Gibt's doch gar nicht

Wo Bochum-Ehrenfeld anfängt und aufhört, darüber scheiden sich die Geister. Vielleicht auch, weil der Stadtteil offiziell gar nicht existiert. Dafür gibt es dort aber doch jede Menge zu entdecken.
Von Anna Kalweit (Text) und Sascha Menge (Fotos)

Kochmomente

Die Originalfliesen an Wänden und Boden erzählen ­Geschichten von früher: Wo einst Fleischwürste und Kalbshaxen über die Theke wanderten, wird heute geschnibbelt, gebrutzelt und gelacht. Die Kochschule Kochmomente ist kein durchdesigntes Hochglanzstudio, sondern ein Ort mit Ecken, Kanten und Persönlichkeit. „Wir sind hier im Ruhrgebiet und wollen das auch leben“, sagt Christian Müller. ­Gemeinsam mit Jürgen Engelhardt führt er seit 2016 die Kochschule in der ehemaligen Metzgerei Campmann, die sie mit viel Augenmaß in einen kulinarischen Begegnungsort verwandelt haben.
Beide sind ausgebildete Köche, beide wollten zur gleichen Zeit eine Kochschule eröffnen und liefen sich dann zufällig vor einem Ehrenfelder Eisladen über den Weg. Der Rest ist, wie man so schön sagt, Geschichte. Heute steht Kochmomente für Kurse mit Leidenschaft: vegan, vegetarisch, internationale Länderküchen von Südtirol bis Japan, dazu Angebote für Kinder, Jugendliche oder Unternehmen. „­Kommen tunse alle – von Jung bis Alt“, so Müller. An der Kochinsel bringen die Küchenprofis Fremde zusammen, am Ende des Abends werden oft am Esstisch Kontaktdaten ausgetauscht.
Die beiden Unternehmer verstehen ihre Kochschule als Spielwiese – auch für sich selbst. Einmal im Jahr gehen sie auf kulinarische Bildungsreise: nach Singapur, Sizilien oder in die USA. „Wir futtern uns da durch“, lacht Engelhardt. Aus diesen Reisen entstehen neue Kursthemen, Rezepte – und Inspiration. Wer will, kann sogar mitreisen: Tagesausflüge in Weinregionen oder zu Europas größtem Kräutergarten ­gehören inzwischen fest zum Programm.
Kommen tunse alle – von Jung bis Alt.
Der Erfolg gibt ihnen recht. Was als Idee für Bochum und Umgebung begann, lockt heute Kochbegeisterte aus ganz Deutschland an. Viele verbinden den Kurs mit einem ­Wochenende im Ruhrgebiet – das Ehrenfeld liegt zentral, ist gut mit dem öffentlichen Nahverkehr erreichbar und überzeugt mit einem besonderen Spirit. Die Köche schätzen ­besonders das Gemeinschaftsgefühl im Viertel. Viele Betriebe kennen sich untereinander, die Stimmung ist persönlich. Kochmomente ist dabei mehr als eine Kochschule – es ist ein Treffpunkt, ein Ort für Teamevents, ein Raum für inklusive Begegnungen. Die Küchenmodule sind barrierefrei, höhenverstellbar und so auch für Rollstuhlfahrer:innen nutzbar.
Neben klassischen Kursen bieten Müller und Engelhardt auch Teambuilding-Workshops in Zusammenarbeit mit externen Coaches an. Dabei geht es nicht nur um gutes Essen, sondern um Kommunikation, Kooperation und Konfliktlösung – mit Messern, Töpfen und Zutaten. „Die Unternehmen sagen uns oft, dass diese Events noch lange nachwirken.“
Was ihre Kochschule auszeichnet? Für Müller ist es die ­Liebe zum Produkt – und zur Qualität. Dreimal pro Woche kaufen sie frisch auf dem Markt ein, lassen sich nicht beliefern. Das Produkt steht im Mittelpunkt, und die Gäste bemerken es, wenn man daran spart, finden die Profiköche. Wer bei ­ihnen kocht, muss keine Vorkenntnisse mitbringen – nur gute Laune. Engelhardt: „Jeder kann kochen. Und es gibt nichts Schöneres, als Menschen kulinarisch glücklich zu machen.“

Die Kulturtasche

Wer Die Kulturtasche betritt, den empfängt ein angenehmer Duft von Gesichtscremes, Seifen und Aromakerzen. Es ist ein kleines Willkommen, das in der Luft liegt. An der Alten ­Hattinger Straße hat Susanne Töller 2016 einen Concept Store eröffnet, der sich zwischen Drogerie, Beauty-Boutique und stylischem Wohnzimmer verorten lässt - und doch ganz eigen ist.
„Ich wollte mit 50 einfach etwas Schönes machen“, erzählt Töller, die viele Jahre in einer Apotheke und als Produkttrainerin für Kosmetik- und Pharmaunternehmen gearbeitet hat. Dass sie heute Pflegeprodukte individuell für ihre Kund:innen anmischt, ist dabei kein Zufall, sondern fast eine logische Weiterentwicklung ihrer Laufbahn: „Haut war schon immer ein Thema für mich – aber eben nicht nur medizinisch, sondern ganzheitlich.“
In der Kulturtasche geht es ums Erleben mit allen Sinnen. Angenehme Musik, ausgesuchte Pflegeprodukte, dänisches Lakritz – Multisensorik ist hier keine Verkaufsstrategie, sondern Philosophie. Ein echtes Alleinstellungsmerkmal ist nicht nur die Atmosphäre, sondern auch das Sortiment. ­Töller setzt auf sogenannte Charming Brands: kleine ­Marken, Nischenprodukte, ohne Silikone, Paraffine oder Parabene. Das Preis-Leistungs-Verhältnis soll stimmen – aber eben auch die Haltung. „Es muss für die Haut sinnig sein“, sagt die 59-Jährige mit Überzeugung.
Wer das Zwischen­menschliche sucht, ist hier gut ­aufgehoben.
Selbst Männer finden hier mehr als nur Bartöl – rund ein ­Drittel der Kundschaft ist männlich, was für einen Kosmetikladen eher ungewöhnlich ist. So wie die Bewohner:innen im Ehrenfeld, findet Töller: „Es sind einfach interessante Menschen, die den Weg in dieses Viertel finden. Das macht total viel Freude.“
Dass aus Kundengesprächen manchmal Freundschaften entstehen, verwundert kaum. Wer regelmäßig kommt, kennt nicht nur die Beratung, sondern auch die Geschichten ­hinter den Produkten. Den Apothekerschrank etwa – ein rund 100 Jahre altes Stück, online aufgestöbert – der heute Pröbchen beherbergt und die Vergangenheit der Inhaberin miterzählt. Oder das weiße Klavier, auf dem Töller selbst als Fünfjährige Spielen gelernt hat. „Wer das Zwischenmenschliche sucht, ist hier gut aufgehoben.“ Dank der persönlichen Beratung ist die Bindung zu ihren Kund:innen sehr eng.
Den zehnten Geburtstag im kommenden Jahr will sie groß feiern. Wie die nächsten zehn Jahre werden, lässt sie auf sich zukommen. Zum Herbst sucht sie erstmal ein neues Teammitglied, das sie und Mitarbeiterin Lisa unterstützt. Eine Ausbildung im Kosmetikbereich wäre wünschenswert, viel wichtiger sind Susanne Töller aber Neugier und Offenheit – so, wie die Menschen im Ehrenfeld eben auch sind.

Hohmann Orthopädie-Schuhtechnik

In einem unscheinbaren Ladenlokal an der Oskar-Hoffmann-Straße entstehen handgemachte Unikate. Seit 2009 fertigt Jörg Hohmann hier mit seinem Team orthopädische Maßschuhe, Einlagen und medizinische Hilfsmittel – für den Fuß bis zum Knie. Der Standort in Ehrenfeld ist dabei nicht zufällig gewählt: „Wir haben hier die perfekten Räumlichkeiten gefunden. Die Lage ist ideal, gut erreichbar für unsere Kundschaft aus Bochum und Umgebung – und wir fühlen uns im Viertel wohl“, sagt Hohmann. Zuvor war das Unternehmen sechs Jahre lang in Witten ansässig.
In den Werkräumen gibt es viel zu entdecken: Zwischen modernen Scan-Geräten, robusten Schleifmaschinen, Bögen aus Leder und Schaumstoffen, Spachtelmasse und Spindeln voller Nähgarn. Der Mix aus Hightech und altem Handwerk ist kein Widerspruch, sondern Alltag. „Man kann nicht alles digitalisieren“, erklärt Hohmann und zeigt auf eine Nähmaschine aus den 1950er-Jahren. „Mit alten Schätzchen kann ich jeden Stich exakt setzen – bei empfindlichen Materialien unverzichtbar.“
Das Besondere bei Hohmann: Hier wird nichts von der ­Stange gefertigt. Jeder Schuh, jede Einlage ist ein Unikat – angepasst an das Gangbild, die Fußform, die Beschwerden der jeweiligen Kund:innen. Dafür braucht es Erfahrung, ­Fingerspitzengefühl – und Zeit. „Zwischen der ersten Messung und dem fertigen Schuh liegen sechs bis acht ­Wochen. Jeder kleine Schritt ist Handarbeit“, so der Inhaber. ­Besonders bei komplexen Krankheitsbildern zählt jedes ­Detail, damit der Schuhe am Ende perfekt passt.
Man kann nicht alles digitalisieren.
Die Kundenwünsche sind vielfältig: Neben medizinischen Maßanfertigungen gehören auch Golfschuhe oder rahmengenähte Maßschuhe zum Repertoire. Zudem bietet Hohmann Schuhtechnik auch klassische Schuhreparaturen an – ein Service, der wieder mehr geschätzt wird. „Lange Zeit ­wurde nur gekauft und weggeschmissen. Jetzt kommen wieder mehr Leute, die ihre Lieblingsstücke erhalten wollen.“
Auch wenn der Beruf körperlich fordernd ist und sich nicht ins Homeoffice verlagern lässt, liebt Hohmann seine ­Arbeit. „Man muss mit Menschen umgehen können, mit vielen ­Materialien arbeiten – und sich ständig weiterbilden. Die Technik entwickelt sich rasant weiter.“ In einem silbernen Koffer, so unscheinbar wie wertvoll, steckt ein Scanner im Wert von mehreren Tausend Euro, der die Fußsohle millimetergenau erfasst. Bei bestimmten Diagnosen ist diese ­Technik ­mittlerweile Voraussetzung für eine Kostenerstattung durch die Kassen.
Was bei Hohmann Schuhtechnik zählt, ist die Verbindung aus persönlichem Kontakt, handwerklicher Präzision und technischer Innovation. Und: die Freude der Kund:innen, die dank ihrer neuen Schuhe wieder schmerzfrei gehen können.

Mirhoff & Fischer

Carola Mirhoff trennen nur 40 Stufen von ihrem Arbeitsplatz. Die Buchhändlerin wohnt nämlich über ihrem Laden, den sie seit 19 Jahren an der Pieperstraße betreibt. Und ebenso ­lange prägt sie das Viertel mit – leise, aber beständig.
Die Buchhandlung Mirhoff & Fischer mit den markanten ­grünen Schaufensterrahmen liegt im Schatten alter ­Platanen und der St.-Meinolphus-Mauritius-Kirche. Eine kleine Ruhe-Oase in der City. Vom Trubel an der nahegelegenen Hattinger Straße ist nichts zu hören. Wer den Verkaufsraum betritt, spürt schnell: Hier geht es nicht nur um Bücher – sondern um Beziehungen. Um Vertrauen, Neugier, Entdeckungsfreude.
Die persönliche Beratung ist Herzstück der Unternehmensphilosophie. Carola Mirhoff und ihr Team – drei Buchhändlerinnen in Voll- und Teilzeit – kennen einen Großteil ihrer Kundschaft mit Namen. „Richtig gut beraten kann man nur, wenn man die Bücher selbst gelesen hat“, ist Mirhoff überzeugt. Deshalb wird in dieser Buchhandlung nicht bloß bestellt, was sich gut verkauft, sondern was zum Publikum passt. Und das ist so vielfältig wie Ehrenfeld selbst: von der Leseanfängerin, die hier ihren allerersten Kauf ohne ­Eltern tätigt, bis zum Pensionär, der sich bei der literarischen Sonntagsmatinee im Laden inspirieren lässt.
Dass sich so viele Menschen hier gut aufgehoben fühlen, ist kein Zufall. Die Buchhandlung lebt von Begegnung – und auch ein bisschen von Inszenierung. Die Schaufensterauslage, ­liebevoll thematisch dekoriert, ist weit mehr als Schmuck: „Das ist eine Chance, auch neue Kunden ­anzusprechen“, sagt Mirhoff. Innen wird regelmäßig umgeräumt, neue Themeninseln entstehen, Klassiker treffen auf ­Nischenliteratur, Tiktok-­Bestseller auf Kinderbuchklassiker.
Doch bei aller Liebe zum gedruckten Wort: Auch bei ­Mirhoff & Fischer hat die Digitalisierung Einzug gehalten. Der Onlineshop, E-Books, Bestellungen per Mail oder Telefon – alles ist möglich. Trotzdem bleibt das Ladengeschäft das Zentrum. Denn neben der Beratung haben Carola Mirhoff und ihre Mitarbeiterinnen auch immer ein offenes Ohr für die kleinen und großen Sorgen ihrer Kund:innen.
Der Fokus soll immer das Buch bleiben
Einen festen Platz im Jahreskalender haben Veranstaltungen. Ob Matinees, Lesungen mit Autor:innen oder Buchvorstellungen durch das Team – einmal im Monat wird die Buchhandlung zur Bühne. Der Welttag des Buches ist ein besonderes Highlight: Schüler:innen der vierten und fünften Klassen füllen dann das Geschäft mit Leben. Kinder lauschen, entdecken, lesen – und bekommen ein Buch ­geschenkt. Oft der Grundstein für eine lebenslange Lese­leidenschaft.
Auch das Ehrenfeld selbst bringt sich ein: Neben Büchern stehen Honig aus der Nachbarschaft oder Gin von der Gaststätte „Zum Grünen Gaul“ im Regal. Es sind diese kleinen, ­feinen Ergänzungen zum Buch, die das Sortiment abrunden – ohne das Wesentliche aus dem Blick zu verlieren. „Der ­Fokus soll immer das Buch bleiben“, sagt Carola Mirhoff.
Der Wandel in der Branche – er ist spürbar. Junge ­Leute ­lesen wieder mehr, dank TikTok-Trends wie Romantasy. ­Verlage reagieren mit auffälligem Farbschnitt und aufwändiger Covergestaltung. „Früher war der Brockhaus der Schmuck im Regal, heute sind es die bunten Buchrücken“, meint die Inhaberin schmunzelnd. Und nicht nur deshalb glaubt Carola Mirhoff ganz fest an die Zukunft des Buches.
Historisches Ehrenfeld
Wussten Sie, dass Ehrenfeld nicht existiert? „Offiziell ist Ehrenfeld kein Stadtteil“, erklärt der Bochumer Historiker Dr. Dietmar Bleidick. Eine einheitliche Definition der örtlichen Grenzen gebe es nicht, für viele sei das Ehrenfeld mehr ein Gefühl.

Ungewöhnlich für das Ruhrgebiet ist, dass das Viertel am Reißbrett entstanden ist. Ende des 19. Jahrhunderts war das heute dichtbesiedelte Gebiet noch Wald und Wiesenlandschaft und lag hinter der damaligen Bochumer Stadtgrenze. Das änderte sich durch Clemens Erlemann. Der Bauunternehmer kaufte der Adelsfamilie von Schell das Gelände zwischen Bahnlinie und heutiger Oskar-Hoffmann-Straße ab. „Ein echte Filetlage für Wohnraum würde man heute sagen“, so Dr. Bleidick.

Erlemann verkaufte Anfang des 20. Jahrhunderts, nachdem er auch die restlichen Liegenschaften der von Schells erworben hatte, an Investoren. Dr. Bleidick: „Schon damals war das Ziel, einen gehobenen Stadtteil zusätzlich zum Stadtparkviertel zu entwerfen.“ Daher bewohnten damals vor allem mittlere und höhere Beamte mit ihren Familien das Ehrenfeld. Auch Großunternehmen und Verwaltungen wie Happel oder die Eisenbahndirektion siedelten sich dort an. Eine unglaubliche wirtschaftliche Schlagkraft steckte damals im Ehrenfeld“, sagt der Historiker.

Ein einschneidendes Ereignis für das Viertel war die Zerstörung durch den Bombenangriff am 4. November 1944. Die Wiederaufbauplanung nach dem Zweiten Weltkrieg änderte das Gesicht Ehrenfelds. Im Zuge dessen wurde auch der Hauptbahnhof vom Ehrenfeld an seinen heutigen Standort verlagert. Trotz des Wandels blieb die gute Infrastruktur Ehrenfelds erhalten. Und wie ist die Zukunftsprognose? Hier hält sich der Historiker zurück: „Es wird auf jeden Fall gut weitergehen. Wie? Dafür ist die IHK zuständig.“