Streifzug durch Bochum-Wiemelhausen

Dorf, Wohlfühlort, Zuhause: Wiemelhausen ist vieles – und für viele alles. Trotz perfekter Anbindung an Innenstadt und Ruhr-Universität muss man den Bochumer Stadtteil eigentlich gar nicht verlassen. Denn das Glück liegt hier sehr nah.

Glücksburg Café & Gedöns

Wer Tausend Papierkraniche faltet, bekommt einen Wunsch erfüllt, heißt es in Japan. Seit 2015 hat Melanie Haß bestimmt Hunderte der Origamivögel angefertigt. Als Glücksbringer zur Eröffnung, die sich schnell zum Verkaufsschlager mauserten. Vor elf Jahren zog Melanie Haß mit ihrer Familie nach Wiemelhausen und wunderte sich, dass es „an diesem schönen Ort kein nettes Café gibt“. Damals arbeitete die selbstständige Innenarchitektin wegen ihrer Kinder oft von zuhause, doch der Kontakt zu anderen Menschen fehlte ihr. Deshalb machte die zweifache Mutter Nägel mit Köpfen, als das Ladenlokal an der Brenscheder Straße 53 frei wurde: die Geburtsstunde derGlücksburg. Seit acht Jahren können die Besucher:innen nun im gemütlichen Ambiente ihren Kaffee genießen – mit perfektem Blick auf das Treiben im Kirchviertel von Wiemelhausen. Neben Kaffeespezialitäten serviert Melanie Haß auch selbstgebackenen Kuchen und belegte Brote. Das Konzept der Glücksburg soll sowohl Ältere als auch Studierende aus dem nahe gelegenen Wohnheim ansprechen.
Auf 70 Quadratmetern bietet die Glücksburg aber nicht nur Kaffee und Kuchen, sondern auch jede Menge „Gedöns“. Dipdye-Kerzen, winkende Glückskatzen und bunte Postkarten – im Sortiment gibt es eine feine Auswahl von kleinen Designer:innen und Produzent:innen. Neuerdings steht auch eine Kleiderstange mit ausgewählter Second-Mode im Laden. Und eine Box voller Papierkraniche. Haben die Melanie Haß und ihrem Geschäft Glück gebracht? „Ein Quäntchen Glück ist sicher dabei, aber man muss sich auch bemühen.“
So überstand das Café die Corona-Zeit durch den Verkauf am Fenster und die Auslieferung von „Gedöns“ per Fahrrad: „Hätten wir zugemacht, wären wir weg gewesen, da es uns noch nicht so lange gab.“ Während des Lockdowns steuerten viele Anwohner:innen die Glücksburg beim Spaziergang an. Heute ist das Café für viele zu einem zweiten Wohnzimmer geworden. Auch für Melanie Haß. Ihr Engagement für den Stadtteil geht auch vor der Ladentür weiter. Seit kurzem ist sie Patin des Bücherschranks vor der Glücksburg. Das Fundament finanzierte sie mit Spenden. „Wenn man von einem Projekt erzählt, engagieren sich auch viele Menschen in Wiemelhausen. Fängt einer an, stehen alle anderen parat“, begeistert sich Melanie Haß.
Und wie sehen die Pläne für 2023 aus? Die Glücksburg soll größer werden! Mit einem Durchbruch zu den anliegenden Geschäftsräumen schafft Melanie Haß Platz für Kunstworkshops und Lesungen. Vielleicht haben die Papierkraniche doch ein bisschen Glück gebracht.

Feines.Studios


Schönes kann man riechen. Zumindest in den Feines.Studios. Beim ersten Schritt über die Türschwelle nimmt man einen Duft wahr, der an ein gemütliches Zuhause erinnert. „Ich bemerke das schon gar nicht mehr“, sagt Caroline Ben Khaled lachend, für die ihr Geschäft bereits ein zweites Zuhause ist. Jeden Tag steht die Inhaberin in ihrem Laden, berät, verkauft oder unterhält sich einfach ein bisschen mit ihren Kund:innen. Skandinavische Einrichtungsklassiker und zeitlose Mode aus dem hohen Norden locken auch Menschen aus den Nachbarstädten an – wie die Wittener Stammkundin, die gerade durch das neue Sortiment stöbert.
Fast alle Kund:innen begrüßt Caroline Ben Khaled mit Namen, duzt viele von ihnen. Vor 5 ½ Jahren eröffnete sie den Einrichtungsladen an der Brenscheder Straße. Ihre Verbindung zu Wiemelhausen ist aber eine lebenslange. Hier liegt seit ihrer Kindheit ihr Lebensmittelpunkt, kein anderer Stadtteil wäre für ihr Feines.Studios infrage gekommen. Wiemelhausen ist eine Herzensangelegenheit, der Laden das Herzstück. Da konnte selbst Corona dem jungen Geschäft nichts anhaben. „Wir haben an der Tür verkauft und Waren ausgeliefert“, so die Inhaberin. Insgesamt habe die Möbelbranche vom Lockdown profitiert, da viele sich neu eingerichtet hätten statt in den Urlaub zu fahren. Anders ist es mit dem Ukraine- Konflikt: „Der Krieg betrifft nicht nur wirtschaftlich, sondern auch emotional.“
Neben der persönlichen Beratung ist die außergewöhnliche Produktpalette das Alleinstellungsmerkmal von Feines.Studios. Das Credo der Inhaberin: Besondere Dinge verkaufen, die es nicht überall gibt – und nichts anbieten, hinter dem sie nicht steht. Deshalb sehen selbst Steckerleisten wie kleine Kunstwerke aus. Wichtigstes Marketing-Tool für Caroline Ben Khaled ist unter anderem Instagram. Dort folgen dem Profil mehr als 10.000 Accounts, die sich von den Postings zu Einrichtung und Mode zu einem Abstecher nach Wiemelhausen inspirieren lassen.

Leseinsel


Harry Potter, Greg und neuerdings auch White Fox: Alte und neue Buchheld:innen sind in Jürgen Rierings Leseinsel zuhause. Ein Schwerpunkt der Buchhandlung liegt auf Kinderund Jugendliteratur, aber auch Erwachsene werden in dem kleinen Leseparadies fündig. Aber wie kam die Leseinsel eigentlich nach Wiemelhausen? Ganz einfach: durch eine Straßenumfrage. Der gelernte Buchhändler erkundigte sich in verschiedenen Bochumer Stadtteilen ganz pragmatisch bei den Bewohner:innen, ob sie Bedarf an Literatur haben: „In Wiemelhausen hatte ich die beste Resonanz.“ Und so schlug die Leseinsel im Oktober 2010 im Wiemelhausener Kirchviertel das erste Kapitel auf.
Dass Wiemelhausen besonders ist, hat Jürgen Riering schnell gemerkt: „Die Menschen legen einen gewissen Wert auf ihren Stadtteil. Sie kaufen bewusst ein und sind auch irgendwie mehr dabei.“ In anderen Bezirken wohne man nur, erledige dort aber nicht unbedingt die Einkäufe. Viele Kund:innen wollen vor Ort durch die Seiten blättern oder sich persönlich beraten lassen, auch wenn der Online-Shop mittlerweile gut angenommen wird. Ebenso werden Lesungen im Laden gern besucht. Neben bekannteren Namen wie der Kinderbuchautorin Anna Herzog oder Fußballexperte Ben Redelings, tragen auch Autor:innen im Selbstverlag aus ihren Werken vor. Wenn
die Bücher zum Ladenkonzept passen. „Eine der nächsten Lesungen ist mit einem Großvater, der seinen Enkelkindern eine Geschichte geschrieben hat“, so Jürgen Riering.
In 13 Geschäftsjahren hat der Buchhändler etliche Literaturtrends erlebt und einige Buchfans aufwachsen sehen: „Eine Kundin, die mittlerweile studiert, sagte, dass die Leseinsel ein Teil ihrer Kindheit sei.“ Und lesen die Kinder, die mit Smartphones und Tablets aufwachsen, weniger als vorherige Generationen? Nicht wirklich. Oft kommen Jugendliche vorbei und fragen nach Büchern, die sie auf der Social-Media-Plattform TikTok gesehen haben. Und auch die stehen selbstverständlich in den Regalen der Leseinsel.

Leokadia Kurowski Lottogeschäft


Kling kling pling. Das Windspiel an Leokadia Kurowskis Tür steht nie still. Von den Grundschüler:innen, die durch die bunten Magazine stöbern, bis zum Rentner, der seinen Tippschein ausfüllt, kommen alle zu Kati. Seit 14 Jahren betreibt die 61-Jährige den Lottoladen im Kirchviertel – dabei hatte sie eigentlich andere Pläne. 1986 kam die gebürtige Polin nach Bochum, lernte Bürokauffrau und fing bei Nokia an: „Ich dachte, ich würde dort für immer arbeiten.“ Doch dann kam 2008 die Schließung des Werks und die Frage nach der Zukunft. Die Unterstützung der Auffanggesellschaft nutze Leokadia Kurowski, um in Wiemelhausen neu zu starten. Und der Standort entpuppte sich als echter Glücksgriff. „Erst war ich angespannt, wie mein polnischer Akzent bei den Leuten ankommt“, so Leokadia Kurowski, „dat war aber kein Problem.“ Heute kennt sie jeden - und seine oder ihre Vorlieben. Oft greift sie schon hinter sich ins Regal, bevor ein Kunde die Theke erreicht hat. Und samstags öffnet sie den Laden ein paar Minuten früher, damit die Wiemelhausener:innen nach dem Besuch beim Bäcker direkt auch ihre Tageszeitung kaufen können.
Es ist wie auf einem Dorf hier. Man erzählt sich die guten und die schlechten Dinge.


Ihre Verbindung zum Stadtteil geht aber weit über das Geschäftliche hinaus: „Es ist wie auf einem Dorf hier. Man erzählt sich die guten und die schlechten Dinge. Freude und Trauriges werden hier geteilt.“ Obwohl sie selbst in Laer wohnt, hat Leokadia Kurowski den Zusammenhalt des Stadtteils selbst erlebt: In den letzten Jahren erkrankte sie zwei Mal an Krebs, zwischen den Erkrankungen verstarb ihr Mann. Trotz Behandlung stand die Inhaberin jeden Tag hinter der Kasse, denn der Laden gibt ihr Kraft. „Die Kunden haben mir Obst und selbst gestrickte Schals und Mützen gebracht. ‚Kati, du musst das schaffen!‘, haben sie immer wieder gesagt.“ So habe sie die schlimmste Zeit ihres Lebens überstanden. Auch heute noch spürt man ihre Rührung, wenn sie von dieser Zeit erzählt.
Und was bringt die Zukunft? 2028 könnte Leokadia Kurowski in Rente gehen. Könnte, denn wenn es ihre Gesundheit zulässt, plant sie noch ein bisschen weiterzuarbeiten. Schon jetzt kommen ihr die Wochenenden viel zu lang vor. Ihr Vorbild ist die legendäre Büdchenbetreiberin Elli Altegoer. Und die stand noch bis Mitte 70 jeden Tag im Laden.

Weinhandlung Der Franzose

Ein wenig abseits des Kirchviertels liegt der Franzose. Mit mehr als 300 Weinsorten im Portfolio ist hier Inge Wisbar-Thiel seit fast 30 Jahren die Inhaberin. Bereits als Studentin jobbte sie in einer Weinhandlung, schlug aber zunächst eine eher bodenständige Karriere als Gewerkschaftssekretärin ein. 1995 erbte sie dann den Franzosen von ihrem damaligen Lebensgefährten und stieg Vollzeit in den Weinhandel ein.
„Es ist auch gut, wenn in Bochum nicht nur Bier getrunken wird“, meint Inge Wisbar-Thiel lachend. Dafür dassder Rebensaft auch im Ruhrgebiet gut ankommt, sorgt
die engagierte Inhaberin: Wein-Seminare im Laden oder Online-Events mit Winzer:innen mit digitaler Führung durch deren Weinkeller sind sehr gefragt. Auch junge Erwachsene kommen immer mehr auf den Geschmack von Grauburgunder, Bordeaux und Co. Daher bietet der Franzose für Studierende und Azubis vergünstigte Einstiegsseminare an.
Als Nischenfachhandel sei es besonders wichtig, alle Marketingmöglichkeiten auszuschöpfen, findet Inge Wisbar-Thiel. Denn etwa 50 Prozent des Weinumsatzes in Deutschland werden in einem großen Discounter gemacht. Gegen die Konkurrenz aus dem Supermarktregal setzt der Franzose auf Weinseminare, kulinarische Events, Newsletter und nicht zuletzt die persönliche Beratung vor Ort. „Wir probieren viele Ideen aus“, so die Inhaberin.
Und der Einsatz zahlt sich aus: Vor zwölf Jahren erweiterte ein Durchbruch die Ladenfläche und bietet seitdem Platz für Veranstaltungen, aber auch kleine, private Feiern im Franzosen. Waren die Energiekrise und die Inflation in den vergangenen Monaten für die Weinhandlung spürbar? Zwarwurde einer der zwei großen Kühlschränke vorübergehend stillgelegt, eine Zurückhaltung im Kaufverhalten konnte Inge Wisbar-Thiel bisher aber nicht erkennen: „Bisher verzichten die Kunden nicht auf Wein oder greifen nicht zu günstigeren Sorten.“ Und wie stellt sich die Weinexpertin die nächsten drei Jahrzehnte vor? Einfach aufhören könne sie nicht, die Nachfolge sei aber schon in Diskussion. „Ich kann mir aber gut vor stellen, in 30 Jahren nur noch Wein zu trinken anstatt zu verkaufen.“