen. Ursprünglich war von 144 Millionen Euro die Rede, 2014 waren es 221 Millionen Euro. Aktuell plant man – bis auf Weiteres – mit 320 Millionen Euro. 2018 sollte eigentlich alles fertig sein, bis 2015 passierte jedoch nichts. Vor allem die Stadt Salzgitter und die Salzgitter AG fühlten sich an der Nase herumgeführt. Enak Ferlemann beteuerte dabei unentwegt die Dringlichkeit des Projekts.

Aufnahme in den Bundesverkehrswegeplan 2030

Schließlich wurde der Ausbau des Stichkanals 2016, auch auf Druck des Wasserstraßen- und Schifffahrtsamts, der IHK und ihrer Mitgliedsunternehmen, in den Bundesverkehrswegeplan 2030 aufgenommen und als „vordringlicher Bedarf“ eingestuft. Dennoch vergingen weitere acht Jahre, bis die Bagger endlich anrollen durften. „Es scheint eine Mischung aus mangelndem politischem Willen, fehlender politischer Lobby in der Region und anderen strukturbedingten Versäumnissen zu sein, die das Projekt viel zu lange aufgehalten haben“, erklärt Kurt Fromme. Erfreulicherweise erwiesen sich in den Jahren 2017 und 2018 Gespräche, unter anderem mit dem damaligen Bundestagsabgeordneten für den Wahlkreis Salzgitter Sigmar Gabriel, und anderen politischen Instanzen als entscheidend. „Ohne die gewerblichen Anlieger des Hafens und die IHK Braunschweig wäre es nie zum Ausbau gekommen. Der Verkehrsausschuss und die Vollversammlung können sich retroperspektiv auf die Schulter klopfen“, erzählt Kurt Fromme. Man müsse bei derart weitreichenden Themen durchgehenden Druck aufbauen und Überzeugungsarbeit leisten, bis auch die Letzten die Notwendigkeit verstehen, heißt es weiter. Selbst Ministerpräsident Stephan Weil musste beim hochkarätig besetzten Spatenstich im Mai zugeben, dass die Zeit bis zum Projektbeginn „mehr als holprig“ war und schneller hätte vorangebracht werden können.

2032 soll alles fertig sein

Die Arbeit für die regionalen Stake­holder ist damit aber noch nicht vorbei: Das Ende der Bauarbeiten wurde für 2032 prognostiziert, bis dahin müsse man die in noch nie dagewesenem Maße getätigten Zusagen penibel überwachen. „Der Beginn der Ausbauarbeiten ist ein hervorragendes Zeichen. Es bleibt nur zu hoffen, dass der Zeitplan auch eingehalten wird und wir kein zweites Stuttgart 21 erleben“, so Kurt Fromme abschließend. Auch für die Salzgitter AG ist der Beginn der Projektarbeiten eine große Erlösung, um die bereits anlaufende Umstellung auf eine CO2-neutrale Stahlproduktion bewerkstelligen zu können. Die Wettbewerbsfähigkeit aller Anrainerunternehmen musste bis zur verbindlichen Zusage mehr oder minder infrage gestellt werden, sodass der Baubeginn fast schon als „Wunder von Salzgitter“ bezeichnet werden kann.
jk
9/2024